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Hans-Jochen Gamm - ein Nachruf

31.12.2011: Über die fortdauernde Bedeutung seines Modells Kritischer Pädagogik

  
 

Forum Wissenschaft 4/2011; Foto: owik2 / photocase.com

An das Lebenswerk des materialistisch-humanistischen Pädagogen und daran, was dieser uns Heutigen noch zu sagen hat, erinnert Armin Bernhard1.

Am 18. Juni 2011 starb der Erziehungswissenschaftler Hans-Jochen Gamm im Alter von 86 Jahren. Mit ihm verlor die Erziehungswissenschaft einen außergewöhnlichen, über bloßen Szientismus hinaus denkenden Intellektuellen, der das Selbstbewusstsein der Pädagogik über die Bestimmung ihres wissenschaftlichen Gegenstandes vorangetrieben hat. Eine streitbare Identität war hierzu erforderlich, eine Identität, die sich im Widerspruch zu den gesellschaftlichen Verhältnissen seiner Zeit befand, in denen die Ziele der Mündigkeit und der Solidarität beständig hintertrieben werden, obgleich ihre Ideologie sie beständig proklamiert. Diese streitbare Identität war es, die ihre faszinative Aura entfaltete. Sie war Grundlage der Arbeit eines engagierten Intellektuellen, Grundlage der Entschlossenheit, mit der das Projekt einer Kritischen Pädagogik vorangetrieben wurde. Spürbar war aber auch die Ergriffenheit von jenem militanten Optimismus, von dem Ernst Bloch spricht, und ohne den kritisch-eingreifende Veränderung nicht möglich ist. Eine gewaltige Portion Utopie war diesem Denken beigemischt, die erbärmliche Realität zu akzeptieren wäre einer Kapitulation gleichgekommen. So war der "Wachtraum von der besseren Welt"2 für Hans-Jochen Gamm Lebenselixier, Grund, seine intellektuelle Maulwurfsarbeit konsequent fortzuführen, obwohl doch die Verhältnisse eine bessere Welt beständig zu dementieren scheinen.

Deutsche Zeitgeschichte ist in diesem Leben konzentriert, erstreckt es sich doch von der Weimarer Republik über die Nazi-Diktatur, die DDR bis zur BRD. 1925 wird Gamm in Mecklenburg geboren. Er wächst in ärmlichen Verhältnissen auf, kommt dort früh mit sozialistischen Gedanken in Berührung. Wie für Millionen Jugendlicher seiner Zeit ist sein Weg durch das Netz faschistischer Organisationen vorgegeben: HJ, Reichsarbeitsdienst (RAD), Wehrmacht. Der 20-Jährige gerät in polnische Kriegsgefangenschaft, erkrankt 1946 schwer und kann nur durch den beherzten Eingriff eines polnischen Arztes gerettet werden. Ein Besuch der KZ-Gedenkstätte Auschwitz im Herbst 1949, nachträglich als "Geschenk" bezeichnet, öffnet die Augen über die "unabsehbare Schuld" der Deutschen, offenbart schlagartig das Vernichtungspotential und die Grausamkeit des Faschismus. In Gamms späteren Forschungsarbeiten Der braune Kult (1962), Führung und Verführung (1964), Pädagogische Studien zum Problem der Judenfeindschaft (1966) wird diese Erfahrung explizit der Bearbeitung zugeführt, doch begleitet das Thema Faschismus durchgängig den weiteren Lebensweg.

Nach dem Krieg studiert Gamm zunächst Theologie und Philosophie. Das Studium der Sozialpsychologie und Pädagogik ist eine direkte Konsequenz des in Auschwitz Gesehenen. Im Anschluss arbeitet Gamm als Lehrer und Dozent. Nach seiner Tätigkeit an der Pädagogischen Hochschule Oldenburg als Professor für Allgemeine Pädagogik (1961 - 1967) erfolgt 1967 ein Ruf an die TH Darmstadt (1967 - 1993), an der er im Rahmen eines erstmaligen Ordinariats für Allgemeine Pädagogik das Institut für Pädagogik aufbaut, an dem eine einzigartige Ausformulierung Kritischer Pädagogik und Bildungstheorie erfolgt.

