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Klaus Holzkamp

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Die Akte Abendroth

22.05.2011: Der unliebsame Linke als Spitzelobjekt

  
 

Forum Wissenschaft 1/2011; Foto: Thomas Bethge – fotolia.com

Wie der damals in der Bundesrepublik frei agierende US-amerikanische Geheimdienst Counter Intelligence Corps, aber auch einheimische Zuträger, Wolfgang Abendroth zu zeichnen suchen, gibt ein plastisches Bild der 1950er Jahre und der Angst vor jeglicher Friedensbewegtheit ab. Erich Schmidt-Eenboom stellt die Geheimdienst-Skizzen vor.

Dem Vorwurf, die Friedensbewegung sei im Kern eine ›Fünfte Kolonne‹ des Ostblocks gewesen, wird von interessierter Seite auch Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges gern Nahrung gegeben. Seit zwölf Jahren läuft die Auseinandersetzung darüber, ob einer der bedeutendsten marxistischen Wissenschaftler der Bundesrepublik, der Marburger Hochschullehrer Wolfgang Abendroth, mindestens teilweise in Absprache mit dem SED-Regime handelte. Am 7. April 1998 veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Zeitung einen Artikel von Wolfgang Kraushaar über "Unsere unterwanderten Jahre - Die barbarische und gar nicht schöne Infiltration der Studentenbewegung durch die Organe der Staatssicherheit". Kraushaar versucht hier den Nachweis zu führen, wie "die SED versuchte, [...] die Außerparlamentarische Opposition (Apo) und insbesondere deren Motor, den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) für ihre Zwecke zu benutzen". Dabei habe "die Gruppe um den Marburger Politikwissenschaftler Professor Wolfgang Abendroth" eine "besondere Rolle" gespielt. Als Beleg diente dem Politologen vom Hamburger Institut für Sozialforschung ein fünfseitiges Dokument vom 18. Juli 1967 über viertägige Gespräche mit Abendroth im Juli 1967 über die Gründung einer sozialistischen Partei in der Bundesrepublik. Jochen Staadt legte am 20. Mai 1998 in der FAZ mit dem Vorwurf nach, Abendroth habe "spätestens seit Herbst 1967... innerhalb der westdeutschen Linken auf der Grundlage konkreter Absprachen mit dem SED-Politbüro" agiert. Frank Deppe wies wenig später in der Zeitschrift Sozialismus nach, dass es sich um eine gezielte Verfälschung von Abendroths Position handelte, der eine sozialistische Partei nach dem italienischen Vorbild der PSIUP wollte, eine "Zwischengruppe", die weder im Sinn der KPD war noch im Interesse der SED lag.1 Vor zwei Jahren hat Ulrich Schöler in der "Kritik einer Kampagne" endgültig mit dem Bild von Abendroth - auf den das Ministerium für Staatssicherheit übrigens einen Informellen Mitarbeiter angesetzt hatte - aufgeräumt, er sei ein ›willfähriger Erfüllungsgehilfe der DDR‹ gewesen.2

Unter Beobachtung

Der 1985 verstorbene Wolfgang Abendroth ist solchen Verdächtigungen nicht nur posthum ausgesetzt gewesen, sondern war seit 1952 Zielperson des amerikanischen Militärnachrichtendienstes Counter Intelligence Corps. Am 25. September 2010 hat die U.S. Army ihre Geheimdokumente über Wolfgang Abendroth offen gelegt. In der nun in der National Archives and Record Admistration (NARA) in Washington D.C. zugänglichen Akte liegen die Berichte des CIC von 1952 bis 1956. Es sind nur drei - insgesamt zehn Seiten -, und dennoch nicht ohne Brisanz.

