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Klaus Holzkamp

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Kontrolle der nuklearen Rüstung vor dem Ende?

  
 

Forum Wissenschaft 1/2019; Foto: Andrey Suslov / shutterstock.com

1991 stand die "Doomsday Clock", die die Bedrohung von Mensch und Umwelt insbesondere durch Atomwaffen anzeigt, auf 17 vor 12. Heute zeigt sie 2 vor 12 an, obwohl in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge1 zustande kamen und umgesetzt wurden, darunter der 1987 von Reagan und Gorbatschow unterzeichnete US-sowjetische INF-Vertrag. Was ist passiert, dass die nukleare Abrüstung vor einem Scherbenhaufen steht? Und was bedeutet die Entwicklung für die kritische Öffentlichkeit und die Friedensbewegung?

Wir haben uns daran gewöhnt: Seit gut 30 Jahren werden immer weniger Atomwaffen gezählt. Die Zahl der Sprengköpfe sank von 64.449 im Jahr 1986 auf 9.435 in 2017, davon 90% in den Arsenalen von USA und Russland.2 Zumindest uns in (West-)Europa schien auch die Gefahr eines Atomkrieges mehr oder weniger gebannt, seitdem ab 1987 die USA und die Sowjetunion (bzw. in ihrer Nachfolge Russland) fast 2.700 in Europa stationierte Atomraketen zerstörten - Pershing-II und Cruise Missiles westlich des "Eisernen Vorhangs", SS20 östlich davon.

Die Trägersysteme wurden aufgrund des INF-Vertrages eliminiert, der beiden Vertragsparteien den Besitz landgestützter Raketen und Marschflugkörper mit 500-5.500 km Reichweite untersagt und dessen vierjähriger Umsetzungsprozess durch engmaschige Kontrollen und zahlreiche Inspektionen begleitet worden war. Fünf Minuten hätte die Vorwarnzeit im Einsatzfall betragen. Ob nukleare oder konventionelle Sprengköpfe an Bord sind, hätte sich vom Gegner während des Anflugs nicht feststellen lassen, weshalb der Vertrag keine Bewaffnungsart verbietet, sondern pauschal diesen Typ von Trägersystemen.

Nach jahrelangen gegenseitigen Vorwürfen der Vertragsverletzung und mehreren Ultimaten von US-Präsident Trump wurde der INF-Vertrag von den USA gemäß Artikel XV zum 2. August 2019 gekündigt und zugleich mit sofortiger Wirkung "außer Kraft" gesetzt (was der Autorin ein merkwürdiges Verständnis von Vertragslaufzeiten zu sein scheint). Russland folgte am selben Tag nach. Die Chancen, den INF-Vertrag bis August noch zu retten, sind verschwindend klein, und die Debatte um eine Stationierung neuer Mittelstreckensysteme in Europa ist bereits in vollem Gang.

So stellt sich die Frage, ob Diplomatie und Rüstungskontrolle vor ihrem vorläufigen Ende stehen, und das nicht nur im nuklearen Bereich.

Verträge zur nuklearen Rüstungskontrolle

Überlegungen zur nuklearen Rüstungskontrolle und Abrüstung reichen zurück bis in die Anfänge des Atomzeitalters. Dieses wurde spätestens am 6. und 9. August 1945 eingeläutet, als die USA Atombomben über Hiroshima und Nagasaki abwarfen. Kein halbes Jahr später verabschiedete die erste Generalversammlung der neu gegründeten Vereinten Nationen ihre erste Resolution, in der sie die Einsetzung einer Kommission beschloss, die sich mit den "Problemen infolge der Entdeckung der Atomenergie" befasst. Die Kommission sollte u.a. Vorschläge machen, wie die "Abschaffung von Atomwaffen aus nationalen Arsenalen" möglich sei.3

Die UN-Kommission versandete im Kalten Krieg, und bis zum ersten völkerrechtlich verbindlichen Text, der ihrem Auftrag annähernd entsprach, sollte es fast ein dreiviertel Jahrhundert dauern. In den Jahrzehnten dazwischen wurde allerdings eine Vielzahl von Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträgen geschlossen, u.a. die folgenden:

