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Klaus Holzkamp

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Die Piratenpartei

25.11.2010: Vision einer freien Wissensordnung

  
 

Forum Wissenschaft 4/2010; Foto: Thomas Plaßmann

Außenstehende halten die Piratenpartei für eine - manchmal etwas chaotisch erscheinende - Ein-Punkt-Partei für die Internetproblematik. Michael Paetau begründet hingegen, warum sie aus seiner Sicht einen zukunftsfähigen neuen Politiktypus für die post-industrielle Gesellschaft verkörpert.

Überraschende Erfolge der Piratenpartei bei den Europawahlen 2009, bei der Bundestagswahl 2009 und - wenngleich auf einem etwas niedrigeren Niveau - bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 2010 haben in der deutschen Parteienlandschaft für Irritation gesorgt. Obwohl als spleenige Nerds belächelt, als Graswurzelpartei mit ihrem angeblichen "One-Issue-Programme" als politische Eintagsfliege abgetan, hat man in der deutschen Öffentlichkeit mit Erstaunen eine bemerkenswerte Attraktion dieser jungen Partei vor allem bei jüngeren Wählern registriert. Die politische Konkurrenz begriff rasch, dass sie möglicherweise über längere Zeit ein politisches Themenfeld vernachlässigt hatte, das sich in Wählerstimmen quantifizieren ließ. Mit der Aufnahme der "Internetproblematik" in die Öffentlichkeitsarbeit, einer stärkeren Web-Präsenz, dem Einsatz von "social media" wie Twitter und Facebook in Wahlkämpfen und mit der Einrichtung einer Enquete-Kommission zur "Netzpolitik" hoffen die etablierten politischen Parteien nun seit einigen Monaten die vermeintlich vorübergehend fremdgehenden jungen Wähler wieder "einfangen" zu können.

Ob das so klappt, ist allerdings fraglich. Denn erstens ist die Entstehung der Piratenpartei kein regional isoliertes Phänomen, sondern ein weltweites. Und zweitens lassen sich ihre Aktivitäten vielen Verlautbarungen zum Trotz keineswegs auf "Netzpolitik" reduzieren. Man kann das Phänomen Piratenpartei nicht verstehen, ohne den Charakter der politischen Auseinandersetzung, in deren Verlauf sie sich gegründet hat, in seiner ganzen gesellschaftspolitischen Tragweite verstanden zu haben. Denn es geht keineswegs nur um die Verteidigung von Bürgerrechten im Internet und die Artikulation einer oppositionellen Position gegenüber der aktuellen Netzpolitik der EU und ihrer Mitgliedsregierungen, sondern um die grundlegende Frage, welche gesellschaftliche Wissensordnung sich in den aktuellen Auseinandersetzungen herausbilden wird und was das für die Gesellschaft insgesamt bedeutet.

Kampf um die Wissensordnung

Der soziale Konflikt, dem die Piratenpartei ihre Entstehung verdankt, lässt sich - will man es ganz kurz auf einen Nenner bringen - auf einen Abwehrkampf gegen eine Entwicklung zurück führen, die James Boyle1 in einem Aufsatz aus dem Jahr 2003 "The Second Enclosure" genannt hat. Mit dieser auf die historische Überführung von Gemeindeland in privaten Großgrundbesitz in England während der ursprünglichen kapitalistischen Akkumulation2 anspielenden Wortwahl bringt Boyle ziemlich treffsicher zum Ausdruck, worum es in der gegenwärtigen Auseinandersetzung um die Wissensordnung geht. Die Entwicklung der gesellschaftlichen Kommunikationsverhältnisse befindet sich an einem Kreuzweg, an dem entschieden wird, ob sich die proprietären Prinzipien auf der Basis marktwirtschaftlicher Regulierungen, basierend auf veralteten Modellvorstellungen einer Wissensordnung der Industriegesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, durchsetzen werden, oder - das wäre die andere Möglichkeit - ob sich eine gesellschaftliche Wissensformation herausbildet, in der die freie gemeinschaftliche Verfügung von Wissen vorherrscht und entsprechend politisch, juristisch und ökonomisch abgesichert wird.