Das jüngste Dokument des amerikanischen Militärnachrichtendienstes über Abendroth datiert vom 17. April 1956 und führt uns mitten in die geheimdienstlichen Aktivitäten zur Überwachung der Friedensbewegung. Als der renommierte Hochschullehrer am 22. März 1956 auf Einladung des bayerischen DGB-Landesvorstands in München auf einer von der sozialdemokratischen Jugendorganisation "Die Falken", von den Jungsozialisten, von den Naturfreunden und dem Sozialistischen Studentenbund getragenen Veranstaltung gegen die Wiederbewaffnung auftrat, ließ die in der Münchner McGraw-Kaserne ansässige 66th CIC Group das mit 1.000 jungen Gewerkschaftlern gut besuchte Treffen observieren. Ihr besonderes Augenmerk galt der dem eingeschleusten Agenten offensichtlich gut persönlich bekannten KPD-Delegation. Der Geheimdienstbericht vom 17. April 1956 fasste nämlich nicht nur die CIC-Erkenntnisse über den Sozialdemokraten Abendroth zusammen, sondern blätterte auch die Erkenntnisse über sechs führende Köpfe der 20 bis 25 Aktivisten umfassenden KPD-Gruppe auf. Die Geburtsdaten, Adressen und Positionen in der bayerischen KPD und FDJ von Rudolf Walentan, Christl Zellner, Karoline Sachsberger, Waltraud Hommel, Erna Müller und ihrem Ehemann Alexander werden ebenso penibel aufgeführt wie die Tatsache, dass der Gastredner vom regionalen DGB-Vorsitzenden Ludwig Koch eingeführt wurde.3

Abendroth war jedoch nicht nur dieser Veranstaltung wegen und einmalig ins Visier des CIC geraten, sondern seine systematische Ausspähung begann, nachdem er am 15. November 1950 durch die Mithilfe des hessischen Ministerpräsidenten August Zinn eine Professur für wissenschaftliche Politik an der Philosophischen Fakultät der Philipps-Universität in Marburg erhielt, die er bis zu seiner Emeritierung 1972 inne hatte.

Mit größtem Interesse verfolgten neben dem CIC die Polizei, ja selbst der amerikanische Hochkommissar (HICOC) und das Amt für Verfassungsschutz seine Aktivitäten als Professor für Politische Wissenschaften, leitet der CIC-Bericht vom 24. März 1952 ein. Dabei war Abendroth nicht einmal ein radikaler Gegner des Verfassungsschutzes, sondern forderte nur dessen intensive Kontrolle. Der Staatsrechtler hat 1970 den Grundkonflikt zwischen Rechtsstaatlichkeit und Geheimdiensthandeln thematisiert: "Seit sich der moderne Staat zum Rechtsstaat umgestaltet, ergeben sich aus dieser Existenz von Geheimdiensten besondere Probleme: Das rechtsstaatliche Prinzip der Bindung an Normen und öffentlicher Kontrolle widerspricht seinem Wesen nach diesem Betätigungsbereich des Staates. Er muss sich daher von vornherein darauf richten, die Geheimdiensttätigkeit durch Unterwerfung zu bändigen, mindestens aber durch einen deutlich abgeschirmten Bereich seiner eigenen Entfaltung zu beschränken".4

1952 jedoch operierte der amerikanische Geheimdienst CIC in der Bundesrepublik ohne jede Kontrolle durch die Adenauer-Regierung, ebenso wie die CIA. Der amerikanische Auslandsnachrichtendienst hatte zudem bis zum April 1956 die "Organisation Gehlen" unter seiner Kontrolle. Und auch die "Org" spionierte im Inland. Als ihr leitender Spionageabwehrspezialist Ludwig Albert im Sommer 1955 unter dem Verdacht festgenommen worden war, für den Osten zu arbeiten, durchsuchten Ermittler im Juli 1955 sein Büro in Neu-Isenburg. In ihrer Aufstellung der sichergestellten dienstlichen Unterlagen des Untersuchungshäftlings scheint auch eine "Akte Prof. Abendroth" auf. Genauer handelte es sich um zwei Blatt, die Albert den Akten zur Operation "Fadenkreuz" entnommen hatte, die der Schimäre nachjagte, die legendäre Widerstandsorganisation "Rote Kapelle" sei immer noch aktiv.5 Die Ausspähungsergebnisse wurden offensichtlich zunächst vor Ort gewonnnen, denn bis zu dessen Abschaltung am 31. August 1953 verfügte die auch für Verfassungsschutzaufgaben zuständige Generalvertretung L der Org in Karlsruhe mit "Werner Karsting" (Deckname) über einen V-Mann in Marburg.6

