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»Wissenschaft ist also ein prinzipielles Gegen-den-Strom-Schwimmen.«

Klaus Holzkamp

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Problembeladen: "Wissenschaftsumbau Ost"

  
 

Forum Wissenschaft 2/2020; Foto: meunierd / shutterstock.com

Der Untergang der DDR führte auch zu einem kompletten Umbruch ihres Hochschul- und Bildungssystems. Akademische Einrichtungen und ihr Personal wurden evaluiert und überwiegend abgewickelt. Der Neuaufbau erfolgte unter westdeutscher Planung, Leitung und Kontrolle sowie weit überwiegend mit westdeutschen WissenschaftlerInnen. Aus Sicht der wissenschaftspolitisch führenden Institutionen gilt der "Umbau Ost" als erfolgreicher Bestandteil der deutschen Vereinigung. Doch nach 30 Jahren nehmen die Zweifel zu und nähren die Forderung nach umfassender kritischer Bestandsaufnahme. Manfred Weißbecker plädiert für eine kritisch-differenzierende Analyse der Transformation des Wissenschaftssystems.

Drei Jahrzehnte sind vergangen, seit die DDR scheiterte und in die Bundesrepublik eingegliedert worden ist. Für ihre BürgerInnen begann ein anderes Leben, ein neues Dasein, dessen unübersehbare Vorteile - demokratische Verhältnisse, Reisefreiheit, Versorgung usw. - in krassem Gegensatz standen zu abfällig-verletzendem Verhalten neu Regierender gegenüber großen Teilen der Menschen in den neuen Bundesländern. Am deutlichsten äußerte sich das im Wirken der "Treuhand", einer Anstalt, die eigentlich das Volkseigentum für die Allgemeinheit "treuhänderisch" verwalten sollte, jedoch als eine rigorose Privatisierungs- und Liquidierungsbehörde agierte. Betroffen waren fast 9.000 volkseigene Betriebe mit insgesamt 4,1 Millionen Arbeitsplätzen. Ihre Entscheidungen und ebenso die vieler anderer Institutionen griffen hart in den Alltag fast aller Familien ein.1 Vielen DDR-BürgerInnen widerfuhr Unbekanntes - sie stürzten in Arbeitslosigkeit, sahen eigene Leistungen über Nacht als wertlos deklariert, empfanden Entscheidungen oft als ungerecht und fühlten sich nahezu machtlos gegenüber pauschalen Verdächtigungen. Dies alles hinterließ tiefe Spuren.

Betroffen sah sich davon auch der Verfasser2, der an dieser Stelle als ein vorzeitig entlassener Hochschullehrer nach Tätigkeit und Wirksamkeit des Wissenschaftsrates der BRD [künftig: WR] fragt, eines Gremiums, das 1957 in der BRD geschaffen worden war und Konzepte für eine gesamtstaatliche, also Bund und Länder einschließende Wissenschaftspolitik erarbeiten sollte. Der Wissenschaftsrat stellte von Anfang an "ein politisches Organ im Sektor der Wissenschaft"3 dar und spielte in den frühen 1990er Jahren eine gewichtige, jedoch bislang kaum allseitig erfasste Rolle. Er trug entscheidend dazu bei, jene Wissenschaftslandschaft radikal zu verändern, die sich in der DDR entwickelt hatte und von den Folgen des weltweiten Systemgegensatzes, des Kalten Krieges, des deutsch-deutschen Gegeneinanders und von sozialistischen Prämissen geprägt worden war. Was im zweiten deutschen Staat hatte geleistet werden können, war nicht unerheblich, stieß jedoch immer sowohl an materielle als auch an politische Beschränktheiten. Aber: Vor schwierigen Problemen stand auch die Wissenschaftslandschaft der Bundesrepublik. Insofern wäre unter den 1989/90 gewendeten Verhältnissen durchaus ein sinnvoller gesamtdeutscher "Umbau" als kooperatives Zusammenführen aller Forschungs- und Lehreinrichtungen möglich und sinnvoll gewesen.4 Im Wissenschaftsbetrieb der DDR stand ohnehin nicht nur in personeller Hinsicht ein Wandel auf der Tagesordnung. Vor allem hätte sich bis zur Jahrtausendwende an Hochschulen und Akademien allein aus Altersgründen ein völliger Generationenwechsel vollziehen müssen. Was jedoch stattfand, glich eher5 einer weitgehenden Zerschlagung wissenschaftlicher Einrichtungen der DDR, einem rigorosen Elitenwechsel und führte lediglich ein von kapitalistischen Wirtschafts- und Politikinteressen geprägtes sowie problembelastetes Wissenschaftssystem fort. Dazu trug der WR mit seinen zahlreichen und umfangreichen Empfehlungen6, die "nahezu Gesetzeskraft"7 annahmen, in hohem Maße bei.

