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Klaus Holzkamp

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Verschüttetes Wissen

22.06.2020: Die DDR-Geschichtswissenschaft aus der Sicht eines Nachgeborenen

  
 

Forum Wissenschaft 2/2020; Foto: meunierd / shutterstock.com

Ohne Zweifel unterlag die Geschichtswissenschaft an den Hochschulen in der DDR dem ideologischen Primat der Herrschaftslegitimierung der SED. Marxistisch-leninistische Gesellschaftswissenschaft hatte der Sicherung der "Arbeiter- und Bauernmacht" zu dienen. Doch reicht dieser Befund aus, um sämtliche Forschungsergebnisse der DDR-Zeit als "unwissenschaftlich" zu verdammen und damit als für die wissenschaftliche Diskussion unbrauchbar zu erklären? Johannes Häfner findet, dass es Zeit wird für eine Neubewertung.

Die Ereignisse der Jahre 1989/1990 hatten einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf das Gefüge der universitär verfassten Geschichtswissenschaften in der ehemaligen DDR. Vieles wurde "abgewickelt", nicht wenige Wissenschaftler*innen verloren quasi über Nacht nicht nur Stelle, sondern darüber hinaus und für viele noch schmerzlicher, ihre gesamte fachliche Reputation. In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten ist dazu viel geschrieben worden. Die Debatte um (auch noch gegenwärtige) Potenziale und Grenzen der DDR-Geschichtswissenschaft scheint mir - selbst wenn häufig anderes behauptet wird - nach wie vor nicht abgeschlossen. Der folgende Text ordnet sich in diese Kontroverse ein ohne jedoch völlig in ihr aufzugehen. Er möchte diesem mittlerweile doch recht großen Forschungskomplex keine weitere Detailstudie hinzufügen, sondern einen anderen - bislang kaum beschrittenen - Weg gehen. Entlang seiner eigenen Studien-, Forschungs- und Lehrerfahrungen an bundesdeutschen historischen Instituten in den Jahren zwischen 2010 und 2019 möchte der Autor - halb analytisch, halb autobiographisch - der Frage nachspüren, ob und wenn ja, auf welche Weise die Erträge aus vier Jahrzehnten historischer Forschung in der ehemaligen DDR im anhebenden 21. Jahrhundert junge Historiker*innen im Speziellen bzw. das Geschichtsstudium im Allgemeinen beeinflussen. Mit diesem Versuch soll eine Brücke geschlagen werden zwischen dem Erinnern der "Betroffenen"-Generation und der Kohorte der "Nachgeborenen". Um zweierlei soll es mir hier allerdings nicht gehen: Ich strebe weder eine Apologie der problematischen institutionellen und inhaltlichen Anteile der DDR-Geschichtswissenschaften an, noch ist es mein Ziel, sie pauschal als "Un-Wissenschaft" zu verdammen. Die dazu geführten Kämpfe sind nicht die meinen - auch wenn sie ohne Frage notwendig sind.

DDR-Geschichtswissenschaft - ein weißer Fleck?

