Ganzdeutsche Volksparteien
10.04.2018: Kurzer Nachruf zur langen Agonie der Parteien alten Typs
Forum Wissenschaft 1/2018; Foto: maxsattana / shutterstock.com |
Bei der Bundestagswahl 2017 erlitten die sogenannten Volksparteien deutliche Verluste. Mit dem Ergebnis setzt sich somit ein Trend fort, der seit den 1980er Jahren zu beobachten ist. Ob sich der damit einhergehende Bedeutungsverlust umkehren lässt, betrachtet Richard Albrecht.
Die repräsentative Demokratie erwies sich für die Oligarchie als ein besonders effektives Mittel zur sozialen Pazifizierung. Es gelang, die von den "Volksparteien" vertretenen Positionen strikt innerhalb der Interessensspektren der Machthaber zu halten. Indem die Volksparteien die Illusion einer demokratischen Kontrolle aufrechterhalten, wirken sie gesellschaftlich befriedend und gewährleisten zugleich die Stabilität der herrschenden Ordnung. Mehr noch als die politischen Parteien sind globale Finanzindustrie und internationale Großkonzerne mit denen von ihnen beherrschten Medien als "tiefer Staat" die getarnten Herren und wahren Betreiber der "Weltdemokratie". (Wolfgang Caspart)
Die Bundestagswahl am letzten Septembersonntag, dem 24.9.2017, zeigte als Kernergebnis vor allem den Ausgang des Überlebenskampfs eines politikgeschichtlich alten Typs politischer Partei, der catch-all-, Allerwelts- oder Volkspartei. Wenn CSU, CDU und SPD als realexististierende ganzdeutsche Politformationen beanspruchen, als Volksparteien sozial verankert zu sein, dann sind sie auch am - dieses politisch am ehesten ausdrückenden - Sozioparameter Wahlberechtigte als geronnene Form des Souveräns zu messen: Die drei ganzdeutschen Volksparteien wurden in der Bundestagswahl 2017 von etwa 60 Prozent der wahlberechtigten Bürger/innen abgelehnt; genauer: Die regionale bayrische CSU und der CDU/SPD-Komplex als in allen Bundesländern wählbare politische Parteien erhielten von knapp 62 Millionen Wahlberechtigten als grunddemokratischem Souverän knapp 25 Millionen Stimmen. Das ergibt für die drei ganzdeutschen Volksparteien etwa 40 Prozent und damit auch keine relative Mehrheit aller abgegebenen und gültigen (Zweit-)Stimmen. Und das meint nicht nur die eindeutige Abwahl der großen Koalition dieser drei Parteien, sondern auch einen nachhaltigen volksparteilichen Legitimationsverlust.
Soziologisch deutete sich dieser Prozess in der Alt-BRD bereits Ende der 1980er Jahre an, wurde in den 1990er Jahren ganzdeutsch verallgemeinert und zeigte sich empirisch seit 2009 auch bei allen drei zentralen Bundestagswahlen vor allem im zunehmenden Nichtwählen sowie in der Herausbildung und Festigung entsprechender Sozialmilieus.1 Diese Grundentwicklung wird bis heute großmedial kleingeredet und in amtlichen Statistiken und Schaubildern verzerrt in Form von Rückbezügen auf Teilmengen. Ungültig und "falsch" (weil unter-fünf-Prozent-Parteien) Wählende finden keine Berücksichtigung. Und das alles wird in aufprozentuierten Stimmen mit institutionellen Sitzverteilungen nur noch relativistisch dargestellt.2
Volksparteien in Minderheitslage
Inzwischen dürfte eine sechzig Jahre andauernde Politikgeschichte zunächst der Alt-BRD und seit 1990 des neuen Gesamtdeutschland ihr Ende gefunden haben. Sie begann mit der Bundestagswahl 1957, die die Unionsparteien mithilfe ihrer Siegerlosung Keine Experimente erfolgreich in Form der absoluten Mehrheit bestritten. Das brachte so aparte Leitideologien wie die von der klassenüberwindenden nivellierten Mittelstandsgesellschaft (des damals prominenten Soziologen Helmut Schelsky) hervor. Diese blieb dominant bis Mitte der 1960er Jahre. Und konnte bis in die 1990er Jahre unter stärkerem Einbezug der zweiten volksparteilichen Säule SPD als sozialpartnerschaftlicher rheinischer Kapitalismus und später noch als - zunehmend auslaufendes - Modell Deutschland wiederbelebt und insofern erhalten werden.