Nach Peer Pasternacks Recherchen8 erfasste der "Wissenschaftsumbau Ost" mehr als die Hälfte aller Personen, die 1989 in der DDR an wissenschaftlichen Einrichtungen beschäftigt waren, darunter 85 Prozent derer, die in der Industrieforschung tätig gewesen waren, sowie jeweils 60 Prozent des Personals an den Hochschulen und Akademien. In besonderem Maße sahen sich Angehörige sozial- und geisteswissenschaftlicher Institute sowie medizinischer und mathematisch-naturwissenschaftlicher Fakultäten betroffen. Sogenannte Personalkommissionen fragten kaum nach wissenschaftlicher Qualität, eher nach politischer Gebundenheit und "Systemnähe". Urteile standen bereits vor formal angesetzten Gesprächen fest. Benachteiligt sahen sich nicht allein Hochschullehrer (in Jena wurden 95 Prozent der ProfessorInnen und DozentInnen aus der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät entlassen, in Sachsen 81,9 Prozent aller HochschullehrerInnen), sondern auch der jüngere und mittlere wissenschaftliche Nachwuchs. Wie Pasternack schreibt, sei es nur wenigen gelungen, "sich gegen das in den ersten Jahren wirksame Stigma, in der DDR wissenschaftlich sozialisiert worden zu sein, in die neuen Strukturen zu integrieren."

Verständnisunwilligkeit paarte sich mit feindseliger Überheblichkeit. Trafen gewisse Anklagepunkte und Vorwürfe nicht zu, wurden solche oftmals konstruiert und verallgemeinert. Das unerwartete und beängstigende Fluidum der Vorgänge fand zutreffende Charakterisierung in den Worten des Berliner Ethnologen Wolfgang Kaschuba: "Fremde rücken in das Gebiet einer indigenen Stammeskultur vor, sie übernehmen dort die Schlüsselpositionen der Häuptlinge und Medizinmänner, zerstören einheimische Traditionen, verkünden neue Glaubenssätze, begründen neue Riten. Das klassische Paradigma also eines interethnischen Kulturkonflikts, nur dass sein Schauplatz nicht in Papua-Neuguinea liegt …"9

Alles erwies sich als eine vom WR nachdrücklich empfohlene und eine rigorose Politik unterstützende Anpassung des einen Wissenschaftssystems an das andere. Dabei sah sich das Personal in den neuen Bundesländern stark dezimiert und deutlich vermännlicht.10 Zugleich kann von einer Verwestlichung gesprochen werden, die Probleme des Überhangs an habilitierten und promovierten WissenschaftlerInnen der alten Bundesländer lösen half, ohne an den Schwachpunkten westdeutscher Wissenschaftsstrukturen etwas ändern zu müssen. Der völlige "Umbau" konnte gelingen, weil sich - so von Pasternack formuliert - ein "antikommunistischer Furor Bahn gebrochen" habe und "wissenschaftssystemtypische Konkurrenzstrukturen" wirksam werden durften.11 Die Einführung föderaler Strukturen im Gebiet der ehemaligen DDR ermöglichte unterschiedliche Vorgehensweisen. Zudem reichten zu allen Veränderungen viele WissenschaftlerInnen, selbst wenn sie andere Auffassungen als die politisch vorgegebenen vertraten, letztlich willig ihre Hand. Sie kamen aus den alten Bundesländern, einige anfangs hilfsbereit und kollegial, die meisten jedoch voller Hoffnung auf lohnende Karrieren. Sie kamen auch aus der DDR, getrieben von "Umsattlungseifer" (wie es Wolfgang Ruge nannte), in "Selbstpreisgabe" (so formuliert von Werner Röhr) oder als "geschmeidige Wendehälse" (Hermann Klenner).