Pädagogik als humanes Erkenntnissystem aufzubauen und gemäß sich verändernden gesellschaftlichen und politischen Bedingungen weiterzuentwickeln - dies war ein zentrales Lebensprojekt Hans-Jochen Gamms. In diesem Kontext entstand ein Oeuvre, das Pädagogik nicht etwa als geschlossenes Lehrgebäude, sondern als grundlegendes Prinzip der Analyse und Veränderung einer unzulänglichen Wirklichkeit des Menschen entwickelt. Dieses Projekt ist auf die Erforschung der Bedingungen individueller und kollektiver Emanzipation sowie die Ermittlung der Gründe ihrer nachhaltigen Verhinderung gerichtet. Grundlagenarbeiten, in deren pädagogischem Kern Materialismus und Humanismus eine unlösbare Verbindung eingehen, markieren das Lebensprojekt: Aggression und Friedensfähigkeit in Deutschland (1968), Kritische Schule (1970), Das Elend der spätbürgerlichen Pädagogik (1972), Allgemeine Pädagogik (1979), Das pädagogische Erbe Goethes (1980), Materialistisches Denken und pädagogisches Handeln (1983), Pädagogische Ethik (1988), Pädagogik und Poesie (1991), Standhalten im Dasein (1993), Deutsche Identität in Europa (2001), Lernen mit Comenius (2008).

Faschistogene Neurose, Nacherziehung und friedenspädagogisches Engagement

Die Verstrickung seiner Generation in den Nazismus ist für Gamm eine zentrale Bezugsquelle der Forschungstätigkeit. Nach der Barbarei von Auschwitz ringt er um ein Bewusstsein, das die Verantwortung der eigenen Generation für dieses Verbrechen wahrnimmt, ihre Verstrickung in die Barbarei als ein Problem erkennt, das durch Überprüfung der eigenen Identität und die Anstrengung der Erkenntnis systematisch bearbeitet werden muss. Als "Nacherziehung" muss dieser schmerzhafte Vorgang der geistigen Befreiung aus den Verengungen der faschistischen Erziehung in Eigenregie organisiert werden, er erstreckt sich auch auf die wissenschaftliche Tätigkeit, zieht die theoretische Aufarbeitung der Entstehung, der Konsolidierung und der Organisation des faschistischen Herrschaftssystems nach sich. Weil der Erfolg des Faschismus ohne die nachhaltige Besetzung der Subjektivität, des Bewusstseins, der Träume der Menschen nicht möglich gewesen wäre, enthält Faschismustheorie die pädagogische Dimension als grundlegende Ebene. Eine bloße Einordnung des Phänomens Faschismus in die Geschichte wäre kontraproduktiv für eine Nacherziehung, vielmehr muss es um den Versuch gehen, die "faschistogene Neurose" systematisch aufzuarbeiten, die Abwehr und die Blockaden hinsichtlich der vollen EURnehmung der Wirklichkeit zu überwinden. Aufgrund fehlender gesellschaftlicher Realisierungsmöglichkeiten wird dieses Unterfangen weit hinter seinem Anspruch zurückbleiben, da der Aufbau des Feindbildes Sozialismus im Kalten Krieg die psychischen Energien vom Projekt einer intergenerativen Aufarbeitung des Faschismus abzieht, auch die studentische Revolte bleibt diesbezüglich nur ein Strohfeuer.

Den in der Negativen Dialektik Adornos aus der Erfahrung des deutschen Faschismus abgeleiteten kategorischen Imperativ einer im Denken und Handeln der Menschen zu organisierenden Verhinderung erneuter Barbarei öffnet Gamm für die Konzeption einer zukunftsrelevanten humanistischen Pädagogik, deren primäre Intention in der Sensitivierung gegenüber den gegenwärtigen Formen von Ethnozentrismus und Rassismus liegt, die die "Fundamentallektion" der braunen Herrschaft mit Blick auf die Zukunft begreift, um gegenüber sich neu abzeichnenden barbarischen Tendenzen Widerstandsfähigkeit aufzubauen. Ergänzt wird dieses antifaschistische Engagement durch eigene Beiträge zur kritischen Friedenspädagogik, durch Unterstützung der Pädagogen-Friedenskongresse im Kontext der atomaren Aufrüstung der NATO und durch ein mehrjähriges friedenspädagogisches Projekt zwischen der TH Darmstadt und der Humboldt-Universität Berlin (1988 - 1991). Die Verhinderung einer selbständigen Entwicklung der DDR nach 1989 und die ›Abwicklung‹ der hier verorteten Erziehungswissenschaft empfand Gamm als ungeheuerlichen Skandal. Seine Kritik an autoritären Sozialismusformen, derentwegen er die DDR 1951 verließ, konnte seine sozialistische Einstellung jedoch nicht beeinträchtigen. 1989, unter dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse in der DDR, mahnt er den Neubeginn "sozialistischer Theoriebildung" an.