Die seit 2009 beobachtbare und nun mit der letzten Bundestagswahl Ende September 2017 offen sichtbare Minderheitslage der herkömmlichen Volksparteien in Deutschland mag für die Polittriade CSUCDUSPD, ihre Funktionäre und Wähler allerlei Geschlechter so bitter wie unwiederbringlich, unhintergehbar, irreversibel sein. Der Fakt: Volksparteien als politische Minderheit konnte 2017 durch irgendwelche Politupdates mit Konfigurationen wie eine Jamaikakoalition genannte Schwampel oder bei deren Scheitern eine grün erweiterte Parteientriade von CDU, SPD, GRÜNE als schwarzrotgrüne Afghanistan- oder Keniakoalition nicht einmal kosmetisch überpinselt, geschweige denn grundlegend und dauerhaft überwunden werden.
Und so könnte es auch, allein um Neuwahlen zu vermeiden, demnächst eine knappe parlamentarische Mehrheit von CSUCDUSPD als triple-loser oder Dreigestirn der Verlierer als Mini-GroKo geben, mit dieser parteipolitischen Hauptwirkung zur dann folgenden (vermutlich vorgezogenen) Bundestagswahl: bei nachhaltig abnehmender Wahlbeteiligung erhebliche Stimmenverluste der SPD und reziproke Stimmengewinne der AfD.3 Die SPD unter Schulz, dem angeblich "linken Kapitalismus-Kritiker"4 tendiert zur Europäisierung à la France. Deren Parti Socialiste (PS) erhielt im 1. Wahlgang bei der letzten Präsidentschaftswahl am 23.4.2017 6,4 Prozent.5
Sozialstrukturell-manifeste Enwicklungen und dauerhafte Prekarisierungsprozesse lassen sich durch irgendwelche taktizistischen Politmätzchen welcher Ausprägung auch immer nicht aus der Welt schaffen. Deren praktisch-politische Wirkungen sind unübersehbar - etwa als wie bisher nicht mehr einfach handhabbare konsensbestimmte, sondern künftig stärker konflikt- und interessensbezogene Formen auch des parlamentarisch-institutionellen Handelns einschließlich Regierungsbildung auf der ganzdeutschen Bundesebene.
Anmerkungen
1) Allgemein-soziologisch Richard Albrecht 1990: "Differenzierung - Pluralisierung - Individualisierung. Umbruchsprozesse der bundesrepublikanischen Gesellschaft", in: Gewerkschaftliche Monatshefte 41 (1990) 8: 503-512; politik-soziologisch ders. 2011: "Der Legitimationskoeffizent. Plädoyer für eine erweiterte Politische Soziologie der Wahl", in: soziologie heute, 4 (2011) 19: 28-30; ders. 1990: "Ratlose Riesen: Zum Umbruch der Parteienlandschaft", in: medium 20 (1990) 3: 44-46; ders. 1992: "Das doppelte demokratische Defizit"; in: Recht und Politik, 28 (1992) 1: 13-19; ders. 2009: Mehrheit ohne Volk www.kritiknetz.de/images/stories/texte/Mehrheit_ohne_Volk.pdf; ders. 2014: Nichtwähler als teilbekannte Wesen; ebenda, 7 (2014) 38: 28-30; ders. 2016, Über sozialfrustiertes und sozialverdummtes Volk im Herbst 2016; ebd., 8 (2016) 50: 43; aktuell Walter Hollstein, POLITIK OHNE VOLK. Die schleichende Entmachtung des Souveräns; ebd., 9 (2017) 52: 6-10; grundlegend Wolfgang Caspart, Soziologie von Repräsentationssytem und Volksherrschaft; ebd., 9 (2017) 56: 36-39.
2) Als letztprominentes Beispiel www.bundeswahlleiter.de/bundestagswahlen/2017/ergebnisse.html.
3) Zum Aspekt der descenten Abstiegsfurcht als Angstspirale in der ganzdeutschen Gegenwartsgesellschaft Friedrich-Ebert-Stiftung (2017) library.fes.de/pdf-files/wiso/13889.pdf.
4) Die Welt 27.11.2017.
5) fr.wikipedia.org/wiki/Parti_socialiste_(France).
Dr. Richard Albrecht, Sozialwissenschaftler mit Arbeitsschwerpunkten Kultur - Bildung - Cineastik, Freier Autor und Wissenschaftsjournalist in Bad Münstereifel, Kolumnist des Fachmagazin soziologie heute.