Bis heute liegt keine umfassende Geschichte dieses vom WR zumeist gepriesenen "Wissenschaftsumbaus Ost"12 vor, von einer - in anderen Zusammenhängen allerdings stets geforderten - "Aufarbeitung" ganz zu schweigen. Zwar füllen Berichte, Protokolle, Darstellungen und Memoiren viele Bibliotheken, doch sie enthalten eher Beschreibendes statt Analysierendes sowie von billigen Rechtfertigungen Geprägtes und von im Feuer der Auseinandersetzungen Behauptetes. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, wird jene Literatur kaum berücksichtigt oder leichthin abgetan, in der sich die Sicht Betroffener erkennen lässt.13 Dazu zählt leider auch ein Band, den nordamerikanische und deutsche Historiker vorgelegt haben.14 Nachdrücklich wird indessen um eine Deutungshoheit für die These vom Gelingen des "Umbaus" gerungen, also eine - eigentlich wissenschaftsfeindliche - Methode genutzt, die selbst eine lange eigene Geschichte aufweist und generell das problemreiche Verhältnis von Wissenschaft und Politik berührt.15 Es wird nicht einmal gefragt, ob es hätte besser gemacht werden können, obwohl solch ein alternativloses Denken der gesellschaftlichen Verantwortung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern keineswegs zu entsprechen vermag.

Fehlende Aufarbeitung

In den vergangenen drei Jahrzehnten wurde der "Wissenschaftsumbau Ost" sehr oft gedeutet: Positives hervorgehoben, anderes verschwiegen. Im Mittelpunkt der folgenden Bemerkungen stehen dabei Empfehlungen und Einschätzungen des einflussreichen, mitunter nach außen sich zurückhaltend gebenden WR.16 Zu untersuchen sind dabei auch die jeweils verwendeten Worte und Begriffe, denn oft lässt sich allein an deren Veränderungen erkennen, welche Ziele verfolgt worden sind.

So war zunächst vom WR im Januar 1990 eine Arbeitsgruppe geschaffen worden, die den Titel "Deutsch-deutsche Wissenschaftsbeziehungen" erhielt. Die von ihr bis zum Sommer 1990 erarbeiteten Empfehlungen galten in einem anderen Ton den "Perspektiven für Wissenschaft und Forschung auf dem Weg zur deutschen Einheit". Bald war jedoch nur die Rede von einer "Neuordnung der wissenschaftlichen Einrichtungen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR". Der WR setzte sich das Ziel, mit seinen Empfehlungen den Regierungen der neuen Bundesländer "möglichst rasch ein normatives Konzept" für Investitionsentscheidungen und Stellenpläne an die Hand zu geben. Für ihn hieß es: Priorität habe in allen Fällen eine "an den Studienangeboten westdeutscher Hochschulen orientierte Qualitätssicherung". Dabei wussten ihre Verfasser durchaus um "unbestrittene Mängelanalysen" des westdeutschen Hochschulsystems, doch zu dessen Reform sah man sich weder in der Lage noch willens, ganz nach dem schlichten Motto "Wie im Westen, so auf Erden."17 Die Chance, für das wiedervereinigte Deutschland ein gänzlich reformiertes Bildungs- und Forschungssystem zu schaffen, wurde folgenreich vertan.

Vom WR Gewolltes stimmte nicht immer mit dem Erreichten überein, doch das traf zumeist nur im Detail zu und änderte generell nichts an den eigenen Orientierungen. Dennoch gab es krasse Urteile, die auf beiden Seiten gefällt wurden, zumeist aber mehr die Art und Weise des Vorgehens betrafen statt der Grundsätze und Inhalte. So bekannte Dieter Simon, von 1989 bis 1993 WR-Vorsitzender, dass sich allzu oft "fachlicher und persönlicher Neid, Rach-, Herrsch- und Habsucht und viele weitere unerfreuliche menschliche Eigenschaften manch hässliches und unverwindbares Stelldichein gegeben" hätten.18 Mit dem Export nach Osten sei "nur eine Misere durch eine andere abgelöst" worden, erklärte 1994 einer der führenden Wissenschaftspolitiker der BRD.19 Ein von diesem "Export" betroffener Ostdeutscher wählte lediglich andere Worte und sprach von "geklonten Defiziten" mit enormen Folgen.20

