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Mobile Ungleichheit

01.07.2024: Reproduziert Erasmus+ soziale Ungleichheit?

  
 

Forum Wissenschaft 2/2024; Foto: M.Musca (GLAM NILDE), CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Die studentische Mobilität zu erhöhen, galt als ein Ziel der Bologna-Reform. Mit einem Anstieg von rund 180.000 international mobilen Studierenden im Jahr 2007 auf über 300.000 im Jahr 2022 ist das Programm auf den ersten Blick auch ein voller Erfolg. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings auch eine Reproduktion sozialer Ungleichheit, wie Simon Weiser beobachtet. So eröffnet die erfolgreiche Teilnahme an Erasmus+ zwar bessere Karrierechancen. Zeitgleich ist die Wahrscheinlichkeit, einen Platz im Austauschprogramm zu erhalten, aber auch von der sozialen Lage mitbestimmt.

Ein zentrales Ziel des Bologna-Prozesses war es, den internationalen Austausch und die Mobilität von Einzelpersonen im Bildungssektor zu fördern. Neben der Angleichung der Studienstruktur sowie der Einführung eines EU-weit einheitlichen Leistungspunktesystems, den ECTS, gelten vor allem Erasmus+ und seine Vorgängerprogramme als wichtige Bausteine zur Förderung der akademischen und studentischen Mobilität. Die aktuelle Erasmus-Programmgeneration (2021-2027) bezeichnet die Mobilität von Einzelpersonen dementsprechend auch als "Leitaktion 1".1

Eine sehr kurze Geschichte von Erasmus+

Zwar existierte Erasmus als Programm zur Förderung studentischer und akademischer Mobilität bereits seit 1987 und damit bereits vor der Bologna-Initiative. Allerdings wurde es im Rahmen der europäischen Reformbestrebungen nach und nach ausgebaut: Von 1995 bis 2006 war Erasmus Teil des sogenannten Sokrates-Programms, das die internationale Vernetzung im gesamten Bildungsbereich fördern sollte. 2007 wurde Sokrates vom "Programm für lebenslanges Lernen" abgelöst, um 2014 schließlich in Erasmus+ aufzugehen. Ziel von Erasmus+ ist es, den Austausch und die Mobilität im Bereich Sport sowie der allgemeinen und beruflichen Jugend- und Erwachsenenbildung zu fördern. Studentische Mobilität ist damit zwar der wohl bekannteste, aber nicht der einzige Baustein von Erasmus+.

Zahlen und Gefühle - Erasmus+ ein voller Erfolg?

Die Statistiken scheinen dabei eine eindeutige Sprache zu sprechen: Seit 1987 wurden im Rahmen von Erasmus und dessen Nachfolgeprogrammen über vier Millionen Studierende gefördert. Dabei sind die Zahlen über die Jahre stets angestiegen: Während es 2007 jährlich rund 180.000 international mobile Studierende gab, waren es 2013 bereits ca. 270.000. 2022 stieg die Zahl auf über 320.000.2

Dabei scheinen nicht nur die reinen Statistiken eine eindeutige Erfolgsgeschichte zu schreiben. Auch die Erasmus-Studierenden selbst deuten ihre Teilnahme am Mobilitätsprogramm größtenteils positiv. Zwar berichten manche von Schwierigkeiten, sich im neuen universitären Umfeld zurechtzufinden oder die erbrachten Leistungen nach ihrer Rückkehr an die Heimatuniversität anerkennen zu lassen. Auch Einsamkeit ist ein Thema, mit denen Studierende im Ausland zu kämpfen haben. Mehrheitlich empfinden die Erasmus-Teilnehmenden ihr Auslandsstudium oder -praktikum aber als äußerst prägende Zeit. "Bereicherung fürs Leben", "den eigenen Horizont erweitern", "eine transformative Erfahrung" sind Formulierungen, die Studierende immer wieder verwenden, um ihren Erasmus-Aufenthalt zu beschreiben.3

Als Motivation geben die meisten Erasmus-Teilnehmenden an, ihre interkulturellen Kompetenzen sowie ihre Sprachkenntnisse erweitern zu wollen. Auch erhoffen sie sich bessere berufliche Aussichten aufgrund ihres Auslandsaufenthalts. Tatsächlich wirkt sich internationale Erfahrung während des Studiums auch positiv auf die späteren Karrierechancen aus.4

Ein weiteres Argument, das für den Erfolg von Erasmus+ angeführt wird, ist, dass es zur Herausbildung einer Art europäischer Staatsbürger:innenschaft beiträgt. So identifizieren sich Erasmus-Absolvent:innen stärker mit einer Zugehörigkeit zu Europa und sind der EU gegenüber im Durchschnitt deutlich positiver eingestellt.5