Die historische Überführung der "Commons" bzw. der "Allmende" in privaten Großgrundbesitz während der ursprünglichen Akkumulation des 18. Jahrhunderts veränderte nicht nur die Besitz- und Eigentumsverhältnisse, sondern in deren Folge auch die gesamte Lebensweise der Menschen. Sozialbeziehungen aller Art wurden nun in einem Ausmaß durch die Logik des Marktes bestimmt, wie es vorher so nicht der Fall gewesen war. Sie wurde jetzt auch auf diejenigen sozialen Beziehungen zwischen den gesellschaftlichen Individuen ausgedehnt, die vorher noch am Prinzip der Gemeinschaftlichkeit orientiert waren. Wir wissen, dass mit der Durchsetzung des Kapitalismus die vereinzelten Abwehrkämpfe gegen die Zerstörung der "Commons" erfolglos blieben, letztlich aber in eine Bewegung einmündeten, die eine viel weitreichendere Utopie verfolgte, nämlich die Vision einer von Unterdrückung und Ausbeutung freien Gesellschaft: "An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist."3

Es ist sicherlich kein Zufall, wenn Eben Moglen im Jahre 2003 an das Kommunistische Manifest, aus dem dieses Zitat stammt, anknüpft, um in einer Remix-Version deutlich zu machen, dass es nicht nur um einen Abwehrkampf gegen die "second enclosure" geht, in dem althergebrachte Rechte oder Besitzstände verteidigt werden, sondern dass sich aus der antagonistischen Formulierung des Problems gleichzeitig eine gesellschaftspolitische Utopie herauskristallisiert hat, die ich hier als Utopie einer freien Wissensordnung bezeichnen möchte.

"A Spectre is haunting multinational capitalism - the spectre of free information. All the powers of ,globalism' have entered into an unholy alliance to exorzise this spectre: Microsoft and Disney, The World Trade Organization, the United States Congress and the European Commission. Where are the advocates of freedom in the new digital society who have not been decried as pirates, anarchists, communists? (...) Throughout the world the movement for free information announces the arrival of a new social structure, born of the transformation of bourgeois industrial society by the digital technology of its own invention."

Die Fronten und die Akteure in dieser Auseinandersetzung sind nicht immer deutlich fassbar.4 Vereinfacht könnte man auf der einen Seite Medienunternehmen und Rechteindustrie sehen, denen es vor allem darum geht, mit Wissen Geld zu verdienen. Diese betreiben dabei auch einen beträchtlichen Aufwand, dieses Ziel nicht nur politisch und juristisch, sondern auch technisch abzusichern (z.B. über Rights Control Systems - RCS - bzw. Digital Rights Management - DRM). Auf der anderen Seite ist seit den 80er Jahren eine Reihe von Initiativen entstanden, die gegen die Warenförmigkeit von Wissen eintreten und den offenen Zugang zu Wissen und Kulturgütern sowie deren freie Verwendung für kreative Prozesse fordern.

Es sind insbesondere die Unternehmen der Unterhaltungs- und Medienbranche, die im freien Fluss von Informationen einen Angriff auf die "freie Grundordnung der Gesellschaft" zu sehen glauben und "Daten-Piraterie" in einen Topf mit organisiertem Verbrechen, Terrorismus etc. werfen. Mit markigen Werbekampagnen gingen sie diesbezüglich in die Offensive und überschütten die Gesellschaft mit Massenanzeigen wegen Urheberrechtsverletzungen. An ihrer Seite haben sich regelrechte Verwertungsketten zwischen Rechteinhabern, Rechtsanwälten und Recherche-Unternehmen gebildet, so dass Holger Bleich in der Computer-Zeitschrift "c't" von einer organisierten "Abmahnindustrie" spricht, deren Aktivitäten zum großen Teil im Dunkeln liegen.5 Die Kreativen selbst, also die wirklichen Urheber der Werke, um deren Rechte hier gestritten wird, sehen sich in ihrer großen Mehrheit als diejenigen, die bei diesem Geschäft ohnehin leer ausgehen. Sie sehen in den Musikverlagen eine Art "Gatekeeper, die ihre Macht aus ihrer Kontrolle über die begrenzte Produktion, die knappe Sendezeit der Radios, die knappe Stellfläche in den Musikgeschäften, kurz über den Zugang zur Öffentlichkeit beziehen".6 Und diejenigen Künstler der Netzkultur, die mit Mashups, Remix und Collagen arbeiten, ein Genre, das in den vergangenen Jahren einen enormen Zuwachs erlebt hat, beklagen seit langem die hemmende Wirkung der restriktiven Rechtsvorschriften.