Ein gewisses Unbehagen der Berater, Evaluierer und Entscheider kam zum Vorschein, als im Februar 2002 auf einer Tagung in Berlin unter dem Titel "10 Jahre danach" zu bilanzieren versucht wurde.21 Wissenschaftspolitische Akteure aller Art hielten Rückschau auf ihr Wirken: ehemalige Leiter diverser Kommissionen, Gründungsrektoren und -dekane, Wissenschaftsfunktionäre aus Max-Planck-Gesellschaft, Fraunhofer-Gesellschaft und Deutscher Forschungsgemeinschaft sowie MitarbeiterInnen einiger Ministerien. Eingeladen war keiner der von den "Abwicklungen" Betroffenen. Im Vordergrund standen - wie erwartet - triumphierend klingende Aussagen über einen insgesamt erfolgreichen Transformationsprozess. Es sei eine lebendige, agierende Hochschullandschaft geschaffen worden, tönte Dagmar Schipanski, die dem WR 1992 bis 1998 vorstand. Einer (Manfred Erhardt, 1991-1996 Berliner Wissenschaftssenator) sprach gar von einem erneuerten und "blühenden Wissenschaftsland" in den neuen Bundesländern. Gelobt wurde, dass leistungsfähige Potentiale der DDR-Forschung ausgebaut worden wären. Offiziell wurde rund 500 Personen für ihren Einsatz gedankt, da sie als Beratende und als Evaluierer mit "hoher Kompetenz und einem unglaublichen persönlichen Engagement der gemeinsamen Sache" gedient hätten. Man kam nicht umhin einzugestehen, dass die Geisteswissenschaften der DDR zu Verlierern der deutschen Einheit gehören würden. Wurden Defizite benannt, sah der WR indessen die Verantwortung auf anderen Schultern liegen22, man habe nur "beraten" und sei - so hieß es lakonisch - für Personalfragen nicht zuständig gewesen. Ein sonderbar selbstgerechter Freispruch.

Dennoch ließ sich in dieser Veranstaltung auch Erstaunliches vernehmen. Dazu gehörte weniger die Klage aus Rostock, dass Professoren aus dem Westen wesentlich mehr Geld erhielten als die Ostkollegen und ein Ost-Emeritus bei gleicher Lebensleistung viel weniger als ein West-Emeritus. Andere äußerten sich durchaus mit Anzeichen einer Selbstkritik: "Schuld" habe man mit dem Umbau der DDR-Wissenschaften "auf sich geladen" und sich "an einer ganzen Generation versündigt". "Ungerechtigkeiten" seien zu konstatieren, ebenso "persönliche Tragik" in einem "schmerzlichen Prozess", "eine Katastrophe für die Betroffenen". "Fehlentscheidungen der Ehrenkommissionen" habe es gegeben und "ungerechtfertigte Härten". Von Jürgen Mittelstraß, damals in Konstanz lehrender Philosoph, stammt, was hier ausführlich zitiert zu werden verdient: "Wenn ich als altes Wissenschaftsratsmitglied, das sowohl im Evaluationsausschuss als auch im Strukturausschuss und in vielen Kommissionen beider Ausschüsse gedient hat, einen Wunsch frei haben sollte, dann den, dass wir - und sei es auch nur auf eine mehr oder weniger symbolische Weise - gutzumachen versuchen, was damals, bewirkt durch die Empfehlungen des Wissenschaftsrates, an persönlichem Unrecht geschah gegenüber Akademieangehörigen, die, obgleich von bewiesener Leistungsfähigkeit, freigestellt, unzureichend weiterfinanziert und schließlich doch fallengelassen wurden. Und ebenso gegenüber Hochschullehrern, die wiederum trotz dokumentierter Leistungsfähigkeit der Abwicklung ihrer Einrichtungen zum Opfer fielen. Hier ist in zu vielen Fällen nicht nur fahrlässig mit der Ressource Geist umgegangen worden, sondern auch Würde und Leben einzelner Wissenschaftler verletzt worden." Er schloss mit den Worten: "Raffen wir uns auf, hier noch einmal - das Endliche im Blick und das Versöhnliche im Herzen - etwas Selbstverständliches zu tun." In der Diskussion präzisierte er, was er damit meinte: "Lasst uns noch einmal gemeinsam über die Bücher gehen und gutzumachen suchen, was damals an persönlichem Unrecht geschah". In das Protokoll der Tagung fand dies keinen Eingang, doch hat er den Satz später noch einmal ausdrücklich bestätigt.23