Erfolg ja - doch nicht für alle

Mit Blick auf die rasant gestiegenen Zahlen an mobilen Studierenden, die gute Selbsteinschätzung von Erasmus-Absolvent:innen sowie die positiven Auswirkungen auf Karrierechancen und einen EU-Bürger:innen-Sinn bezeichnen manche Hochschulforscher:innen die Programme für studentische Mobilität dementsprechend auch als eine der bis dato erfolgreichsten EU policies.6

Trotz dieser Erfolgsbilanz, die Erasmus+ und seine Vorgängerprogramme aufweisen können, muss jedoch auch festgehalten werden: Nicht alle Studierenden profitieren gleichermaßen vom Erfolg der Austauschprogramme. So zeigen Studien immer wieder, dass die Wahrscheinlichkeit, einen Auslandsaufenthalt zu absolvieren, vom sozio-ökonomischen Hintergrund abhängt. Nicolai Netz und Claudia Finger weisen zum Beispiel nach, dass im Beobachtungszeitraum von 1991 bis 2012 zwischen 12 und 20% der Studierenden mit einem hohen sozio-ökonomischen Status ein Auslandsstudium absolvierten. Unter den Universitätsgänger:innen mit einem finanziell schwächeren Hintergrund waren es lediglich zwischen 9 und 14%. Dabei finden Studierende mit niedrigem sozio-ökonomischen Status nicht nur seltener den Weg ins Ausland. Selbst wenn sie es schaffen, international zu studieren, verbringen sie im Schnitt auch eine kürzere Zeit außerhalb des Heimatlandes.7

Eine mögliche Erklärung für die ungleiche Verteilung ist der hohe finanzielle Aufwand, mit dem ein Auslandsstudium verbunden ist. Es fallen Reisekosten an und die Lebenshaltungskosten im Ausland, insbesondere an renommierten Studienstandorten, sind oft deutlich höher. Gerade Menschen aus finanziell beschränkten Haushalten können sich das oft nicht leisten. So gaben in der europaweiten Studie EUROSTUDENT über 60% der Studierenden, die keinen Auslandsaufenthalt planen und einen niedrigen sozio-ökonomischen Hintergrund haben, finanzielle Belastungen als wichtigen Grund an, nicht im Ausland studieren zu können. Bei den Studierenden mit höherem sozio-ökonomischen Status waren es knapp zehn Prozentpunkte weniger. 8

Für viele Studierende ist außerdem unklar, ob sie auch im Ausland eine Arbeit finden werden, um ihr Studium wie an der Heimatuniversität durch einen Nebenjob finanzieren zu können. Den Verlust der bezahlten Arbeit nannten in der EUROSTUDENT-Studie 44% der Hochschulgänger:innen mit niedrigem sozio-ökonomischen Status als Ursache, kein internationales Studium aufzunehmen. Bei den Studierenden mit einem höheren sozio-ökonomischen Hintergrund waren es 35%. Verstärkt wird die finanzielle Ungleichheit zusätzlich noch durch den Umstand, dass Studierende mit höherem sozio-ökonomischen Status im Durchschnitt häufiger ein Stipendium für ihren Auslandsaufenthalt erhalten. Erasmus+ muss man sich also leisten können.

Einen weiteren Mechanismus, der die je nach Schichtzugehörigkeit unterschiedliche internationale Studienmobilität erklären kann, hat eine Studie aus UK aufgedeckt. So hängt die Anzahl der pro Universität zu vergebenen Plätze für Austauschprogramme unter anderem von den Finanzmitteln der einzelnen Hochschulen ab. Da besonders prestigeträchtigen Universitäten mehr Geld zur Verfügung steht und sich ein hohes Maß an Internationalisierung wiederum positiv auf das Renommee der Hochschule auswirkt, können diese Universitäten eine größere Anzahl ihrer Studierenden ins Ausland schicken. Allerdings ist der Zugang zu diesen Hochschulen wiederum durch die Schichtzugehörigkeit beeinflusst. Menschen mit einem niedrigen sozio-ökonomischen Status gelangen seltener an besonders prestigereiche Universitäten und sind dadurch von der Möglichkeit, einen Auslandsaufenthalt zu absolvieren, von vornherein ausgeschlossen.9

Mit Blick auf die monetäre Ungleichheit, die Erasmus+ und seine Vorgängerprogramme hervorbringt, spricht der Hochschulforscher Manfred Heinemann auch von den "vergessenen Finanzproblemen"10 der Bologna-Reform. Diese sind vor allem deshalb besonders folgenreich, da sie einen Teufelskreis sozialer Ungleichheit nach sich ziehen können: Wenn ein Auslandsstudium zumindest teilweise vom sozio-ökonomischen Status bedingt ist, zeitgleich aber auch wiederum die späteren Berufsaussichten beeinflusst, scheint es keinen Ausweg zu geben.