Die unterschiedlichen Initiativen, die zur Verteidigung des "freien Wissens" auf unterschiedlichen Feldern angetreten sind (etwa Creative Commons im Kultursektor oder die Free Software Foundation im Bereich der Softwareentwicklung) haben mit Gründung der Piratenpartei einen politischen Arm erhalten, der es ermöglicht, den Kampf um eine freie Wissensordnung nicht nur über die diversen anderen politischen Parteien, sondern nun auch wesentlich direkter in die Parlamente zu tragen. Der 2003 vorgenommenen Gründung der schwedischen Piratenpartei und ihrem Aufsehen erregenden Wahlerfolg bei der Wahl zum Europaparlament 20097 folgten ähnliche Parteigründungen in vielen anderen Ländern, die sich in diesem Jahr (2010) zur "Pirateparty International"8 zusammengeschlossen haben.

Das Festhalten an der Idee des gemeinschaftlichen Verfügungsrechts an Wissen und das Eintreten gegen seine Unterwerfung unter kapitalistische Verwertungsinteressen ist nicht der einzige, aber einer der zentralen Programmpunkte. Er ist gekoppelt mit der Ablehnung jeglicher Versuche, die Unterwerfung des Individuums über die fremdbestimmte Nutzung seiner personen- und verhaltensbezogenen Daten durch politische oder ökonomische Machtkartelle zuzulassen (z.B. Vorratsdatenspeicherung). Um dies zu verhindern, ist das Eintreten für informationelle Selbstbestimmung ein zentrales Element bei der Verteidigung bürgerlicher Freiheitsrechte. Doch auch auf diesem Feld verwandelt sich der Abwehrkampf in eine gesellschaftspolitische Offensive, in welcher der Begriff der Demokratie neu zu definieren versucht wird: Die Potenziale der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien sollen zum Nutzen erweiterter Mitwirkungsmöglichkeiten des Einzelnen verwendet werden, die anonymen Systeme der Macht transparent und somit der Einwirkungsmöglichkeit des einzelnen Bürgers zugänglich gemacht werden. Mit dem Begriff der "Liquid Democracy" greift die Partei ein vieldiskutiertes Konzept auf, das sie seit Mitte 2010 auch parteiintern praktiziert ("Liquid Feedback").

Der Angriff auf die Wissensallmende

Die seit Anfang der 80er Jahre aufgebauten Verteidigungslinien der sozialen Bewegung gegen die "Landnahme" im Bereich des Wissens lassen sich in zwei Gruppen einteilen: Die eine Gruppe beruft sich auf die ursprünglichen Ideale des Copyrights unter Akzeptanz des damit verbundenen Prinzips, mit Hilfe von monetären Gratifikationen einen Beitrag zur Stimulation kreativer Arbeit zu leisten. Die andere Gruppe beruft sich auf das Prinzip des "freien Wissens" als gemeinsames Erbe der Menschheit, was einen freien Zugang impliziert. Demgegenüber solle man sich an den "Commons" orientieren und jegliche Ansprüche an einem "geistigen Eigentum" inklusive des damit verbundenen Copyrights ablehnen.9

Divergierende Haltungen zu privaten Verwertungsinteressen lassen sich auch an zwei unterschiedlichen Prinzipien der offenen Softwareentwicklung festmachen: Am Prinzip der "Freien Software" (R. Stallman) und am "Open Source"-Prinzip (E. S. Raymond). Beide Linien orientieren sich an der Forderung nach einem "offenen Quellcode", der aber für die Verfechter der Freien Software nur eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung für einen freien Umgang mit Wissen ist. Solange der Quellcode nur eingesehen, aber nicht verändert werden kann, öffnet man proprietären Interessen Tür und Tor. Am Prinzip der Freien Software orientierte Entwickler sehen sich selbst als eine soziale Bewegung, die den Begriff der Freiheit in den Mittelpunkt rückt: Die Open-Source-Bewegung dagegen rückt mehr die gesellschaftliche Form, in der Software produziert wird, in den Mittelpunkt, insbesondere den Netzwerkgedanken und die sich daraus ergebenden sozio-organisatorischen Prinzipien. Eric Raymond spricht deshalb vom Funktionsprinzip des "Basars", also vielen kleinen autonomen und nur über freiwillige Kooperation verbundenen Akteuren. Dieses Prinzip stellt er dem der "Kathedrale" gegenüber, einer mehr oder weniger hierarchisch organisierten Form der Produktion. Offene Kooperation ist für ihn dann gewährleistet, wenn die kreative Arbeit nicht durch hierarchische Organisationsformen eingeengt wird.