Der geschichtsmaterialistische Ansatz

Anknüpfend an die europäische Pädagogik-Tradition entwickelt Gamm das Prinzip radikaler "pädagogischer Parteilichkeit", das in dem unbedingten Willen gründet, Mündigkeit in der Subjektwerdung des Menschen auch gegen den Druck zentrifugaler und entsolidarisierender Verhältnisse freizusetzen. Obwohl Pädagogik doch einmal Anwältin des Kindes gegenüber dem gesellschaftlichen Verfügungsdruck sein wollte, lässt sie sich aus ihrer Verantwortung für die kommende Generation "vertreiben", es ist dieser Sachverhalt, den Gamm schon zu Beginn der 1970er Jahre als "Elend der spätbürgerlichen Pädagogik" diagnostiziert. Diesem ist freilich nicht mit einer bloßen Deklamation hehrer Ziele beizukommen. Idealistische Parteinahme für das Kind allein ist machtlos. Radikal verstandene Parteilichkeit ist auf ein Instrumentarium verwiesen, das die Bedingungen der Wirklichkeit von Bildung und Erziehung zu erschließen in der Lage ist, das Aufschluss gibt über die gesellschaftlichen Restriktionen individueller und kollektiver Mündigkeit in der Subjektwerdung. Der Geschichtsmaterialismus liefert diesen Schlüssel. Gamm kommt das große Verdienst zu, das Materialismus-Konzept systematisch in die Pädagogik eingeführt zu haben. Materialismus und Pädagogik markieren für ihn das grundlegende "Thema der Menschheitserziehung". Der Bruch mit der Tradition geisteswissenschaftlicher Pädagogik inklusive ihrer idealistisch aufgeblähten pädagogischen Aussagen ist damit endgültig vollzogen. Die Attraktivität des Geschichtsmaterialismus für pädagogisches Denken und Handeln liegt in seiner Fähigkeit, den "naiven politischen Systembezug" der Pädagogik zu überwinden, indem er Erziehung und Bildung in die realen gesamtgesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsstrukturen einbettet, in denen sie verortet sind. Materialistische Analysen im pädagogischen Handlungsfeld können so die Direktiven von Macht und Hegemonie ermitteln, denen Erziehung und Bildung ausgesetzt sind. Auch wenn Kritische Pädagogik in den 1960er und 1970er Jahren ihre Hochzeit hatte, führte die Anstößigkeit dieser Theorie zu heftigen Anfeindungen. Die Denunzierung Gamms als dogmatischer Marxist war nicht nur Folge der Ausarbeitung einer materialistischen Pädagogik. Mit dem Plädoyer für eine volle Anerkennung der DDR und der Ablehnung ihrer totalitarismustheoretischen Gleichsetzung mit dem Nazismus sowie dem friedenspolitischen Engagement machte man sich in der aufgeheizten Stimmung des Kalten Kriegs kaum Freunde. Nur mit den Tugenden des Standhaltens und der Zivilcourage war der Druck von außen zu bewältigen.