Die in der Org virulenten abstrusen Vermutungen über das Weiterleben der "Roten Kapelle" waren es auch, die das hessische Landesamt für Verfassungsschutz bei seiner Ausforschung Wolfgang Abendroths motivierten, sich im Frühjahr 1952 an die von der CIA finanzierte Spionage- und Terrororganisation "Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit" (KgU) zu wenden. Ein Regierungsrat Leyerer bat am 23. April 1952, nachdem er einen gerafften Lebenslauf des Marburger Lehrstuhlinhabers vorausgeschickt hatte, um Auskünfte über dessen Bruder, den Pianisten Max Abendroth ("ob Ost- oder Westberlin ist unbekannt"), und über mögliche Verwandtschaftsbeziehungen zum Leipziger Generalmusikdirektor Hermann Abendroth. Letzterer schien besonders verdächtig, weil er "wissentlich oder unwissentlich Verbindung zwischen Leuten der SDA7 in der Bundesrepublik und dem Demokratischen Kulturbund im Ostsektor Berlins herstellt. Über den Kulturbund laufen die Fäden weiter zur SMA [Sowjetische Militäradministration; der Verf.] in Karlshorst und zu der Präsidentin der sowjetdeutschen Notenbank, Greta Kuckhoff, die bemüht ist, in der Bundesrepublik aus linksradikalen Elementen die ›Rote Kapelle‹ wieder aufzubauen". Aus ihren Karteien konnte die KgU die Anfrage nicht beantworten. So setzte sie ihren erprobten Ermittler "Rudi" aus West-Berlin nach Leipzig in Marsch. Wegen der gebotenen Vorsicht, war es nicht viel, was er aus Gesprächen mit flüchtigen Kontakten Hermann Abendroths in Erfahrung bringen konnte. "Der Name Abendroth wird von der kommunistischen Propagandamaschine in jeder nur erdenklichen Form ausgenutzt ... Von Abendroth selbst, der etwa 70 Jahre alt ist, sind Schüler, die gelegentlich bei Konzerten unter Abendroth mitgewirkt haben, der Meinung, dass er seiner Ruhe wegen auf Grund seines fortgeschrittenen Alters bereit ist, diese Huldigungen über sich ergehen zu lassen. Ob Abendroth tatsächlich Parteimitglied ist, konnte nicht festgestellt werden. Desgleichen blieb die Frage etwaiger verwandtschaftlicher Beziehungen zu Max Abendroth in Berlin und Wolfgang Abendroth in Marburg ungeklärt, da es hier eines persönlichen Vorsprechens unter irgendeines Vorwandes bedurft hätte"8, formuliert der Auskunftsbericht der KgU an das LfV vom 3. August 1952 dreieinhalb Monate nach der LfV-Anfrage.

Mit der Org und dem hessischen Verfassungsschutz ist die Liste der nachrichtendienstlich tätigen Organisationen, die Abendroth ausspähten, noch nicht am Ende. Das Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen unterhielt einen eigenen von Wilhelm Bodens geführten Geheimdienst. Und das von Jakob Kaiser geführte Ministerium finanzierte eine antikommunistische Frontorganisation, den "Volksbund für Frieden und Freiheit e.V. (VFF)" - von 1951 bis 1956 mit 700.000 DM im Jahr. Der VFF war 1950 mit Unterstützung des CIC in Hamburg von Eberhard Taubert gegründet worden, dem Goebbels-Mitarbeiter, der das Drehbuch zu dem antisemitischen Hetzfilm "Der ewige Jude" geschrieben hatte. Der ehemalige Mitarbeiter im NS-Propagandaministerium Alfred Gielen arbeitete als Funktionär des VFF eng mit dem BND-Referatsleiter Heinz Felfe zusammen. In den Akten des Bundesarchivs in Koblenz findet sich ein siebenseitiger Bericht aus dem VFF vom 3. Dezember 1959 über die Gründung der "Aktion ungesühnte Nazijustiz". Diese Aktion, die in Karlsruhe in einer Wanderausstellung Dokumente über die NS-Vergangenheit von bundesdeutschen Richtern und Staatsanwälten präsentierte, war von dem Abendroth-Schüler Reinhard-M. Strecker ins Leben gerufen worden und wurde von seinem Lehrer und weiteren Prominenten wie dem Kirchenpräsidenten Martin Niemöller unterstützt.9