Im Politikverständnis der Piratenpartei lassen sich deutlich die Spuren beider Bewegungen erkennen, einschließlich der darin angelegten Kontroverse. Programmatisch gibt es keine Festlegung. Aber die Orientierung am Gemeinschaftsgedanken und die Ablehnung des immer wieder von der Verwertungsindustrie ins Feld geführten, aber nirgendwo definierten oder juristisch normierten Begriffs des "geistigen Eigentums" kann als Grundkonsens der Partei angesehen werden. Dieser zentrale Orientierungspunkt widerlegt auch die oft geäußerte Meinung, dass die Piratenpartei eine auf die Internetproblematik beschränkte "One-Issue-Partei" ist. Allerdings ist das Prinzip der Commons die Linse, mit der es ihr möglich ist, eine Vielzahl gesellschaftlicher Konfliktfelder mit einem spezifischen Fokus zu betrachten.

Die Frage einer am Gemeinschaftsgedanken orientierten versus einer proprietären Prinzipien folgenden und an monetären Interessen ausgerichteten Politik stellt sich ja nicht nur in diesem Bereich. In den Bereichen der Bildung, der Genetik und der Biologie, der gesellschaftlichen Infrastrukturen (Eisenbahnen, Autobahnen, Müllabfuhr, Energie- und Wasserversorgung) gibt es in allen europäischen Ländern heftige Auseinandersetzungen. Die Privatisierungswelle gegen Ende des 20. Jahrhunderts bedeutete nicht das Ende der Geschichte.10 Ausgehend von derartigen Grundüberlegungen war es konsequent, dass das Wahlprogramm der Piratenpartei für die NRW-Wahl 2010 sich auf Bereiche der Bildungspolitik, der Innenpolitik, des Verbraucherschutzes, der Bürgerbeteiligung und direkten demokratischen Einwirkungsmöglichkeiten, der Medienpolitik, des freien Zugangs zu Wissen, Bauen und Verkehr, Kultur, Umwelt, Wirtschaft und Finanzen, Gesundheit, Drogenpolitik, Arbeit und Soziales erstreckte.

"Post-Privacy" oder "Transparenz nur für die anderen"?

Der zweite große Programmpunkt der Partei ist die Wahrung der bürgerlichen Freiheitsrechte in der neuen Wissensordnung. Auch hier ist zunächst eine Verteidigungsposition sichtbar, die aber verbunden ist mit in die Zukunft gerichteten Vorstellungen über das Verhältnis von Staatsbürger und Staat. Verteidigungspositionen sind in Stellung gebracht worden gegenüber den Plänen der Bundesregierung zur Vorratsdatenspeicherung, zu Internetsperren, zum ACTA-Abkommen, zum "Elektronischen Entgeltnachweis" (ELENA), zum SWIFT-Abkommen der EU mit den USA u.a.m.. In allen Fällen wird die massenhafte Speicherung von Daten durch staatliche Behörden kritisiert, welche heutzutage mit Hilfe moderner Data-Mining-Verfahren zur Erstellung unterschiedlichster Profile von einzelnen Personen oder Gruppen ausgewertet und zu einer weit reichenden Kontrolle des einzelnen Bürgers verwendet werden könnten. Bei (fast) allem, was Menschen tun, werden Daten erzeugt. Teils geschieht dies freiwillig (beispielsweise in den diversen Social-Web-Anwendungen), teils unfreiwillig (beispielsweise Video-Aufzeichnungen oder Internet-Logfiles). Data-Mining-Verfahren ermöglichen es, einmal erhobene Daten mit relativ geringem Aufwand in von ihrem ursprünglichen Entstehungskontext abweichende Zusammenhänge zu bringen. Doch was in bestimmten Anwendungsfeldern (z.B. zur Einschätzung komplexer Wechselwirkungen) sinnvoll ist, kann hinsichtlich des politischen Machtgefüges in massiver Weise die informationelle Selbstbestimmung gefährden. Die Individuen werden mit - häufig lange zurückreichenden - Ereignissen konfrontiert, die ihnen in bestimmten Situationen Nachteile bringen können. Die Möglichkeit, Daten in einer vom handelnden Individuum nicht intendierten Weise zu nutzen und Personen auf vergangenes Handeln festzulegen, trägt dazu bei, das Machtgefälle zwischen den betroffenen Individuen und den staatlichen oder privaten Kontrollinstanzen zu vergrößern.