Die Pädagogik Hans-Jochen Gamms weist eine Verknüpfung von Geschichtsmaterialismus, Kritischer Theorie und Psychoanalyse auf. Die Kritik der Politischen Ökonomie bildet dabei ein entscheidendes Rahmenkonzept, um die herrschaftlichen Direktiven von Erziehung und Bildung zu ermitteln. Materialistische Pädagogik würde sich jedoch depotenzieren, verzichtete sie auf die Anreicherung durch die bürgerlich-neuzeitliche Pädagogik, welche ein unerschöpfliches, geschichtlich bislang unerreichtes Arsenal pädagogischer Ideen darstellt. Ihre Einholung erhöht das kritische Potential der Reflexion gegenwärtiger Bildungs- und Erziehungsfragen. In einen kritischen Bezugsrahmen gestellt, können die emanzipatorischen Gehalte der Theorien Comenius', Pestalozzis, Goethes, Schillers, Herders, Humboldts, Schleiermachers usw. neu entbunden werden. Als humanes Erkenntnissystem greift Pädagogik über den begrenzten Reflexions- und Handlungshorizont der Disziplin Erziehungswissenschaft hinaus, die in ihrem unhistorischen Empirismus die emanzipative Sprengkraft früh- und hochbürgerlicher Pädagogik nicht mehr zu erkennen vermag bzw. erkennen will. Mit diesem Zugriff auf die Gesellschaft und ausgestattet mit den Studien der Kritischen Theorie und der Tiefenpsychologie, werden pädagogisches Denken und Handeln neu gefasst, Materialismus und Idealismus finden so in Gamms Pädagogik zu einer kritischen, handlungserschließenden Kombination.

Permanenz der Emanzipation und Mündigkeit

Der Geschichtsmaterialismus liefert nicht nur das Instrument der Analyse und Kritik, er hilft zudem einem radikalen Humanismus auf, der für pädagogisches Denken und Handeln konstitutiv ist, ist doch sein leitendes Motiv die Aufhebung eines unwürdigen Zustandes des Menschen, der weit hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt. Es ist der geschichtliche Skandal der Unterwerfung unter einen fremden Zweck, der das humane Entwicklungspotenzial des Menschen blockiert. Dieser Skandal provoziert die Impulse einer emanzipativen Veränderung der Gesellschaft, um das allseitige Wesen des Menschen zu verwirklichen. Die Freisetzung der Entwicklungsmöglichkeiten einer Gesellschaft bedarf der kollektiven Mündigkeit, die auf individuellen Prozessen des Mündigwerdens aufruht.

Das Problem einer permanenten Emanzipation ist damit auf die erziehungswissenschaftliche Agenda gesetzt. Mündigkeit als Perspektive von Emanzipation umreißt den Auftrag pädagogischen Handelns, doch kennzeichnet Mündigkeit als Begriff nichts Statisches, keinen fixierbaren Punkt in der Entwicklung von Kindern, sondern eine Anstrengung des Subjekts, die sich im gesamten Lebenslauf durchhalten muss. Emanzipation ist auf Permanenz gestellt, da Mündigkeit, die sich nicht mehr in der Auseinandersetzung mit ihren Anfechtungen bewährt, verfällt. Ein tief greifender Prozess der "Selbstermächtigung" ist erforderlich, um nicht nur die Loslösung von personaler Autorität, sondern auch die Freigabe aus dem eng gestrickten Netzwerk raffinierter gesellschaftlicher Verführungsstrategien zu ermöglichen. Primär richtet sich dieser Prozess auf die subtilen Verführungsmechanismen, die in zirkulierenden Ideologien, in den Botschaften der Kulturindustrie, in den Versprechungen des Konsums, in ästhetisch frisierten Waren installiert sind. In einem pädagogisch angereicherten Emanzipationsprojekt geht es um die "Emanzipation des lernenden Menschen", demzufolge ist die Loslösung immer schon Voraussetzung und nicht nur Resultat von Bildung. Nur in einem auf Permanenz gestellten Prozess des Mündigwerdens können die ästhetischen und geistigen Kräfte gegen das Verführungspotenzial des kapitalistischen Warenmarktes entfaltet werden, ein Prozess, mit dem von früher Kindheit an begonnen werden muss, werden Kinder doch schon von der Wiege an zu zahlungskräftigen Kunden zugerichtet. Emanzipation voranzutreiben bedeutet, pädagogisch-politische Befreiungsprozesse von Gruppen in Gang zu setzen, das Individuum sozial und reflexionsfähig zu machen und ihm die Dialektik von Individuum und Gesellschaft zu erschließen. Emanzipation in dieser Perspektive bleibt nicht bei der Einübung in Diskurstugenden stehen, sondern schließt die Befähigung des lernenden Menschen ein, den Prozess seiner Selbstentfremdung kompromisslos zu analysieren. Mit wachsender Einsicht in die korrumpierenden Wirkungen des Konsums und die entzivilisierenden Tendenzen des sozialdarwinistischen Neoliberalismus wird der pädagogische Emanzipationsbegriff Gamms insofern immer zukunftsweisender, als er die Fähigkeit zur EURnehmung und Analyse der Selbstentfremdung mit dem Aufbau soziopolitischer, kollektiver Lernprozesse systematisch verknüpft.