Beginn unter Kontrolle

Der erste Geheimdienstvorgang in der CIC-Akte bezog sich 1952 auf Abendroths erste Station in der Bundesrepublik. Nach seiner Flucht aus der DDR hatte er am 21. Dezember 1948 eine Stelle als ordentlicher Professor für öffentliches Recht und Politik an der Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft in Wilhelmshaven angetreten. Konkret ging es um seine Anfang 1952 geplante erneute Berufung als einem von acht Richtern an den Staatsgerichtshof von Bremen. Die Deutsche Partei leistete erfolglos Widerstand dagegen. Ihr Vorsitzender im Bremer Senat, Herbert Schneider, hatte sich in einem Brief an den sozialdemokratischen Senatspräsidenten August Hagedorn massiv gegen Abendroth ausgesprochen, nachdem die beiden KP-Mitglieder aufgrund der Wahlergebnisse vom Oktober 1951 ohnehin ausschieden. Er warf ihm vor, Mitglied der kommunistischen Untergrundbewegung gewesen zu sein und nach dem Desertieren aus der Wehrmacht als Partisan gegen deutsche Soldaten gekämpft zu haben.10

Dieser Vorgang war für das CIC Anlass, die Akte Abendroth anzulegen. Von den Briten in der Kriegsgefangenschaft in Wintonpark noch als geeignet eingeschätzt, nach seiner Rückkehr nach Deutschland am Aufbau der Demokratie mitzuwirken, trägt bereits das erste Aktenstück des amerikanischen Militärnachrichtendienstes vom Frühjahr 1952 das Etikett "Subversive Aktivitäten". Holzschnittartig, aber nahezu korrekt wird Abendroths Kurzvita von der Verurteilung zu sieben Jahren Gefängnis wegen Hochverrats 1937 über die 1942 anschließende Kommandierung zum Strafbataillon 999, über die Desertion und Kriegsgefangenschaft bis zu seinem Werdegang in der DDR - 1946 Beamter im brandenburgischen Justizministerium, 1947 als Oberjustizrat im Berliner Justizministerium im Umfeld von Hilde Benjamin, verbunden mit einer Professur in Leipzig, 1948 Hochschullehrer in Jena - und sein Wechsel in den Westen nach Wilhelmshaven an die Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft beschrieben. Nur nahezu korrekt, weil Wilhelmshaven für den US-Geheimdienstmitarbeiter am Rhein liegt, und nur nahezu korrekt, weil der Bruch mit der DDR und die Flucht wie ein gewöhnlicher Umzug erscheinen.

Was ihn dem CIC nun in Marburg verdächtig machte, war die Zuwendung zu einem kleinen Studentenzirkel - in der CIC-Einschätzung radikale Marxisten -, nur fünf bis zehn in seinem ersten Semester, aber eine ständig wachsende Zahl, denn für den SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) hielt der Dozent auch argwöhnisch beobachtete private Seminare ab.11 Ins Visier geriet dabei auch eine Veranstaltung der Freien Demokratischen Hochschulgruppe gegen die Wiederbewaffnung im Februar 1952.

Das SPD-Mitglied Abendroth selbst arbeite sorgfältig daran, sich keine Blöße zu geben, wo es um Sympathien für den Kommunismus gehe, urteilte der US-Geheimdienst. Aber als Beleg für seine linke Orientierung sah das CIC seine Personalpolitik. Dr. Rüdiger Altmann, Jahrgang 1922, arbeitete als sein Assistent, und der sei von 1945 bis 1947 ein Spitzenagent roter Studentengruppen in Marburg gewesen. Als Sekretärin beschäftigte Abendroth Doris Krauss, die geschiedene Frau von Professor Dr. Werner Krauss, der fünf Jahre zuvor in die DDR gegangen war. Der Romanist, Jahrgang 1900, war im November 1942 als Mitglied der Roten Kapelle verhaftet und am 18. Januar 1943 wegen Beihilfe zum Hochverrat vom Reichskriegsgericht zum Tod verurteilt worden. Das Todesurteil wurde nicht vollstreckt, sondern mit Hilfe psychiatrischer Gutachten und der Fürsprache einflussreicher Wissenschaftler im September 1944 zu fünf Jahren Zuchthaus abgemildert. Das Kriegsende erlebte er in der Tschechoslowakei. Von dort kehrte er nach Marburg zurück. 1946 erhielt er an der Philipps-Universität eine Professur. Ein Jahr später nahm er einen Ruf als Ordinarius an die Universität Leipzig an und wurde Mitglied des Parteivorstands der SED.12 Überdies honorierte Abendroth das frühere KP-Mitglied Dr. Käthe Fuchs im Februar 1952 zeitweise als wissenschaftliche Mitarbeiterin, die in diesem Jahr in Marburg ihre Doktorarbeit abgeschlossen hatte.13 Stichhaltig waren diese vermeintlichen Beweise dafür, dass sich Abendroth mit Kommunisten umgab, jedoch nicht. Rüdiger Altmann wechselte nach der Assistentenzeit bei Abendroth zu einer Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung und wurde politischer Berater von CDU-Kanzler Ludwig Erhard. Doris Krauss hatte ihren Mann geheiratet, um ihn vor der Todesstrafe zu bewahren. Die Beziehung überlebte das Ende des Dritten Reichs auch deshalb nicht, weil die alteingesessene Marburgerin die politischen Überzeugungen ihres Ehegatten nicht teilte.14