Die Verteidigung von Datenschutz und informationeller Selbstbestimmung ergänzt die Piratenpartei durch Forderungen nach größeren Mitwirkungsrechten für die Bürger am politischen Geschehen. Dem oft beklagten Einfluss von Lobbyisten mächtiger Wirtschaftsverbände setzt sie den Anspruch nach mehr Basisdemokratie entgegen. Als Voraussetzung hierfür wird größere Transparenz staatlicher Prozesse gefordert und die Einführung von institutionalisierten Verfahren, die eine stärkere Partizipation des Staatsbürgers auf politische Entscheidungen gewährleisten sollen.

"Liquid Democracy"

In der festen Überzeugung, dass die Selbststeuerung sozialer Systeme in einer Weise erfolgen soll, in der die Interessen des Einzelnen zur Geltung kommen können, und dass es kein Organ der Partei gibt, das grundsätzlich mehr oder besser wissen kann, was in der Welt der Partei passiert, sondern lediglich in anderer Weise, d.h. mit anderen Präferenzen für das, was wichtig oder unwichtig ist, hat sich in der Piratenpartei ein Konzept von innerparteilicher Partizipation und innerparteilicher Transparenz durchgesetzt, das auf den kybernetischen Prinzipien des Feedback und der Second Order Observation aufsetzt. Wobei das Attribut "innerparteilich" die Partizipation von außerhalb der Partei stehenden Personen nicht ausschließt. Alle Diskussionsforen, Mailinglisten, Parteikonferenzen u.a.m. sind öffentlich. Das Wiki der Partei ist für jeden einsehbar, und nur in sehr wenigen hochsensiblen Bereichen sind die Schreibrechte für Mitglieder reserviert.

Die Bereitschaft, dass jedes Mitglied und jeder Funktionsträger sein politisches Handeln der vollständigen Beobachtung aller anderen aussetzt, zeigt, dass die Partei es mit Transparenz im Bereich der Politik ernst meint. Auf diese Weise soll einerseits das Individuum gegenüber Machtausübung durch das Kollektiv gestärkt und umgekehrt das Kollektiv gegenüber möglichen Manipulationsversuchen durch bestimmte Individuen geschützt werden.

Mit der Einführung des "Liquid Feedback" Systems hat die Partei einen in dieser Größe bislang einmaligen Schritt zur Umsetzung neuer Formen direkter Demokratie in der Informationsgesellschaft unternommen. Das elektronische Diskussions- und Abstimmungssystem, in das sich jedes Mitglied mit seinem persönlichen Zugangscode einloggen kann, ermöglicht eine umfassende Diskussion, Erarbeitung und Abstimmung von Vorschlägen. Dies geschieht in einer Mischform aus direkter und repräsentativer Demokratie. Jedes der ca. 12.000 Parteimitglieder kann eine Idee für einen Antrag einbringen und um die Zustimmung anderer werben. Es erfährt zudem, durch welche Änderungen seine Idee weitere Unterstützer gewinnen oder verlieren würde. Alle teilnehmenden Piraten beeinflussen die Vorschläge durch ihr Feedback, regen Änderungen an oder machen Gegenvorschläge, die wiederum dem Feedbacksystem unterliegen.

Da nicht jeder über alles abstimmen kann und will, sondern sich in der Regel auf Themen konzentriert, die ihn in besonderer Weise interessieren, kann jedes Mitglied seine Stimme an eine andere Person delegieren - allumfassend oder spezifisch für bestimmte Themen. Diese Entscheidung kann jederzeit rückgängig gemacht oder verändert werden. Als Ergebnis entstehen Meinungsbilder auf der Basis einer großen Beteiligung, die für die Entscheidungen der Parteitage und Vorstände eine qualifizierte Grundlage bilden.