Ob das finanzielle Ungleichgewicht aber tatsächlich ein "vergessenes Problem" ist, lässt sich bezweifeln. Schließlich sind sich die zuständigen EU-Minister:innen des Problems bewusst. So fordern sie in ihrem Kommuniqué im Rahmen der Konferenz in Leuven mit Blick auf die studentische Mobilität eine "improved participation rate from diverse student groups"11

Der Zusammenhang von mehr Mobilität und mehr Ungleichheit

Auf der einen Seite ein deutlicher Anstieg an Austauschstudierenden, auf der anderen Seite die ungleiche Verteilung - wie ist dieser (vermeintliche) Widerspruch zu erklären? Die Hochschulforscher Ulreich Teichler und Peter Scott weisen darauf hin, dass der Anstieg an internationalen Studierenden im Kontext einer weiter gefassten Bildungsexpansion zu betrachten ist. Zwar ist es richtig, dass es deutlich mehr mobile Hochschulgänger:innen gibt. Allerdings ist die Studierendenzahl insgesamt in einem ähnlichen Maß gestiegen. Das Verhältnis von internationalen zu nicht internationalen Studierenden hat sich dementsprechend nicht so eindeutig verschoben, wie es ein erster Blick auf die Hochschulstatistiken internationaler Mobilität vermuten lässt.12

Die Bildungsexpansion hatte zwar tatsächlich den Effekt, mehr Menschen den Zugang zu Hochschulen zu ermöglichen. Allerdings führte der Zuwachs der Studierendenzahl auch dazu, dass die einzelnen Bildungsabschlüsse entwertet wurden. Auf dem heutigen Arbeitsmarkt bringt ein Bachelorabschluss allein keine guten Berufsaussichten mehr. Weitere Qualifikationen, wie Praktika oder ein zusätzlicher Master, sind fast schon Pflicht. Mit Blick auf die Bildungsexpansion in Frankreich bezeichnet Bourdieu diesen Sachverhalt auch als eine "Verlagerung der Struktur" von Ungleichheit.13 Sein Freund und Kollege Didier Eribon beschreibt das Phänomen mit folgenden Worten:

"Wenn die Angehörigen der benachteiligten Klasse glauben, sie hätten eine alte Zugangsschranke überwunden, müssen sie häufig feststellen, dass das Erreichte mittlerweile seinen Wert verloren hat. Der Abstieg mag langsamer verlaufen, der Ausschluss später stattfinden, aber der Abstand zwischen Herrschenden und Beherrschten bleibt konstant. Er reproduziert sich, indem er sich verschiebt."14

Genau dieses Phänomen liegt auch mit Blick auf die ungleiche Verteilung internationaler Mobilität unter Studierenden vor. Da die Zahl der Hochschulabsolvent:innen insgesamt gestiegen ist, müssen neue Wege gefunden werden, um sich von der breiten Masse abzugrenzen. Ein Auslandsstudium, ein etwas längeres Auslandsstudium und ein etwas längeres Auslandsstudium an einer besonders renommierten Universität sind hierfür ein gutes Mittel.

Was tun?

Die bereits zitierte Studie von Nicolai Netz und Claudia Finger zeigt, dass die Ungleichheit in Bezug auf Auslandsaufenthalte vor allem bis zum Jahr 2003 anstieg. Danach blieb sie bis zum Ende des beobachteten Zeitraums im Jahr 2012 recht konstant. Die Autor:innen führen das Ende des steigenden Ungleichgewichts auf die BAFöG-Reform von 2001 zurück. Die staatliche Unterstützung bedürftiger Studierender, so die Vermutung von Netz und Finger, stellt ein wichtiges Mittel dar, die Ungleichheit in Bezug auf internationale Mobilität zu bekämpfen. Denn dadurch fallen Fragen, wie ein Auslandsstudium zu finanzieren sei, für ökonomisch schwächer gestellte Studierende nicht mehr so stark ins Gewicht.15 Eine Ausweitung und Reform von BAFöG, speziell mit Hinsicht auf die Förderung im Ausland, wären deshalb ein guter Anfang, um mehr Menschen ein Erasmus-Studium zu ermöglichen - und zwar unabhängig vom finanziellen Hintergrund.

Anmerkungen

1) Erasmus+ (ohne Jahr): Hochschulbildung. www.erasmusplus.de/erasmus/hochschulbildung. Zuletzt eingesehen: 17.04.2024.