  • Kernstück der nuklearen Rüstungskontrolle war und ist der Nichtverbreitungsvertrag (NVV) von 1968, der 1970 in Kraft trat und nahezu universelle Gültigkeit besitzt. Er untersagt Atomwaffenstaaten die Weitergabe von Atomwaffen (Artikel I) und Nichtatomwaffenstaaten deren Erwerb (Artikel II). Allen Vertragsparteien wird das "unveräußerliche Recht" auf die friedliche Nutzung der Atomenergie zugestanden (Artikel IV). Die Atomwaffenstaaten verpflichten sich, "in redlicher Absicht" Verhandlungen über die vollständige Abschaffung der Atomwaffen zu führen (Artikel VI). Dem Vertrag traten alle Länder der Erde bei, mit Ausnahme von Israel, Indien und Pakistan, die heute Atomwaffen besitzen. Nordkorea trat 2003 aus und ist inzwischen ebenfalls Atomwaffenstaat. Der Vertrag ist unter enormem Druck. Immer wieder werden Mitglieder verbotener Aktivitäten verdächtigt, z.B. der Iran. An Verhandlungen über eine atomwaffenfreie Welt gemäß Artikel VI beteiligten sich die Atomwaffenstaaten entgegen ihrer Zusage in den vergangenen 50 Jahren nie.
  • Unmittelbar nach Abschluss des NVV begannen die SALT-Gespräche (Strategic Arms Limitation Talks) zwischen der Sowjetunion und den USA. 1972 wurde SALT-I vereinbart. Das Abkommen fror im Wesentlichen die Anzahl land- und seegestützter strategischer Startsysteme ein, beschränkte aber auch die qualitative Weiterentwicklung. Der Vertrag trat noch im selben Jahr in Kraft und war auf fünf Jahre befristet.
  • Ein weiteres Ergebnis der ersten SALT-Verhandlungen war der Raketenabwehr- oder ABM-Vertrag (Anti-Ballistic Missile Treaty), ebenfalls seit 1972 in Kraft. Er beschränkte den Aufbau nationaler Raketenabwehr auf einen Standort mit maximal 100 Abwehrsystemen. Der Vertrag spielte eine Schlüsselrolle bei der Eindämmung des Wettrüstens mit Atomwaffen sowie im Weltraum. 2001 kündigten die USA den Vertrag auf. Seither gibt es keinerlei Beschränkungen mehr in puncto Raketenabwehr und damit zugleich auch nicht bei der Weltraumrüstung.
  • SALT-II wurde 1979 unterzeichnet. Das Abkommen sah neue Obergrenzen für land- und seegestützte strategische Raketen vor, berücksichtigte nun aber auch Bomber und Marschflugkörper und erlaubte maximal zehn Sprengköpfe pro Rakete. Das Abkommen wurde in den USA aufgrund des sowjetischen Einmarsches in Afghanistan nicht ratifiziert, von den USA und der Sowjetunion aber mehr oder weniger eingehalten.
  • Nach dem "Nachrüstungsbeschluss" der NATO, der ungezügelten Aufrüstung der USA wie der Sowjetunion mit Systemen mittlerer Reichweite und den großen öffentlichen Protesten vereinbarten die USA und die Sowjetunion 1987 den Mittelstreckenvertrag (INF-Vertrag). Er führte binnen vier Jahren zur Verschrottung aller Mittelstreckenraketen und -Marschflugkörper der USA und der Sowjetunion bzw. Russlands und wurde nun von beiden Vertragsparteien gekündigt.
  • 1991, kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, gelang der Abschluss eines neuen Vertrages. START-I (Strategic Offensive Arms Treaty) reduzierte sowohl die Anzahl strategischer Trägersysteme (1.600) als auch die der dafür vorgesehenen Sprengköpfe (6.000) auf jeder Seite. Für die Umsetzung wurden sieben Jahre vorgesehen. Die Geltungsdauer betrug 15 Jahre.
  • Mit START-II wurde 1993 die Sprengkopfzahl nochmals gesenkt auf maximal 3.500 pro Seite; Mehrfachsprengköpfe wurden ganz untersagt. Die Geltungsdauer lehnte sich an START-I an. Der Vertrag wurde in den USA nach einigen Jahren ratifiziert, von der russischen Duma noch später und unter der Bedingung, dass der ABM-Vertrag erhalten bleibe. Mit Kündigung des ABM-Vertrages durch die USA 2001 war START-II hinfällig.
  • Äußerst knapp gehalten war der SORT-Vertrag (Strategic Offensive Reductions Treaty) von 2002, der die Zahl von Sprengköpfen auf maximal 2.200 reduzierte und zehn Jahre gültig war. Inspektionen oder ähnliche Verifikationsmaßnahmen wurden nicht vereinbart.
  • 2009 hielt US-Präsident Obama seine "Prager Rede" und kündigte eine neue Offensive zur nuklearen Abrüstung an. Das Ergebnis der Bemühungen war der Neue START-Vertrag mit neuen Obergrenzen für strategische Atomwaffen: maximal 700 Trägersysteme und 1.500 Sprengköpfe. Der Vertrag trat nach beidseitiger Ratifizierung 2011 in Kraft; in den USA verpflichtete das Ratifizierungsgesetz den Präsidenten im Gegenzug zur "Modernisierung" des Atomwaffenarsenals, zum Ausbau der Raketenabwehr sowie zur Einführung konventioneller Langstreckensysteme. Der Vertrag läuft 2021 aus, sofern er nicht rechtzeitig verlängert wird. Wenn dies passiert, wird die Aufrüstung der Atomwaffenstaaten durch keinerlei vertragliche Grenzen mehr beschränkt.
  • Ein Scherbenhaufen - aber auch: ein Verbotsvertrag

    Anders als mitten im Kalten Krieg und in der Phase der Hochrüstung existieren heute kaum noch Gesprächskanäle zwischen den USA und Russland. US-Präsident Trump legt keinen Wert auf vertragliche Regelungen oder auf Rüstungskontrolle jedweder Art, und russische Verhandlungsangebote - mit wenig Verve vorgetragen - werden rüde abgelehnt.