Nicht das elektronische System ist jedoch das Entscheidende für die Realisierung des Politikverständnisses der Piratenpartei. Wichtiger ist das ihm zu Grunde liegende Konzept einer "Liquid Democracy", das den Anspruch erhebt, die existierende Verfasstheit der repräsentativen parlamentarischen Demokratie durch direktdemokratische Elemente zu ergänzen, in der das politische Handeln nicht für die Dauer einer Legislaturperiode an Repräsentanten abgegeben wird, sondern in einer abgestuften Form vom Staatsbürger selbst wahrgenommen werden kann. Und dies in einer Weise, die eine effiziente Verwaltung nicht blockiert, sondern fördert.11

Das Konzept des direkten Parlamentarismus, wie es von den Piraten mit Hilfe von Liquid-Feedback gegenwärtig modellhaft umgesetzt wird, wird allerdings langfristig wohl zwei Prämissen unseres Parteiensystems in Frage stellen, die zwar seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland wirksam sind, sich aber möglicherweise als historisch begrenztes Modell erweisen könnten. Gemeint ist zum einen das Modell von Parteien, die in der Lage sind, die gemeinsamen Interessen ganzer Bevölkerungsschichten (Klassen oder gar das ganze Volk) zu repräsentieren, und zum andern das Modell einer identitären Organisation, die die Vielfalt der politischen Handlungsfelder unter ein einheitliches Programm möglichst widerspruchsfrei integriert.

Die Piratenpartei setzt eindeutig darauf, dass die Vielfalt von Meinungen und die netzwerkartige wechselseitige Beobachtung anderer Positionen (Beobachtung zweiter Ordnung) das bessere Mittel zur Erarbeitung politischer Strategien ist als die traditionellen, durch hierarchische Delegationsformen gefilterten Entscheidungsprozesse. In diesem Sinne weist sich die Piratenpartei als eine poststrukturalistische Partei aus, so dass es vielleicht gar nicht so übertrieben ist, von einer Partei neuen Typus zu sprechen.

Anmerkungen

1) James Boyle lehrt Rechtswissenschaft in Durham, North Carolina, und ist Mitbegründer der "Creative Commons"(10.10.2010)

2) Marx beschreibt diese Auseinandersetzung im Kapitel über die ursprüngliche Akkumulation im "Kapital I" (Marx-Engels-Werke, Bd. 23, S.744 ff).

3) Marx, Karl & Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei (1848). Marx-Engels Werke, Band 4 (MEW 4). Berlin. Dietz, 1972,, S.482. Diese Utopie hat sich trotz zunächst erfolgreicher Ansätze nicht realisiert. Es ist hier nicht der Ort, über die Gründe zu diskutieren.

4) Wie unscharf und zum Teil widersprüchlich die Positionen in dieser Debatte bezogen werden, lässt sich beispielhaft an der Fraunhofer Gesellschaft zeigen. Ihr gegenwärtiger Präsident Hans-Jörg Bullinger wird vom Manager Magazin anlässlich seiner Wahl zum Manager des Jahres 2009 als "der Mann, der Wissen in Ware verwandelt" wahrgenommen (Kröher, Michael O.R.: Mister Innovation. Manager-Magazin 12/2009). Eine Einschätzung, die - sieht man sich die praktischen Entwicklungsarbeiten in verschiedenen Fraunhofer Instituten an - sicherlich nicht ganz falsch ist. Gleichzeitig gehört jedoch dieselbe Fraunhofer Gesellschaft zu den Erstunterzeichnern der Berliner Erklärung" aus dem Jahre 2003, in der ein freier Zugang zu Wissen und Kulturgütern gefordert wird und preisliche und lizenzrechtliche Beschränkungen und Verbote kritisiert werden (10.10.2010)].

5) Vgl. Holger Bleich: Die Abmahn-Industrie. Wie mit dem Missbrauch des Urheberrechts Kasse gemacht wird. c't 2010, Heft 1, S.154 - 157.

6) Grassmuck, Volker: Freie Software. Zwischen Privat und Gemeineigentum. Bonn. Bundeszentrale für politische Bildung, 2002, S.74

7) Die schwedische Piratenpartei erreichte bei der Wahl zum Europaparlament 2009 7,13% der Stimmen bzw. zwei Sitze.

8) www.pp-international.net/ (10.10.2010)

9) Um dennoch die Produkte kreativer Arbeit nicht "herrenlos" erscheinen zu lassen und damit der schutzlosen Aneignung durch proprietäre Interessen auszusetzen, wurde das Prinzip der "Creative Commons" gegründet.

10) Ausverkauft. Wie das Gemeinwohl zur Privatsache wird. Edition Le Monde Diplomatique 2009, No. 6

11) wiki.liqd.net/Main_Page (10.10.2010)]

Dr. Michael Paetau leitet das Zentrum für Soziokybernetische Studien Bonn und ist Mitglied des Kreisvorstandes Bonn der Piratenpartei Deutschland.

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