Intergeneratives Verhältnis und die Vermittlung von Hoffnung

Die materialistische Kritik der gesellschaftlich veranlassten Erziehungsverhältnisse ist für sich noch nicht in der Lage, eine Pädagogik zu konstituieren, da sie lediglich die Ausgangsbedingungen pädagogischen Handelns von den gesellschaftlichen Reproduktionszwängen her beleuchtet und damit die Erziehungswissenschaft vor idealistischen Fehlschlüssen bewahrt. Auf dieser Grundlage können die in den pädagogischen Beziehungen immer auch existierenden eigengesetzlichen Momente ermittelt werden, aus denen etwas qualitativ Neues entstehen kann, etwas, das sich dem gesellschaftlichen Normierungsdruck entzieht. Der von Gamm entwickelte Begriff des "intergenerativen Verhältnisses" stellt daher eine Zentralkategorie materialistischer Pädagogik dar. Die "intergenerative Formung" ist zunächst ein gesellschaftliches Verhältnis, eingebunden in die Funktion der Wiederherstellung der sozialen Bedingungen. Aber ihr Wesen ist über jene nicht angemessen bestimmbar. Dass die Beziehung zwischen den Generationen als ein Verhältnis bezeichnet wird, soll zunächst darauf hinweisen, dass Generationen zueinander nicht einfach nur in einer punktuellen, zufälligen Weise miteinander in Kontakt treten, sondern dass dieser Kontakt zwischen den Generationen gesellschaftlich bestimmt ist. Wie sich das Verhältnis zwischen den Generationen gestaltet, unterliegt jeweils konkreten gesellschaftlichen Bedingungen, es erfüllt eine gesellschaftliche Funktion, die für die Existenz der Gesellschaft unabdingbar ist.

In den eigengesetzlichen Qualitäten des Generationenverhältnisses, in den in ihm enthaltenen Beziehungen, Konflikten und Friktionen, liegt eine nicht zu unterschätzende selbständige Potentialität, lässt es sich doch nicht auf das Prinzip des Tausches reduzieren. Insbesondere im pädagogischen Verhältnis existiert die Maxime, dem Menschen "um seiner selbst Willen" aufzuhelfen. Neue kommunikative Elemente sind hier entwickelbar, Elemente, die sich der Verdinglichung entziehen: wechselseitige Anerkennung, vertrauensvolle Atmosphäre, intergenerativer Austausch von Erfahrungen, sympathetische Beziehungsverhältnisse usw. Kritik bleibt auch im Bereich praktischer Pädagogik ein grundlegender Bezugspunkt, doch reicht sie alleine nicht hin, um das Subjekt zu einem selbstbestimmten Handeln zu befähigen. Kritikfähigkeit als Subjekteigenschaft ist zwar die Bedingung dafür, dass der Mensch in der Lage ist, sein Selbst- und Weltverständnis weiter zu entwickeln. Doch muss Erziehung auch andere Momente enthalten, die dieser Fähigkeit erst eine lebendige Basis in den Subjekten selbst zur Verfügung stellt, ohne eine "Konsolidierung des Subjekts", so Gamm, führte Kritik zu Verzweiflung und Resignation, das für das Überleben erforderliche Weltvertrauen bliebe unentfaltet, der soziale Optimismus, der das Subjekt erst instand setzte, in der Gesellschaft handlungsfähig zu werden, würde zerstört. Die Verneinung einer nur auf negative Kritik gerichteten Pädagogik ist in dieser Einsicht begründet: Pädagogik ist über Negation alleine nicht zu begründen.