Es blieb allerdings bei solchen mehr oder weniger zaghaften Einwürfen. Eingefordertes war zwar ausgesprochen worden, erlebte jedoch kein Realisieren, schon gar nicht ein "gemeinsames". Weder gab es Entschuldigungen noch andere "symbolpolitische" Aktionen, von einer Unrechts-Anerkennung ganz zu schweigen. Ansätze zu praktischen Schlussfolgerungen oder gar Korrektur-Vorschläge lassen sich bis in unsere Gegenwart hinein nicht ausmachen. Nirgends war und ist Bereitschaft zu erkennen, zur Mitverantwortung für die nach der "Wende" offiziell betriebene Wissenschaftspolitik der Bundesregierung zu stehen24, für eine Politik der Vernichtung von Wissenschaft und Wissenschafts-Ressourcen, für eine Politik, die zur Verkehrung elementarer Grundsätze wissenschaftlichen Arbeitens führte und die lauthals proklamierte "Freiheit der Wissenschaft" aufhob. Es ging 2002 wohl, so dicht noch am Geschehen und seinen Folgen, lediglich um die Beruhigung von Ansätzen eines schlechten Gewissens …

Bei den Jubiläums-Tagungen 2010 und 2015 ließ sich selbst davon kaum noch etwas vernehmen. Das Bedauern nahm ab, das Vergessen zu. Gegenteiliges trat endgültig in den Vordergrund. Auf der letzten Tagung in Hannover25 lobte die Bundesministerin für Bildung und Forschung den WR in höchsten Tönen. Er habe "zahlreiche Empfehlungen ausgearbeitet, die das Wissenschaftssystem und die deutsche Hochschullandschaft nachhaltig geprägt und verändert haben." WR-Vorsitzender Manfred Prenzel sah die deutsche Wissenschaft West und Ost zusammengewachsen. Manches werde "gleichwohl eine Daueraufgabe bleiben", doch das bezog sich mehr auf offene regionale Perspektiven. Ausführlich äußerte er sich zur Rolle, die der WR in den frühen 1990er Jahren gespielt hat. Von der früher gegebenen Erklärung, der WR habe keine personalpolitischen Entscheidungen treffen dürfen, war keine Rede mehr. Summarisch hieß es, der WR habe "seinerzeit bekanntlich eine ausgeprägte Wirkungsmacht entfalten" können. Bei den Regierungen der neuen Bundesländer hätten die WR-Empfehlungen "vielfach Beachtung" gefunden und seien in der "unvermeidliche[n] Neustrukturierung der dortigen Hochschullandschaft" umgesetzt worden. Mit nahezu peinlichem Selbstlob meinte Prenzel, schon 2002 sei von einem in vieler Hinsicht abgeschlossenen Prozess zu sprechen gewesen. Ein einziger kleiner Nebensatz lautete: "…auch wenn Wunden und Narben noch stärker bemerkbar waren als heute." Worte des Bedauerns fand er nur für das "Schicksal jener Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die schon im DDR-System aus politischen Gründen ›zu kurz‹ gekommen waren und denen im neuen Wissenschaftssystem aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters keine ›Wiedergutmachung‹ in Karrierehinsicht mehr zuteilwerden konnte."

Vor den Folgen des so betriebenen "Wissenschaftsumbaus Ost" war frühzeitig und ist in den letzten drei Jahrzehnten gewarnt worden, ohne jedoch Gehör zu finden. Nach rund zehn Jahren bilanzierte Herbert Woeltge, es sei Potential zerschlagen worden, das dringend gebraucht werde: "Der immer lautere Ruf nach Fachkräften, nach Ingenieuren kollidiert im Gedächtnis der Betroffenen mit den Vorstellungen, auf welche Potenzen man hätte zurückgreifen können, wenn es nicht zur ignoranten und kurzsichtigen Vernichtung vorhandener Kapazitäten und Erfahrungen gekommen wäre. Greencards und PISA sind Spätfolgen der verpassten historischen Chance, eine wirklich gesamtdeutsche moderne - nicht expandierte westdeutsche Wissenschaftslandschaft zu errichten."26

