Offener Brief des BdWi
20.01.2016: zu den Repressionen der türkischen Regierung gegen kritische WissenschaftlerInnen
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
mit großer Sorge beobachtet der Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi) die äußerst repressiven Maßnahmen der türkischen Regierung gegen kritische WissenschaftlerInnen.
Dazu haben wir heute dem Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier einen offenen Brief mit der Bitte übersandt, bei der türkischen Regierung nachdrücklich gegen die Verletzung elementarer Grundrechte Stellung zu beziehen.
Wir erwarten, dass die Bundesregierung bei nächster Gelegenheit entsprechend tätig wird. Dazu bietet sich z.B. der Besuch des türkischen Ministerpräsidenten Davutoglu in Berlin am Freitag an.
Sehr geehrter Herr Minister Steinmeier,
mit großer Sorge und Empörung beobachten wir den repressiven Umgang der türkischen Regierung mit kritischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.
Am 10. Januar 2016 veröffentlichten die Baris icin Akademisyenler (AkademikerInnen für den Frieden) den Aufruf "Wir, die AkademikerInnen und WissenschaftlerInnen dieses Landes, werden nicht Teil dieses Verbrechens sein". Über 1.100 UnterzeichnerInnen protestieren mit ihrer Unterschrift gegen die militärischen Maßnahmen der türkischen Regierung in den kurdischen Gebieten und gegen die Zivilbevölkerung. Es wird von den Konfliktparteien gefordert, wieder an den Verhandlungstisch zurückzukehren und eine friedliche Lösung des Konflikts anzustreben.
Diese Wahrnehmung ihrer gesellschaftlichen Verantwortung als WissenschaftlerInnen zog eine beispiellose Verunglimpfungs- und Kriminalisierungskampagne nach sich.
Die einflussreiche AKP-nahe Zeitung Sabah bezichtigte die InitiatorInnen und UnterzeichnerInnen des "Verrats" und warf ihnen vor, das "Gedankengut von PKK und HDP" zu verbreiten. Präsident Erdogan erklärte die UnterzeichnerInnen zu "Vaterlandsverrätern", der türkische Hohe Rat für Bildung (YÖK) leitete eine Untersuchung ein und kündigte an, dass sich derartige Ereignisse "nicht noch einmal wiederholen würden." Sehr zügig wurden erste Disziplinarverfahren gegen die WissenschaftlerInnen eingeleitet. Ihnen drohen Entlassungen, Berufsverbote und Verhaftungen.
Der Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi) unterstützt den Aufruf der AkademikerInnen für den Frieden und erklärt den betroffenen türkischen und kurdischen KollegInnen seine volle Solidarität.
Wir erwarten, dass die türkische Regierung die Autonomie und Meinungsfreiheit der AkademikerInnen für den Frieden respektiert. Denn Kritik am demokratischen Staat und an den Handlungen von Regierungen ist ein demokratisches Grundrecht. Die Kritiker zu verunglimpfen, sie strafrechtlich zu verfolgen und mit Verlust ihrer beruflichen Positionen als WissenschaftlerInnen zu bedrohen, widerspricht dem Selbstverständnis demokratisch verfasster Staaten. Dies gilt auch für die Türkei, die das Ziel verfolgt, Mitglied der Europäischen Union zu werden.
Sehr geehrter Herr Minister Steinmeier,
mittlerweile haben die Botschafter der USA und Großbritanniens gegen die autoritären Maßnahmen der türkischen Regierung Stellung bezogen. Wir halten es für notwendig, dass auch die deutsche Bundesregierung der türkischen Regierung gegenüber nachdrücklich diese Verletzung elementarer Grundrechte beanstandet und darauf hinwirkt, dass die Untersuchungen gegen die AkademikerInnen für den Frieden sofort eingestellt und Disziplinarmaßnahmen rückgängig gemacht werden, damit sie ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit uneingeschränkt nachgehen und sich als demokratische Bürger und Bürgerinnen ihres Landes frei äußern können.
Mit herzlichem Dank und freundlichen Grüßen
Torsten Bultmann Steffen Käthner
(Geschäftsführer des Bundes demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler / BdWi)
Dieser Offene Brief wird mittlerweile auch unterstützt vom
- GEW Landesverband Berlin, Abteilung Wissenschaft.
Das Büro von Minister Steinmeier hat mittlerweile auf unseren offenen Brief geantwortet. Es dankt für unser Schreiben und antwortet mit einigen wenig konkreten Allgemeinplätzen: "Missstände sowie schwierige Entwicklungen sprechen wir gegenüber der Türkei offen an. ... Auch in den Regierungskonsultationen am 22. Januar haben wir ... Skepsis verdeutlicht."
Und schließlich will die Bundesregierung, dass bei den EU-Beitrittsverhandlungen die Verhandlungskapitel 23/24 eröffnet werden, die "Rechtsstaatlichkeit und demokratische Grundfreiheiten behandeln und einen strukturierten und offenen Dialog mit der Türkei hierzu erlauben würden".
Konkreter sind mittlerweile die eindeutigen Aussagen einiger Mitglieder der Bundesregierung (z. B. Innenminister de Maiziere), dass die Gewinnung der Türkei als Partner zur Eindämmung der nach Europa führenden Fluchtbewegung oberste Priorität hat...