Der BdWi trauert um Wolfgang Nitsch (13. Juni 1938 - 27. Januar 2016)
05.02.2016: Nach langer schwerer Krankheit verstarb am 27. Januar unser Kollege, Freund und Genosse Wolfgang Nitsch in Oldenburg. Der BdWi verliert damit eines seiner besonders langjährigen, aktiven Mitglieder und Unterstützer.
Wolfgang Nitsch gehörte dem Verband seit 1974 an und wirkte von 1993 bis 2013 in unserem Bundesvorstand sowie dem Beirat mit. Er war immer bereit, politische Aufgaben zu übernehmen soweit es seine Zeit als vielseitig engagierter Mensch zuließ.
Vor allem jedoch personifizierte er die Tradition progressiver Bildungs- und Hochschulreformen seit den späten 50er Jahren. Wolfgang entstammte einer Arbeiterfamilie und wuchs als Kriegshalbwaise im amerikanischen Sektor Berlins auf. Dort studierte er an der Freien Universität von 1957-1965. Seit 1958 gehörte er dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) an, engagierte sich darüber hinaus gegen Atomrüstung und im Argument-Club. Am bekanntesten ist Wolfgang vermutlich ursprünglich als Koordinator und Federführender der legendären SDS-Hochschuldenkschrift "Hochschule in der Demokratie" geworden. Anfänglich wurde die Denkschrift noch vom SPD-Vorstand in Auftrag gegeben. Als sie 1961 erschien, war der SDS bereits aus der SPD ausgeschlossen und mit einem Unvereinbarkeitsbeschluss belegt. Gleiches geschah ebenfalls mit der u. a. auf Initiative Wolfgang Abendroths zur (auch finanziellen) Unterstützung des SDS 1961 gegründeten Sozialistischen Fördergesellschaft (SFG). Im gleichen Jahr flogen alle SPD-Mitglieder der SFG aus der Partei, so auch Wolfgang Abendroth.
1961 wurde die 180seitige Denkschrift von der SDS-Delegiertenkonferenz als programmatisches Dokument beschlossen. 1965 erschien dann eine auf über 400 Seiten wissenschaftlich erweiterte und mit einem Vorwort von Jürgen Habermas versehene Fassung mit dem Untertitel "Kritische Beiträge zur Erbschaft und Reform der deutschen Universität" - erstmalig auch mit den Namen der AutorInnen: Wolfgang Nitsch, Uta Gerhardt, Ulrich K. Preuß und Claus Offe. Beide Texte, in die Beiträge der Kritischen Theorie, der kritischen empirischen Bildungsforschung, aber auch des Demokratie- und Verfassungsverständnisses Wolfgang Abendroths eingeflossen sind, hatten einen ganz erheblichen Einfluss auf die kontroverse Diskussion um die Hochschulreform der folgenden Jahre. Von ihr profitierten die progressive Assistentenbewegung und die Studentenbewegung - bis in die kleinteilige Fachschaftsvertretungsarbeit hinein.
Wolfgang verfolgte den einmal eingeschlagenen Weg auch in seinem weiteren wissenschaftlichen Werdegang konsequent weiter. Von 1965 bis 1972 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max Planck Institut für Bildungsforschung in Berlin. In der Zeitspanne absolvierte er zahlreiche Auslandsaufenthalte in den USA, Kanada und Mexiko, auch zum Studium der dortigen Hochschulsysteme. 1972/73 wirkte er an der Planung und Gründung der als Reformuniversität konzipierten Universität Bremen mit, wo er auch zum Doktor der Philosophie promovierte. 1974 schließlich trat er eine Professur für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsdidaktik an der ebenfalls neugegründeten Universität Oldenburg an. Die Ernennung erhielt er durch den damaligen niedersächsischen Kultusminister Peter von Oertzen, der zu den SDS-Förderern gehörte und 1959 ebenso wie Wolfgang Abendroth einen Gegenentwurf zum Godesberger Programm der SPD formuliert hatte.
Diese Professur füllte Wolfgang bis zu seiner Emeritierung 2006 aus und beteiligte sich auch danach noch an Forschung, Lehre und zahlreichen politischen Interventionen. In Oldenburg baute er den Reformmodellversuch "Einphasige Lehrerausbildung" mit auf. Seit 1998 beteiligte er sich am Aufbau des Nord-Süd-Zentrums der Uni Oldenburg, welches vor allem der Kooperation mit Studierenden und Lehrenden an den Universitäten Südafrikas diente, wo er sich häufig aufhielt. Dafür verlieh ihm die Nelson Mandela Metropolitan University (NMMU) in Port Elizabeth, Südafrika, 2009 den Titel eines Honorarprofessors.
Wolfgang war ein treues, aber eher untypisches BdWi-Mitglied. Er entstammte dem antiautoritären Flügel des SDS und ordnete sich immer in eine libertär-sozialistische Tradition der Neuen Linken mit Nähe zum Sozialistischen Büro ein. Daher kritisierte er zuweilen eine - aus seiner Sicht zu starke - ›DKP-Nähe‹ des Verbandes in den 70er Jahren. Darüber kann man sicher bis heute streiten. Wenn er Kritik am BdWi hatte, erfolgte diese jedoch immer in fairer und solidarischer Form und nie in der Absicht, uns den Rücken zu kehren. Im Gegenteil. Seit den 90er Jahren wurde unsere politische Zusammenarbeit sogar wieder verstärkt. Der Autor dieser Zeilen lernte Wolfgang 1990 an der Universität Leipzig auf einem Kongress persönlich kennen. Damals unterstützte er Versuche einer demokratischen Selbsterneuerung der (Noch-)DDR-Hochschulen und wendete sich gegen Zielsetzungen einer feindlichen Übernahme durch die westdeutsche Wissenschaftselite, kurz: gegen die Einverleibung in das kaputte, bürokratische und unterfinanzierte westdeutsche Hochschulsystem. Er bemühte sich, das Konzept der Runden Tische aus den Bürgerbewegungen für eine gesamtdeutsche Hochschulreform fruchtbar zu machen.
Das scheiterte bekanntlich, aber Resignation war ihm immer fremd. Man konnte ihn jederzeit anrufen und um Rat fragen, ihn als Referenten auf Tagungen und Kongresse einladen; auch - oder erst recht - auf studentische Seminare, denn es schien ihm ein Anliegen zu sein, seine jahrzehntelangen theoretischen und praktischen Erfahrungen mit Hochschulpolitik an die jüngeren Generationen in lebendiger und spannender Form weiterzugeben.
Allen Menschen, die er auf diese Weise erreicht hat, wird er fehlen. Dem BdWi erst recht.
Torsten Bultmann
P.S. Die nächsten Angehörigen bitten für sein Andenken um eine Spende an das
Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.,
Aquinostraße 7-11, 50670 Köln.
Postbank Frankfurt
IBAN: DE02 5001 0060 0391 8816 00
BIC: PBNKDEFFXXX
Verwendungszweck: Wolfgang Nitsch