2) European Commission 2015: Erasmus+ Programme Anual Report 2014. www.tdm2000international.org/digital-library/erasmus-programme-annual-report-2014/. Zuletzt eingesehen: 17.04. 2024; European Commission 2023: Erasmus+ Programme Anual Report 2022. op.europa.eu/en/publication-detail/-/publication/9020d5f5-8f3a-11ee-8aa6-01aa75ed71a1/language-en. Zuletzt eingesehen: 17.04.2024.

3) Karolina Czerska-Shaw / Ewa Krzaklewska 2022: "Uneasy Belonging in the Mobility Capsule. Erasmus Mundus Students in the European Higher Education Area", in: Mobilities 17(3): 432-445; Cosmin I. Nada / Josef Ploner / Laleh Esteki 2023: "›They Just Signed and Stamped Papers‹. Understanding the Erasmus Student Experiences", in: Journal of International Students 13(2): 114-132.; Natalie Nielsen 2020: The Erasmus Learning Journey Students’ Experiences from a Mobility Period Abroad. Stockholm University; Valentina Cuzzocrea / Ewa Krzaklewska 2023: "Erasmus Students’ Motivations in Motion. Understanding Super-mobility in Higher Education", in: Higher Education 85: 571-585.

4) Rachel Brooks / Johanna Waters 2011: Student Mobilities, Migration and the Internationalization of Higher Education, London; Nicolai Netz, Andreas Sarcletti 2021: "(Warum) beeinflusst ein Migrationshintergrund die Auslandsstudienabsicht?", in: Monika Jungbauer-Gans und Anja Gottburgsen (Hg.): Migration, Mobilität und soziale Ungleichheit in der Hochschulbildung, Luxemburg: 103-136.

5) Kristine Mitchell 2012: "Student Mobility and European Identity. Erasmus Study as a Civic Experience?", in: Journal of Contemporary European Research 8(4): 490-518; Enric Lurda / Lidia Gallego-Balsa / Claudia Barahona / Xavier Martin-Rubio 2016: "Erasmus Student Mobility and the Construction of European Citizenship", in: The Language Learning Journal 44(3): 323-346.

6) Rachel Brooks / JohannaWaters, Johanna 2011 (s. Anm. 4); Vassiliki Papatsiba 2006: "Making Higher Education more European through Student Mobility? Revisiting EU Initiatives in the Context of the Bologna Process", in: Comparative Education 42(1): 93-111.

7) Nicolai Netz / Claudia Finger 2016: "New Horizontal Inequalities in German Higher Education? Social Selectivity of Studying Abroad between 1991 and 2012", in: Sociology of Education, 89(2): 79-98.

8) Dominic Orr / Christoph Gwosc / Nicolai Netz 2011: Social and Economic Conditions of Student Life in Europe. Synopsis of indicators. Final Report. Eurostudent IV 2008-2011, München.

9) Sylke V. Schnepf / Marco Colagrossi 2020: "Is Unequal Uptake of Erasmus Mobility really only due to Students’ Choices? The Role of Selection into Universities and Fields of Study", in: Journal of European Social Policy 30(4): 436-451

10) Manfred Heinemann 2008: "Die ›soziale Dimension‹ des Bologna Prozesses oder die vergessenen Finanzprobleme", In: Bildung und Erziehung 61(4): 451-473.

11) EHEA 2009: The Bologna Process 2020. The European Higher Education Area in the New Decade Communiqué of the Conference of European Ministers Responsible for Higher Education, Leuven and Louvain-la-Neuve, 28-29 April 2009. www.ehea.info/page-ministerial-conference-Leuven-Louvain-la-Neuve-2009. Zuletzt eingesehen: 21.04.2024: 5.

12) Peter Scott 2015: "Dynamics of Academic Mobility. Hegemonic Internationalisation or Fluid Globalisation", in: European Review 23(1): 55-69; Ulrich Teichler 2015: "Academic Mobility and Migration. What We Know and What We Do Not Know", in: European Review 23(1): 6-37.

13) Pierre Bourdieu 1982: Die feinen Unterschiede, Frankfurt a.M.: 210.

14) Didier Eribon 2016: Rückkehr nach Reims, Berlin: 173.

15) Nicolai Netz / Claudia Finger 2016 (s. Anmerkung 7).

Simon Weiser promoviert an der Ludwig-Maximilians-Universität München und forscht als Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung zu Eltern-Kind-Beziehungen syrischer Migrant:innen in Deutschland. Ein weiterer Interessenschwerpunkt liegt auf Mobilität im Hochschulkontext und Universitätszugang für Geflüchtete.

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