Forum Wissenschaft 3/2025
08.09.2025: Zwischen (Post-)Kolonialismus, Klimakrise und Klassenreisen
Forum Wissenschaft 3/2025; Foto: Jaro68 / shutterstock.com |
Tourismus und Mobilität in der wissenschaftlichen Debatte
"Visafrei bis Shanghai". So lautete eine der Parolen der Leipziger Montagsdemos im Herbst 1989. Die Einforderung des Rechts auf grenzenlose Freizügigkeit war eine der zentralen Triebkräfte im Ringen um politische Veränderungen in der DDR. Die Reisefreiheit war ein Versprechen für diejenigen, die sie nicht hatten. Weltanschauung - so hieß es - komme auch von "die Welt anschauen"…
Heute wird viel gereist, die Tourismuswirtschaft erzielt Jahr für Jahr neue Rekordzahlen, allen zwischenzeitlichen Krisen zum Trotz. Dennoch sind die einstigen Versprechen etwas verblasst. Touristisches Reisen erfährt zunehmend kritische Begleitung: Massentourismus und Fernreisen tragen erheblich zur globalen Erwärmung bei, "Overtourism" beeinflusst gewachsene regionale und kommunale Strukturen und wird zum Thema kommunalpolitischer Konflikte, aus den Ländern des Globalen Südens wird die (post)koloniale Verfasstheit des Tourismus kritisiert. Und ob eine ausgiebige Reisetätigkeit tatsächlich zu mehr Weltoffenheit und Toleranz führt, darf zumindest bezweifelt werden.
Gesellschaftliche Mobilität vollzieht sich aber nicht nur als Freizeitphänomen privilegierter (jedenfalls im globalen Kontext betrachtet) Schichten. Migration findet hingegen auch in starkem Maß unfreiwillig statt. Bisweilen treffen Fluchtbewegungen und Urlaubsreisen auch direkt aufeinander - liegen bevorzugte Ferienziele doch häufig an den Rändern der "Festung Europa". Der unterschiedliche Status von Reisenden wird hier auch besonders offensichtlich. Wer genießt Freizügigkeit - und wer nicht? Derzeit jedoch unterliegt auch die freie Mobilität für EU-Bürger*innen zunehmenden Beschränkungen: innereuropäische Grenzkontrollen wurden wieder eingeführt, Verstöße gegen geltendes EU-Recht bewusst in Kauf genommen.
Der Traum vom grenzenlosen Reisen, der einst auf Leipzigs Straßen formuliert wurde, rückt jedenfalls wieder in weitere Ferne. Für manche war er ohnehin nie realistisch. Rund 20% der Bevölkerung in Deutschland verreist gar nicht. Warum nicht? Das ist eine der Fragen, denen sich die wissenschaftliche Forschung annimmt. Wir werfen in diesem Heft einen Blick auf den Stand der Forschung über Geschichte und Gegenwart, Herausforderungen und Perspektiven der Tourismuswissenschaft.
Wir danken allen Autor*innen dieser Ausgabe für ihre Mitarbeit.
Unsere nächste Ausgabe erscheint im Dezember 2025. Unser Themenschwerpunkt lautet dann "Tod und Sterben als Themen für die Wissenschaft". Redaktionsschluss ist der 3. November 2025.
Aus dem Inhalt:
Mobilität, Reisen und Tourismus
Spiegel historischer Epochen und sozialer Entwicklungen
Die Geschichte des Tourismus skizziert Rüdiger Hachtmann
Zum Sozialen Tourismus der Naturfreunde
Klaus-Dieter Groß über die Geschichte der Naturfreundebewegung
Tourismus als Ursache und Spiegel städtischer Konflikte
Beobachtungen von Johannes Novy über Proteste gegen Overtourism
Nicht-Reisen als soziale Frage?
Laura Reiter fragt: Wer verreist aus welchen Gründen nicht?
Tourismus und Wissenschaft
Gespräch mit Prof. Dr. Sven Groß über Struktur und Inhalte eines Forschungsfeldes
Herausforderungen für den Tourismus
Jürgen Schmude und Pauline Metzinger betrachten eine Erfolgsgeschichte mit Krisen
Urlaubsreise als "Lebenswerk"
Klassenunterschiede und geschlechtsspezifische Differenzierungen beleuchtet Gerlinde Irmscher
Vom Bergfilm in den Faschismus?
Matthias Ernst wagt sich an eine Spurensuche rund um alpine Diskurse
Migration - das Ende der Freizügigkeit?
Grenzkontrollen verstoßen gegen Europarecht, finden Johannes Parisius und Andreas Fisahn
Reiseklassen - Klassenreise
Die touristischen Illusionen vom "besseren Leben" diskutieren Martina Backes und Rosaly Magg
Gesellschaft
Inwertsetzung
Für die Inwertsetzung des Rechts als Grundlage einer humanen Gesellschaft plädiert Jos Schnurer
Justizversagen im Rechtsstaat?
Anmerkungen von Hans See zu Johannes Ludwigs Buch "Nicht im Namen des Volkes"
Martin Luther und der Materialismus
Gedanken von Friedrich-Martin Balzer zur historischen Rolle Martin Luthers
Krieg und Frieden
Johannes Klotz lotet die Ursachen der wachsenden Kriegsgefahr aus