1952 geriet auch eine internationale Verbindung Abendroths unter Beobachtung. Der amerikanische Wissenschaftler John Raatjes, geboren am 24. Mai 1923 in Chicago, traf am 23. Oktober 1952 zusammen mit seiner um acht Jahre jüngeren Ehefrau Rene in Marburg ein. Das Paar bezog Quartier in einer schon vom Namen her verdächtigen Adresse, am Ketzerbach 61. Laut einer vertraulichen Information an das CIC schickte Abendroth Verbindungsleute zu ihm. Raatjes - brachte der US-Dienst in Erfahrung - plane in nächster Zukunft mit dem Motorrad nach Frankreich zu fahren und wolle sogar nach Ägypten gehen. Die Informationsquelle des CIC verdächtigte ihn, ein kommunistischer Kurier zu sein. Das Counter Intelligence Corps leitete daraufhin eine Untersuchung ein und versprach einen baldigen Endbericht, der in der Akte Abendroth leider fehlt.

Der verdächtigte Gastwissenschaftler hatte bis dahin keinen Anlass für einen solchen Verdacht gegeben. Von 1942 an diente der junge Stahlarbeiter der U.S. Army als Ausbilder im Luftfahrzeugerkennungsdienst, schulte also Soldaten darin, eigene von feindlichen Flugzeugen zu unterscheiden. Nach Kriegsende schrieb er sich an der Roosevelt University ein, studierte ein Jahr in Zürich, beendete sein Studium erfolgreich in den Vereinigten Staaten und besuchte im Zuge seiner Doktorarbeit zwei deutsche Universitäten, darunter Marburg. Zum Verhängnis könnte ihm in der von Verfolgungswahn geprägten McCarthy-Ära geworden sein, dass er sich überhaupt mit dem Einfluss des Kommunismus auf die deutsche Politik im München der Räterepublik beschäftigte.15 Raatjes fiel der Verfolgung vermeintlicher Kommunisten in den USA nicht zum Opfer. Von 1959 bis zur Emeritierung 1975 lehrte er an der University of Illinois europäische Geschichte, vornehmlich die deutsche. Er starb am 24. Mai 2002 an seinem 79sten Geburtstag an einer Herzattacke.16

Zuträger-Gründe

Woher bezogen die CIC-Offiziere ihre Informationen über Wolfgang Abendroth, sein Personal, seine Aktivitäten und seine Gäste? An Feinden mangelte es ihm an der Lahn nicht. Der FDP-Bundestagsabgeordnete Ludwig Preiß bezeichnete ihn 1956 als "Mitbegründer der Lynchjustiz" der DDR, sein Marburger Kollege Prof. Dr. Ernst Heuß gar als einen "Schreibtischmörder". Quelle des CIC waren jedoch nicht diese offenen Feinde, sondern ein Pharisäer, und auch über dessen Identität gibt die Akte Auskunft. Es handelte sich um einen Kollegen aus der Professorenschaft der Universität, einen auch international höchst angesehenen dazu, der sich im Umfeld von Nathan Söderblom, dem Hauptinitiator des Weltkirchenrats, einen Namen gemacht hatte.