    Rüstungskontrolle fand ohnehin nur zwischen den zwei großen Playern statt, die übrigen sieben Atomwaffenstaaten blieben außen vor, und auch die fünf Staaten, in denen weiterhin US-Atomwaffen stationiert sind,4 verstecken sich hinter der "nuklearen Teilhabe" in der NATO. Das Nordatlantikbündnis seinerseits heizte den jüngsten Konflikt um den INF-Vertrag kräftig an. Ohne Beweise, ohne Inspektionen, ohne Gespräch zwischen Expertenteams kam NATO-Generalsekretär Stoltenberg zum Schluss: "Russland verletzt den Vertrag, und wir müssen für eine Welt ohne Vertrag planen."5 Er versicherte pflichtgemäß, die NATO habe keine Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa vor. Hinter den Kulissen wird aber schon Deutschland als Stationierungsort diskutiert, mit dem Argument, sonst würde sich Polen um die Stationierung bewerben oder gar ein Staat im Baltikum - von dort beträgt die Vorwarnzeit für Moskau kaum noch eine Minute, ein "Gegenschlag" müsste also ohne Zeit zum Nachdenken erfolgen. Gleichzeitig treiben die USA und die NATO den Ausbau ihrer Raketenabwehr in Rumänien und Polen voran - ein gefährlicher Rüstungswettlauf ist im Gang.

    Die Entwicklung mutet absurd an, denn eines ist klar: Die Sicherheit der Menschen wird nicht mit Atomwaffen garantiert, sondern mit nicht-militärischer Konfliktlösung und Kooperation.

    Im Juli 2017 erkannten 122 Staaten bei einer Konferenz der Vereinten Nationen die Zeichen der Zeit und einigten sich auf den völkerrechtlich verbindlichen "Vertrag über das Verbot von Kernwaffen". Allerdings war kein einziger Atomwaffenstaat dabei und von den NATO-Staaten auch nur die Niederlande - sie stimmten bei der Vertragsannahme als einzige mit "Nein". Der Vertrag wurde bereits von 70 Staaten unterzeichnet und von 21 ratifiziert. In Kraft tritt er drei Monate nach der Hinterlegung der 50. Ratifizierungsurkunde. Die internationale Nichtregierungskoalition ICAN wurde für ihren Beitrag zum Zustandekommen des Vertrags mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

    Friedensbewegung und kritische Öffentlichkeit müssen angesichts des zusammenbrechenden Rüstungskontrollregimes vernehmbar kundtun, dass sie einer neuen Rüstungsspirale nicht untätig zusehen werden. Die Bundesregierung muss unter Druck gesetzt werden, damit sie dem Verbotsvertrag beitritt, die USA unmissverständlich zum Abzug der Atomwaffen aus Büchel auffordert und die nukleare Teilhabe aufgibt.

    Die 16-jährige Greta Thunberg sagte kürzlich in Davos bezogen auf den Klimawandel: "Ich will, dass Sie handeln, wie Sie das in einer Krise tun würden. Ich will, dass Sie handeln, als ob Ihr Haus brennt. Denn das ist der Fall." Wir müssen vermeiden, dass dieser Satz auch für das Thema Atomwaffen Gültigkeit erlangt. Es gibt keine Ausrede mehr, wir müssen alle handeln.

    Anmerkungen

    1) Rüstungskontrolle sucht die Ausbreitung von Waffen in immer mehr Länder zu verhindern oder gibt eine Oberzahl für Waffensysteme vor, die nicht überschritten werden darf. Abrüstungsverträge führen zur Außerdienststellung oder sogar zur Vernichtung vorhandener Waffen.

    2) Bulletin of the Atomic Scientists: Doomsday Clock - Doomsday Dashboard; thebulletin.org.

    3) UN General Assembly 1946: Resolutions adopted on the reports of the First Committee - 1(1). Establishment of a Commission to Deal with the Problems Raised by the Discovery of Atomic Energy. 24.1.1946.

    4) Belgien, Deutschland, Italien, Niederlande und die Türkei.

    5) Remarks by Acting Secretary Shanahan with NATO Secretary General Stoltenberg at the NATO Defense Ministerial, Brussels, Belgium. Transcript vom 13.2.209; nato.int.

    Regina Hagen ist aktiv bei der Kampagne "Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt" und verantwortliche Redakteurin der Zeitschrift "Wissenschaft und Frieden".

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