Zunächst einmal kann festgehalten werden: eine systematische Beschäftigung mit den Erträgen, Problemen und Grenzen der DDR-Geschichtswissenschaft fand in meinem Studium, das ich in Erfurt und Marburg absolvierte, nicht statt. Lediglich einmal - in einem Seminar zur Rezeption des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus in den beiden deutschen Staaten nach 1945 - wurde auch die DDR-Historiographie auf diesem Feld kritisch gewürdigt. Auch wenn mir die konkreten Inhalte nicht mehr bis ins Detail erinnerlich sind, so wurden hier doch für meinen Geschmack erstmals recht eindrücklich die diversen Graustufen eines Wissenschaftsfeldes herausgearbeitet, dem ich bis dahin immer nur in Kategorien wie "totalitär", "Pseudowissenschaft", "gelenkte Wissenschaft" etc. begegnet war. In der von mir angefertigten Hausarbeit konnte ich damals darstellen (eine eigenständige Forschungsleistung war das freilich nicht), dass es bei der Ex- und Inklusion diverser Widerstandsgruppen durchaus einen permanenten akademischen Aushandlungsprozess unter den Historiker*innen gab, der sich nicht in das Narrativ einer vollständig entmündigten Zunft einfügen wollte. Angeregt von dieser Erfahrung begann ich weiterzulesen - las Weißbeckers und Pätzolds Geschichte der NSDAP, stöberte in den alten Jahrgängen der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG), konsumierte auch die diversen Forschungsarbeiten aus den 1990er-Jahren von Sabrow, Kocka und anderen.1 Das Bild stellte sich nun noch komplexer für mich dar. Die beißende Polemik, die sich in Rezensionen über westdeutsche Publikationen ergoss, die nicht zu wenigstens 90 Prozent marxistisch-leninistischen Theorien und Narrativen folgten, stieß mich dabei genauso ab, wie der z.T. überhebliche Ton der Nachwendezeit, in der die sich als "Sieger*innen der Geschichte" gerierenden westdeutschen Kolleg*innen zunächst einmal damit beschäftigt waren nachzuweisen, wie unbrauchbar und tendenziös die Arbeiten ihrer ostdeutschen Pendants gewesen seien. Und ja, über eines war ich mir recht schnell im Klaren: Geschichtswissenschaft und Politik waren in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik auf eine Weise miteinander verwoben, die dem akademischen Meinungsstreit - wenigstens in der Öffentlichkeit - enge Grenzen setzte. Geschichte war unter den Auspizien der SED-Diktatur auch Legitimationsressource, um die sog. "Diktatur des Proletariats" auf deutschem Boden zu rechtfertigen. Dokumente wie der sog. "Geschichtsbeschluss" aus dem Jahr 1955 belegen in beklemmender Eindrücklichkeit, mit welcher Macht die Staatspartei nicht nur die Bevölkerung, sondern gleich die gesamte deutsche Vergangenheit zu beherrschen suchte.2 Der parteiamtliche Marxismus-Leninismus sollte alleinige Deutungsgrundlage sämtlicher historischer Analysen sein. Dieses zu konstatieren ist das eine. Es jedoch - wie nicht selten gelesen - vollständig von den spezifischen historischen Kontexten des "Kalten Krieges" und der sog. "Systemkonkurrenz" abzukoppeln und an den Maßstäben der Gegenwart des 21. Jahrhunderts zu messen, das andere. Freilich kann das je spezifische Werk nicht vom Entstehungskontext losgelöst betrachtet werden. Es aber auf diesen zu reduzieren, erscheint mir für eine Wissenschaft, die sehr viel auf ihre (häufig vermeintliche) Differenziertheit, Multiperspektivität und "Objektivität" gibt, doch etwas zu unterkomplex und wird dem allenthalben deutlichen Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaftsumfeld und Inhalt kaum gerecht, wie es in den Erträgen der DDR-Geschichtswissenschaft deutlich zutage tritt.

Kolonialgeschichtliche Forschungen als Sonderfall

Nach diesen ersten - eher punktuellen Kontakten - mit der Geschichtswissenschaft der DDR versank mein Interesse an ihr im Strudel des Studienalltags. Und aus der Rückschau zeigte sich noch einmal das bereits Angedeutete: Wer sich nicht auf eigene Faust an die Lektüre machte, der konnte ein Geschichtsstudium absolvieren, ohne mit dem Wissen belästigt zu werden, dass das eigene Fach in der Zeit nach 1949 in Deutschland mindestens zwei Wurzeln hatte. Erst nach dem Abschluss meines Studiums und mit dem Beginn meiner Dissertation zu einem kolonialgeschichtlichen Thema tauchten plötzlich - sogar in aktuellen Arbeiten - verstärkt Bezüge zu Forschungsliteratur aus der DDR auf - aus zwei einfachen Gründen, die jenseits der Fachöffentlichkeit allerdings kaum bekannt sind. Zum einen war da wieder der parteiamtliche Auftrag eines sich als antiimperialistisch gerierenden Staates, in historischen Tiefenbohrungen die kolonialistischen Aspirationen des deutschen Kaiserreiches vor der Folie marxistisch-leninistischer Imperialismustheorien zu interpretieren und sie als Neokolonialismus bis in die unmittelbare bundesrepublikanische Gegenwart fortzuschreiben. Jenseits dieses engeren politischen Hintergrundes, der die Bundesrepublik als Ganzes desavouieren und die eigenen außenpolitischen Interessen in Afrika und Asien flankieren sollte, wohnte den kolonialhistorischen Arbeiten von DDR-Historiker*innen allerdings auch ein kritischer Impuls insofern inne, als dass sie die kolonialapologetischen Tendenzen der westdeutschen Kolonialismusforschung, die sich z.T. bis in die 1970er-Jahre hielten, aufdecken und ihnen ein Gegennarrativ entgegenstellen wollten.

