Forum Wissenschaft 1/2025
17.03.2025: Umkämpfte Erinnerung?
Forum Wissenschaft 1/2025; Foto: Dietmar Rabich / https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Berlin,_Denkmal_f%C3%BCr_die_ermordeten_Juden_Europas_--_2011_--_2415.jpg / https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/ |
Perspektiven der Geschichts- und Erinnerungspolitik
Am 8. Mai 1945 (bzw. am 9. Mai nach Moskauer Zeit) endete der Zweite Weltkrieg in Europa mit der Kapitulation des Deutschen Reiches. Für die gegen den Faschismus kämpfenden Vereinten Nationen war es der Tag des Sieges, für die Bevölkerung in besetzten Ländern, Antifaschist*innen, Inhaftierte, Drangsalierte und im Versteck Überlebende ein Tag der Befreiung. Und für die deutsche Mehrheitsbevölkerung?
In den 1950er und 60er Jahren galt der 8. Mai in Westdeutschland überwiegend als Datum der Niederlage oder des "Zusammenbruchs". Erst mit der Rede von Bundespräsident Weizsäcker 1985 rückte die Interpretation eines "Tags der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft" in den politischen Mainstream. In der DDR - die nach dem Verständnis der SED-Führung zu den "Siegern der Geschichte" gehörte - galt der 8. Mai ab 1950 offiziell als "Tag der Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus" und hatte zeitweise den Status eines gesetzlichen Feiertags. Unumstritten ist die Bewertung des 8. Mai bis heute nicht, auch wenn er gelegentlich - so wie 2020 und 2025 in Berlin - zu einem gesetzlichen Feiertag erklärt wurde. In Hamburg bemüht sich eine antifaschistische Initiative darum, den Tag generell als gesetzlichen Feiertag zu verankern.
Das Scheitern der Bemühungen um eine Neugestaltung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes deutet auf ein Ende konsensualer Erinnerungspolitik hin. Dabei geht es um das Verhältnis der Erinnerung an unterschiedliche historische Komplexe (etwa Nationalsozialismus, Stalinismus und Kolonialismus). Kann Erinnerung solidarisch verknüpft werden oder stehen die Komplexe notwendig in Konkurrenz? Hinzu kommen geschichtsrevisionistische Bestrebungen mit wachsender Reichweite. Im von der AfD betriebenen Kulturkampf spielt die Umbewertung der deutschen Geschichte eine zentrale Rolle und fordert eine "erinnerungspolitische Wende um 180 Grad". Angestrebt ist eine Verharmlosung und Relativierung der Verbrechen des deutschen Faschismus. NS-Gedenkstätten geraten verstärkt in den Fokus rechter Angriffe. Gedenkpolitik und -pädagogik stehen aber auch vor ganz praktischen Herausforderungen: Die Erinnerung an die Nazidiktatur und den antifaschistischen Widerstand war in den vergangenen Jahrzehnten stark geprägt von Begegnungen und Gesprächen mit überlebenden Zeitzeug*innen. Doch der Verlust der betreffenden Generation schreitet voran. Gedenkstätten und andere Institutionen suchen Mittel und Methoden, die Berichte der Überlebenden zugänglich zu halten. Welche Rolle spielen dabei digitale Medien - und auch KI?
Wir danken allen Autor*innen dieser Ausgabe für ihre Mitarbeit.
Unsere nächste Ausgabe erscheint im Juni 2025, dann - anlässlich des 500. Jahrestags der Bauernkriege - mit einem thematischen Schwerpunkt zu Landwirtschaft und Agrarpolitik. Redaktionsschluss ist der 4. Mai 2025.
Aus dem Inhalt:
Erinnern und Gedenken
Geschichtspolitischer Bärendienst
Die Gedenkstättenkonzeption des Bundes betrachtet Philipp Vergin
Erinnerungspolitische 180°-Wende?
Maxi Schneider beleuchtet Geschichtsbild und Geschichtspolitik der AfD
Zwischen Ratlosigkeit, Triumph und Scham
Maximilian Preuss berichtet über Forschungen zur kolonialen Jagdgeschichte
"Ich hoffe, ihr […] diskutiert miteinander"
Erinnerungsprojekte mit digitalen Medien stellt Sylvia Asmus vor
Die Gemeinschaften halten das Gedenken am Leben
Gespräch mit dem Istoreco Reggio Emilia über die Erinnerung an die italienische Resistenza
"Totgeschlagen - totgeschwiegen"
Christiane Fuchs skizziert den Umgang mit "vergessenen Opfern" des Nationalsozialismus
Ignorierte Opfer
Alexandra Senfft zeichnet nach, wie Sinti und Roma um eine würdige Erinnerung kämpfen
Gedenken im Namen der Nation
Moritz Butscheidt analysiert die Rolle der Gedenkpolitik bei der nationalen Identitätsbildung
Die Befreiung vollenden: Der "Spirit of 45"
Artur Brückmann untersucht Konsequenzen aus der Befreiung für heute
Giftige Blumen der Gedenkpolitik
Das politische Erbe von Henry Kissinger resümiert Bernhelm Booß-Bavnbek
Bildung und Wissenschaft
Das System ist überhitzt
Sonja Bolenius und Stefani Sonntag kommentieren das "Lernende Manifest" zur Wissenschaftsfinanzierung
Einstürzende Hochschulbauten?
Die Behebung des Investitionsstaus im Hochschulbau fordert Jana Stibbe
Wie frei ist die deutsche Wissenschaft?
Über sein Berufsverbot an der TU München berichtet Benjamin Ruß
"Und alles braucht Ressourcen"
Eine Analyse der Studienbedingungen in der neoliberalen Hochschule
Fritz Bauer und das Recht auf Widerstand
Ralf Oberndörfer erörtert Perspektiven für die juristische Ausbildung
Gesellschaft
Der Menschenfischer von Marseille
Karlheinz Lipp erinnert an die Rettungsaktivitäten von Varian Fry