"Prof. D. Dr. Friedrich Heiler (1892-1967) lehrte an der damaligen evangelisch-theologischen Fakultät von 1920-1961 allgemeine und vergleichende Religionsgeschichte. Eine lebenslange Freundschaft verband ihn mit Nathan Söderblom, was ihn zu seinem ökumenischen Engagement führte, das er am liebsten zu einer Ökumene der Religionen ausgeweitet gesehen hätte. Durch seine große Monographie ›Das Gebet‹ (1917) wurde er weltberühmt, sein religionswissenschaftliches Werk vollendete er mit seinem Spätwerk ›Erscheinungsformen und Wesen der Religion‹ (1961) ... Als Ausgangs- und Mittelpunkt der Religionswissenschaft diente ihm die ›reine, naive Religion‹"17, stellt ihn uns eine Website der Universität Marburg vor. Nun darf diese Kurzbiographie um die Erkenntnis erweitert werden, dass Heiler auch ein bigotter Denunziant gewesen ist.

Er hatte Konflikte mit Abendroth, der die erste bei ihm geschriebene Dissertation gegen viele Widerstände durchsetzen musste, eine Doktorarbeit, die in Heilers wissenschaftlichem Revier wilderte, weil sich der Doktorand Ernst-August Suck mit dem Bund religiöser Sozialisten in der Weimarer Republik beschäftigte.18 Für den aktiven Widerstandskämpfer Abendroth war Heiler einer von jenen, die sich im Dritten Reich "totgestellt" hatten. Während der Zeit des Nationalsozialismus war Heiler, weil er nicht bereit war, den Arierparagraphen zu unterschreiben, an die Philosophische Fakultät der Universität Marburg zwangsversetzt worden19, doch darin hatte sich sein Widerstand auch schon erschöpft.

Der Professor, der mit der CDU-Abgeordneten Anne Marie Heiler - von 1949 bis 1953 im Deutschen Bundestag - verheiratet war, hatte seinen linken Kontrahenten jedoch nicht solcher Gegensätze wegen bespitzelt. Heiler war bereits seit 1948 ein als verlässlich eingeschätzter V-Mann des CIC, also lange bevor Abendroth an der Lahn eintraf. Damit ist auch evident, dass Abendroth nicht sein einziges Aufklärungsziel im universitären Umfeld war.

Der Nachlass des 1967 verstorbenen Religionsgelehrten liegt seit 1992 in der Universitätsbibliothek und wurde erst 2009 in dem Projekt "Ordnung und Sichtung des Nachlasses Friedrich Heiler (1892-1967)" erschlossen. Zu ihm gehört der Briefverkehr mit schätzungsweise 3.000 Korrespondenzpartnern, darunter Edmund Husserl und Theodor Heuss.20 Mit dem Wissen, dass Heiler ein Zuträger der amerikanischen Nachrichtendienste war, ist es vermutlich lohnend, seinen Schriftverkehr daraufhin zu untersuchen, was er an Vertraulichem erfuhr und was er in Erfahrung bringen wollte.

Eine Schlussbemerkung: Heutzutage als Friedensforscher von Nachrichtendiensten observiert und abgehört zu werden, ist ärgerlich und erschwert die Arbeit. Anfang der 1950er Jahre jedoch hatte die nachrichtendienstliche Beobachtung und die Einstufung als wichtiger Repräsentant der Friedensbewegung und sozialistischer Ideen lebensgefährlichen Charakter. In Hessen flog im September 1952 der Technische Dienst des Bundes Deutscher Jugend als getarnte stay-behind-Struktur des CIC auf. Die "Werwölfe" hatten den Auftrag, im Fall eines sowjetischen Angriffs Sabotageakte hinter den feindlichen Linien zu verüben, potenzielle Gegner militärischen Widerstands zu erfassen, zu beobachten und im Spannungsfall ohne Rechtsgrundlage zu ergreifen. Im Herbst 1952 wurden die Personalblätter von 15 KPD- und 80 SPD-Mitgliedern der im Ausbau befindlichen BDJ-Kartei ausgewertet. Die Ermittler kamen dabei zu der Erkenntnis: "Die Proskriptionsliste enthält diejenigen Personen, die beseitigt werden sollten".21

Auch in Wilhelmshaven besaß der BDJ eine Geschäftstelle, die bis 1952 von Karl Wilhelm Fricke geleitet wurde. Sie hatte sich laut einem Schreiben von Fricke an die "Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit" vom Februar 1952 der Aufklärung "über den linken und rechten Totalitarismus" verschrieben.22 Ob auch Wolfgang Abendroth von der Kreisführung des BDJ am Jadebusen als Exponent eines vermeintlich linken Totalitarismus eingestuft und auf eine Proskriptionsliste gesetzt wurde, geht aus keiner öffentlich zugänglichen Akte hervor.