Es gibt kein Moratorium für pädagogisches Handeln, ist es doch konfrontiert mit lebenden Menschen, die nicht vertröstet werden können auf eine geschichtlich noch fern liegende Utopie. Immer geht es in der Pädagogik auch um die basale Festigung der heranwachsenden Persönlichkeit, die von den zentrifugalen Wirkungen der Gesellschaft beständig bedroht ist. Die Selbstermächtigung des heranwachsenden Menschen ist das Projekt von Pädagogik, ihn zu befähigen standzuhalten, widerstandsfähig zu bleiben und sich zugleich die Hoffnung auf ein erfülltes Leben in einer entfremdeten Gesellschaft nicht abhandeln zu lassen. Ungeachtet ihrer gesellschaftlichen Funktion steht Pädagogik in der Perspektive prinzipieller Hoffnung, sie vermag ihrer Verantwortung nicht nachzukommen, wenn sie nicht von dieser Perspektive her angelegt wird. Wann immer es gelingt, einen Heranwachsenden auf die Spur der Mündigkeit zu setzen, hat Pädagogik ein Stück weit Humanität realisiert, eine Revolution vollbracht.

Humanes Erkenntnissystem und Pädagogische Ästhetik

Im Zusammenhang gegenwärtiger gesellschaftlicher Entwicklungstendenzen wird die bleibende Relevanz einer Pädagogik dieses Zuschnitts schlagartig deutlich. Mehr denn je sind wir in einer zentrifugal wirkenden, auf kalte Tauschakte reduzierten Gesellschaft auf eine Pädagogik angewiesen, die gestaltend auf die Vorgänge der Subjektwerdung Einfluss nehmen muss. Es gilt, die in der Erziehungswissenschaft verloren gegangene Perspektive der Verantwortung für die zukünftige Generation nachdrücklich zurückzugewinnen, durch unbeirrbare Kritik, durch unbedingte Parteinahme, mit einem entschlossenen Optimismus. Dem von Gamm zu Beginn der 1990er Jahre konzipierten Projekt einer Pädagogischen Ästhetik wird dabei eine Schlüsselstellung zukommen. Wo die "hochgradige Außensteuerung des Geschmacks" die Abstumpfung der Sinne und des Bewusstseins und damit die "ästhetische Verkümmerung" der Gesellschaft bewirkt, muss Pädagogik ihre ästhetischen Komponenten zum Zwecke der Freisetzung von Bewusstwerdungsprozessen verstärken. Denn an der Frage der Entfaltung einer "emanzipativen Sinnlichkeit" durch Bildung entscheidet sich, in welchem Grad Entfremdung wahrnehmbar wird und sinnlich-geistige Widerstandsfähigkeit gegen die herrschaftliche Okkupation des Bewusstseins mobilisiert werden kann.

Hans-Jochen Gamm war sicherlich einer der letzten großen Gelehrten, der Pädagogik in der Tiefe und Breite ihres Begriffs zu entwickeln und zu vermitteln wusste. Sein Tod stellt einen unschätzbaren Verlust dar. Das bloße Verharren in Trauer jedoch wäre dem vorwärtstreibenden Denken Hans-Jochen Gamms zuwidergelaufen, das immer wieder dazu antrieb, den angesichts vielfältiger Rückschläge nicht ausbleibenden Resignationstendenzen die eigene Widerstandsfähigkeit entgegenzusetzen. Es ist das Zähe, das Widerständige im Lebenswerk von Hans-Jochen Gamm, das in der Trauer noch den Mut vermittelt, der über den Tod hinausweist. Dieses Lebenswerk gilt es gegenläufig zu vorherrschenden Trends widerständig weiterzuentwickeln.

Literatur:

Hans-Jochen Gamm, 2011: Pädagogik als humanes Erkenntnissystem. Das Materialismuskonzept in der Erziehungswissenschaft, Baltmannsweiler. Das posthum erschienene Buch enthält eine Auswahl der Schriften des Autors. Titel und Auswahl wurden mit ihm noch zu Lebzeiten abgesprochen

Anmerkungen

1) Basis dieses Beitrages ist ein Aufsatz in Pädagogik, H. 1, 2005, der erheblich verändert bzw. erweitert wurde.

2) Alle in Anführungszeichen gesetzten Begriffe und Formulierungen kennzeichnen das originale Begriffsinstrumentarium Hans-Jochen Gamms.


Armin Bernhard ist Professor an der Universität Duisburg-Essen am Essener Standort. Seine Schwerpunkte liegen in den Bereichen Kritische Erziehungs- und Bildungstheorie, Pädagogik und globale Probleme sowie Demokratische Reformpädagogik.

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