Neue Erwartungen

Als der zweite deutsche Staat, entstanden nach dem völkermordenden Weltkrieg, in der Bundesrepublik aufging, hieß es aus prominentem Munde, von ihm werde nicht mehr als eine Fußnote in der Geschichte übrig bleiben. Ein Rückblick auf die letzten 30 Jahre deutscher Geschichte lässt durchaus Gegenteiliges erkennen. Es tauchen angesichts der aktuellen Krisen in Wirtschaft, Politik, Bildung, Gesundheitswesen und vielen anderen Bereichen mehr und mehr berechtigte Fragen auf: Was ging mit dem realen Sozialismus, so sehr er sich selbst als undemokratisch diskreditierte, dennoch verloren, das eigentlich erhaltungswürdig oder sogar übernehmbar gewesen wäre? Weshalb wurden den neuen Bundesländern Strukturen aufgezwungen, die von vielen auch im Westen als kritik- und verbesserungswürdig bewertet wurden? Welche Folgen sind heute noch spürbar, die sich aus Art und Weise der Wiedervereinigung - von vielen eher als "Anschluss" empfunden - ergaben? Was bewirkten kurz-, mittel- und langfristig die gebrochenen Biografien vieler DDR-BürgerInnen? Welche Rolle spielten einerseits die mit Wohlstandsversprechungen genährten Hoffnungen und andererseits die bislang ungekannten Existenzängste? Worin bestanden Verlust und Gewinn? Allein in solchen Fragen sind tiefe Spuren von Umbruch, Abbau, Transformation, neuer Ungerechtigkeit, Demütigung usw. erkennbar - wirtschaftliche und politische, soziale, mentale und psychische.

Die gegenwärtigen Krisen - darunter auch die nach einem Virus benannte - wecken Erinnerungen an Verlorenes, Abgewickeltes und Geleistetes, wobei nicht selten der Wert des Gewonnenen in den Hintergrund tritt. Was sich heute z.B. als eine Krise des Gesundheitswesens erweist, lässt über ein System nachdenken, das Kliniken nicht zu Gewinnstreben verpflichtete. Studierende und junge WissenschaftlerInnen unterliegen einer immer stringenter werdenden Ökonomisierung ihrer Ausbildung. Eltern und SchülerInnen sehen sich föderal-bildungspolitischem Wirrwarr ausgesetzt. Eine forcierte Digitalisierung von Unterricht und Studium höhlt das eigentlich unabdingbare persönliche Verhältnis zwischen Lernenden und Lehrenden aus.

Rechtfertigungsargumente werden gebetsmühlenartig verbreitet. Allerdings scheinen oberflächliche, reinen parteipolitischen Machtzwecken untergeordnete geschichtliche Deutungsmodelle mehr und mehr auf Desinteresse und Ablehnung zu stoßen. Vielleicht wächst damit auch der Wunsch nach einem kritisch-differenzierenden Blick auf das Ungeleistete im "Wissenschaftsumbau Ost". Dabei werden sich neue Fragen nach dem Maß an Verantwortung stellen, das Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen im engen Beziehungsgeflecht mit Wirtschaft, Politik und Moral eigenem Wirken zugrundezulegen haben.

Anmerkungen

1) Siehe das Begleitheft Schicksal Treuhand - Treuhand-Schicksale zur gleichnamigen Ausstellung der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 2019. Darin bezeichnet Christa Luft das Wirken der Treuhand als "größte Vernichtung von Produktivvermögen in Friedenszeiten." (S.16).

2) Siehe dazu S.9-28 meines Buches Noch einmal über die Bücher gehen. Texte aus einem geteilten Historiker-Leben, Köln 2020.

3) Olaf Bartz 2007: Der Wissenschaftsrat. Entwicklungslinien der Wissenschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1957- 2007, Stuttgart: 11.

4) Mitchell G. Ash fordert dazu auf, trotz aller Unterschiede festzuhalten, dass es "mehrere Gemeinsamkeiten der Wissenschaftssysteme in beiden deutschen Staaten" gegeben hat. Siehe seinen Artikel "Wissenschaft und Politik. Eine Beziehungsgeschichte im 20. Jahrhundert", in: Archiv für Sozialgeschichte 50/2010: 11-46; hier: 40. Siehe auch ders. 2010: "›Wie im Westen so auf Erden‹? Die deutsche Vereinigung der Hochschulen und Wissenschaften als Prozess", in: J. Kocka, C. Weber und J. von Bilavsky: 1949 - 1989 - 2009. Wissenschaft und Wiedervereinigung. Bilanz und offene Fragen, Berlin.

5) Bartz meint, es habe bis zum Frühjahr 1990 eine "Kooperationsphase" gegeben, in der jedoch bereits starke Asymmetrien deutlich wurden. Er schreibt aber zugleich (S.159 f.), dabei die eigene These vom dominierenden politischen Einfluss auf westdeutsche Wissenschaftler relativierend: "Die Wissenschaftsorganisationen (der BRD; M.W.) wollten ihr Operationsgebiet auf die DDR ausdehnen."