Anmerkungen

1) Vgl. Deppe, Frank, 1998: "Die ›Methode Gauck‹. Zur Diskussion um Wolfgang Abendroth. Gespräch mit der Zeitschrift Sozialismus", in: Sozialismus 7-8/1998, 19ff.

2) Vgl. Schöler, Ulrich, 2008: Die DDR und Wolfgang Abendroth. Wolfgang Abendroth und die DDR, Hannover; siehe auch die Rezension von Deml, Jürgen, 2010: "Sozialistische Politik im Kalten Krieg. Wolfgang Abendroth und die SED", in: Sozialismus 2/2010, 62f

3) Vgl. REGION IV, 66th CIC GROUP vom 17.4.1956: "KPD Youth Commission (C)", in: National Archives and Record Administration (NARA), Washington D.C., Record Group 319 (Records of the Army Staff) Abendroth, Wolfgang

4) Abendroth, Wolfgang, 1970: "Vorwort", in: Damm, Diethelm: So arbeitet der Verfassungsschutz, Voltaire-Flugschrift Nr. 28, Berlin 1970, 5

5) Vgl. Aufstellung über die im Besitz von Albert befindlichen dienstlichen Unterlagen vom 13.7.1955, in: Bundesarchiv (BArch) Koblenz B 206/1977: Selbsttötung des BND-Mitarbeiters Ludwig Albert

6) Vgl. "30 (Gehlen) (40/Si) an 25 (Critchfield) (25.40/Si) vom 20.10.1953: Subject: List of Dropped Coworkers, Annex A: Coworkers Who Were Dropped Through no Fault of Theirs", in: National Archives and Record Administration Washington D.C. (NARA) Record Group 263 (Records of the CIA) Vogel, Erich, Box 133

7) = Sozialdemokratische Aktion, eine Linksabspaltung der SPD

8) Vgl. KgU-Bericht "Bie" vom 3.8.1952, in: BArch B 289 OA 36/887; den Schriftverkehr zwischen dem LfV und der KgU verdanke ich Enrico Heitzer, der zur KgU promoviert.

9) Vgl. Bevers, Jürgen, 2009: Der Mann hinter Adenauer, Berlin, 174f

10) Vgl. CIC: Abendroth, Wolfgang Professor vom 19.3.1952

11) Vgl. Abendroth, Wolfgang, 1981: Ein Leben in der Arbeiterbewegung. Gespräche aufgezeichnet von Barbara Dietrich und Joachim Perels, Frankfurt/M., 217

12) de.wikipedia.org/wiki/Werner_Krauss_(Romanist)

13) Vgl. Fuchs, Käthe, 1952: Georges Bernanos - ein moderner französischer Moralist. Studien zu seiner Kritik der modernen Gesellschaft, Dissertation, Marburg

14) Mitteilung von Dr. Friedrich-Martin Balzer, Marburg, an den Verfasser

15) 1959 erschien dazu eines seiner Hauptwerke: Raatjes, John: The role of communism during the Munich revolutionary period, November 1918-May 1919

16) Vgl. Chicago Tribune vom 14.6. 2002: John Raatjes, 79

17) Vgl. www.uni-marburg.de/fb05/heiler100506

18) Vgl. Abendroth, Wolfgang: Ein Leben in der Arbeiterbewegung, 215

19) Vgl. de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Heiler

20) Vgl. www.uni-marburg.de/de/bis/ueber_uns/ub/galerie/2009

21) Zitiert nach Müller, Leo A.: Gladio - das Erbe des Kalten Krieges, Reinbek 1991, 128

22) Vgl. BUND DEUTSCHER JUGEND: Kreisführung Wilhelmshaven an KAMPFGRUPPE GEGEN UNMENSCHLICHKEIT vom 5.2.1952, in: BArch B 289 OA 501/346; den Hinweis verdanke ich Enrico Heitzer.



Erich Schmidt-Eenboom ist Leiter des Forschungsinstituts für Friedenspolitik in Weilheim/Obb. und Autor zahlreicher Fachbücher und -artikel über Nachrichtendienste

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