6) Allein die Empfehlungen zur künftigen Struktur der Hochschullandschaft in den neuen Ländern und im Ostteil von Berlin umfassten mehr als 1000 Seiten, die sogenannten Evaluationsberichte noch viel mehr.

7) Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.09.1991. Zit. nach Bartz (siehe Anm. 3): 170.

8) Das Folgende stützt sich auf Peer Pasternack 2016: "Wissenschaftsumbau Ost - Ein 25-Jahres-Jubiläum mit eher begrenzten Jubelanlässen", in: Forum Wissenschaft, H. 1/2016.

9) Zit. nach ebd.

10) Wie sich der Frauenanteil veränderte, müsste noch untersucht werden. Hingegen ist bekannt, dass es im bundesdeutschen Wissenschaftsrat zwischen 1957 und 2007 unter den 74 entscheidenden Funktionsträgern nur vier Frauen gab. Siehe Bartz (siehe Anm. 3): 285 f.

11) Siehe Anm. 6. Dass die personelle Ausstattung der DDR-Wissenschaft zu komfortabel gewesen sei, sollte hingegen keineswegs als ein Nachteil bewertet werden. 1990 kamen in der DDR drei Studierende auf einen Hochschullehrer, in der BRD gab es ein Verhältnis von 12:1. Das "Uni-Barometer" wies für das Jahr 2017 ein Verhältnis von einem Professor bzw. einer Professorin zu 67 Studierenden aus. Heute beläuft sich zudem der Anteil befristeter Verträge bei den wissenschaftlichen Angestellten im Durchschnitt auf 90 Prozent. Gelitten wird unter einem hohen Maß an Teilzeitbeschäftigung, an Abhängigkeit von Drittmitteln und hohen Lehrverpflichtungen. Entstanden ist ein "wissenschaftliches Prekariat".

12) Bartz (siehe Anm. 3) meint, der WR verdiene "höchste Anerkennung", weil er die ihm 1990/91 gestellten Aufgaben in der "stolzeste[n] und wichtigste[n] Phase seiner bisherigen Geschichte" fristgerecht und vollständig erfüllt habe (S.182).

13) Zu Abwicklung und Ausgrenzung der Wissenschaftselite der DDR siehe u.a. Jürgen Angelow 2017: Entsorgt und ausgeblendet. Elitenwechsel und Meinungsführerschaft in Ostdeutschland, Potsdam, 2. erw. Aufl.; Stefan Bollinger, Ulrich van der Heyden und Mario Keßler (Hg.) 2004: Ausgrenzung oder Integration? Ostdeutsche Sozialwissenschaftler zwischen Isolierung und Selbstbehauptung, Berlin; Götz Brand 1996: Die Abwicklung der Bauakademie der DDR 1989-1991. Dokumentation aus eigenem Erleben; Dokumente gegen Legenden. Chronik und Geschichte der Abwicklung der MitarbeiterInnen des Instituts für Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin; Heinrich Fink 2013: Wie die Humboldt-Universität gewendet wurde. Erinnerungen des ersten frei gewählten Rektors, Hannover; Arno Hecht 2002: Die Wissenschaftselite Ostdeutschlands. Feindliche Übernahme oder Integration?, Leipzig; Peer Pasternak <^>2<^*>2005: Politik als Besuch. Wissenschaftspolitischer Feldreport aus Berlin, Bielefeld: 172 f.; Werner Röhr: Abwicklung. Das Ende der Geschichtswissenschaft der DDR, Bd.1: Analyse einer Zerstörung, Berlin 2011; Bd. 2: Analyse ausgewählter Forschungen, Übersichten, Register, Berlin 2012; Herbert Wöltge 2004: "Der nackte DDR-Bürger", in: Das Blättchen, H. 22 vom 25.10.2004. Verwiesen sei auch auf die umfangreiche autobiografische Literatur.

14) Axel Fair-Schulz und Mario Keßler (Hg.) 2017: East German Historians since Reunification. A Discipline Transformed, New York.

15) So äußerte z.B. der OHL-Pressechef im Auftrag des Generals Erich Ludendorff kurz vor dem Ende des Ersten Weltkrieges: "Worte sind heute Schlachten: Richtige Worte gewonnene Schlachten, falsche Worte verlorene Schlachten." Zit. nach Jeffrey Verhey 2000: Der "Geist von 1914" und die Erfindung der Volksgemeinschaft: 327. Zu ergänzen wäre, dass bestimmte Worte benutzt, andere hingegen verschwiegen werden, um ans Ziel gelangen zu können. Das Besetzen der Begriffe pries Historiker Michael Stürmer, als er in den 1980er Jahren Bundeskanzler Helmut Kohl geschichtspolitisch beratend zur Seite stand. Und Heinrich August Winkler, selbst aktiv tätig in der "Abwicklung" der DDR-Geschichtswissenschaft, deutet alle Geschichte gar als "eine von Kämpfen um die Deutung der Geschichte".

16) Bartz (siehe Anm. 3) urteilt: Der WR habe als ein "einflussreiches, nach außen hin aber zurückhaltendes Gremium agiert."

17) Spöttisch äußerte sich so Dieter Simon, WR-Vorsitzender von 1989 bis 1993 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 19.03.1991

18) Zit. nach Bartz (siehe Anm. 3): 181.

19) Wilhelm Krull 1994: "Im Osten wie im Westen - nichts Neues? Zu den Empfehlungen des Wissenschaftsrates für die Neuordnung der Hochschulen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR", in: Renate Mayntz (Hg.): Aufbruch und Reform von oben. Ostdeutsche Universitäten im Transformationsprozess, Frankfurt/Main und New York: 205- 224; hier: 206 und 224.

20) Jakob Wegelin [d.i. Herbert Woeltge] 2002: "Geklonte Defizite. Ein Symposium der Evaluierer hält nach zehn Jahren ratlose Rückschau auf die Wissenschafts-Transformation in Ostdeutschland", in: Leibniz Intern Nr. 12, 30.4.2002: 13-15; hier: 14 f., zuvor erschienen in: junge Welt, 15.02. 2002: 13-15.

21) Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft (Hg.) 2002: 10 Jahre danach. Zur Entwicklung der Hochschulen und Forschungseinrichtungen in den neuen Ländern und Berlin. Dokumentation des gemeinsamen Symposions von Wissenschaftsrat, Stifterverband und VolkswagenStiftung am 8. und 9. Februar im Berliner Rathaus, Essen.

22) Immerhin bezeichnete sich Simon 1995 selbst als "Mittäter". Zit. nach Bartz (siehe Anm. 3): 181.

23) Das Mittelstraß-Zitat wurde vom Autor bereits 2007 verwendet. Siehe seinen Vortrag: "Die universitätsgeschichtlichen Bemühungen der Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen e.V. - ein Rückblick", in: Manfred Weißbecker (Hg.): Hoffnungen - Enttäuschungen - Neue Erfahrungen. Deutsche Hochschullandschaft in der "Wende". Das Beispiel Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena: 271-280. Nach dem Zitat hieß es: "Nun ja, das ist trefflich formuliert. Ob aber solch ehrenwertes Wort vielleicht auch an der sich feiernden Jenaer Universität [anlässlich des 450. Jahrestages ihrer Gründung; M.W.] fallen wird? Wir würden es nicht überhören…".

24) In auffälliger Weise enthalten die Wikipedia-Beiträge über die damals im WR besonders aktiven Wissenschaftler Horst Kern, Wilhelm Krull, Gerhard Maess, Jürgen Mittelstraß, Benno Parthier, Richard Schröder und Erich Thiess keinerlei Hinweise auf deren Anteil am "Wissenschaftsumbau Ost".

25) Manfred Prenzel: "25 Jahre Wiedervereinigung in Wissenschaft und Forschung. Erinnerungen - Erfahrungen - Erwartungen." Rede am 6. Juli 2015 in Schloss Herrenhausen anlässlich des Symposiums "25 Jahre Wissenschaft und Wiedervereinigung" von VolkswagenStiftung und Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft.

26) Siehe Anmerkung 18.

Manfred Weißbecker, Prof.Dr.phil, Jahrgang 1935. Lehrte bis 1990 Deutsche Geschichte an der Universität Jena. Zahlreiche Bücher und Zeitschriftenbeiträge. Zwischen seiner Anstellung und der rigiden "Abwicklung" der DDR-Geschichtswissenschaft lagen drei Jahrzehnte umfangreicher Lehr- und Forschungsarbeit des Autors. Letztere betraf vor allem die Geschichte bürgerlicher und kleinbürgerlicher deutscher Parteien und Verbände, der Weimarer Republik und des Faschismus.

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