Ein zweiter - sehr handgreiflicher - Grund für das regelrechte Aufblühen kolonialhistorischer Studien kann in dem Faktum des Materialzugangs gesehen werden. So hatte die Rote Armee nach 1945 nahezu sämtliche Aktenbestände zum Reichskolonialamt in die Sowjetunion verbracht, von wo sie ab 1955 in die DDR zurückgeführt und der ostdeutschen Fachcommunity zugänglich gemacht wurden. Dieser privilegierte empirische Zugriff schlug sich in einer wahren Flut an größeren und kleineren immens quellengesättigten Studien nieder, die auch heute noch - wenn auch nicht selten hinter vorgehaltener Hand - wegen ihrer Materialdichte als Standardwerke gelten.

Ich begann mein Dissertationsstudium zu einer Zeit, als die deutsche Öffentlichkeit sich daran machte, über die genozidalen Folgen des Kolonialismus im 20. Jahrhundert zu debattieren. Ganz vorrangig der Völkermord an den Ovaherero und Nama in der ehemaligen Kolonie "Deutsch-Südwestafrika" (heute Namibia) stand dabei im Zentrum der Auseinandersetzung. Bis heute hat die Bundesrepublik Deutschland es nicht über sich gebracht, den Entschädigungsforderungen der Nachkommen der Ermordeten nachzukommen. In diesem Kontext ist bisweilen häufig von einer "kolonialen Amnesie" der Deutschen die Rede - die Erinnerung an den Holocaust und die Massenverbrechen an Polen, Sowjetbürger*innen und anderen hätten die Konfrontation mit dem brutalen Erbe des deutschen Dranges in die Welt vor 1914 bislang verhindert. Umso erstaunter war ich herauszufinden, dass bereits im Jahr 1966 der ostdeutsche Historiker Horst Drechsler eine voluminöse Habilitationsschrift vorgelegt hatte, in der er den Völkermord der deutschen sog. "Schutztruppe" entlang des umfangreichen Aktenmaterials minutiös nachverfolgte, obgleich seine Studie heute freilich in einigen Teilen überholt ist.3

Wie wirkmächtig Drechslers Studie wurde, zeigt eine Anekdote des Historikers Matthias Häusler, der im Jahr 2018 in seiner Dissertation zu einem Forschungsaufenthalt in Namibia bemerkte:

"In Namibia kann es passieren, dass man sich, wenn man (scheinbar) allzu naive Fragen zur deutschen Kolonialzeit stellt, der Gegenfrage ausgesetzt sieht, ob man nicht ›den Drechsler‹ gelesen habe."4

Dieses Beispiel führt vor Augen, wie konkrete lokale gesellschaftliche Formationen auch die Rezeption historischer Arbeiten beeinflussen. In Namibia, wo Teile der Bevölkerung bis heute schwer an den Folgen der deutschen Kolonialherrschaft zu tragen haben, kommt Drechslers Arbeit ein besonderer Status zu - gerade auch, weil er das widerständige Handeln der ehemals kolonisierten Ovaherero und Nama herausarbeitete und so anschlussfähig für diverse Erinnerungsdiskurse vor Ort wurde.5 In der Bundesrepublik hingegen wird die gleiche Arbeit wesentlich skeptischer rezipiert - mitunter der Autor als Teil einer pseudowissenschaftlichen Geschichtsschreibung identifiziert. Hier schlagen sich die hinlänglich bekannten und bis heute wirkmächtigen "Nachwendewehen" eines ehemals geteilten Staates nieder.

Schluss

Das Beispiel der ostdeutschen Kolonialgeschichtsschreibung lenkt unseren Blick auf ein viel fundamentaleres Spannungsfeld, in dem geschichtswissenschaftliche Arbeiten immer zu stehen scheinen. So müssen sie sich einerseits stets an gegenwärtigen Maßstäben "guten wissenschaftlichen Arbeitens" messen lassen, sind aber ihrer ganzen Anlage nach - von der Erarbeitung bis zum Vorliegen des gedruckten Buches - selbst bereits Teil historischer und gesellschaftlicher Prozesse und damit potenzielle Objekte ihrer eigenen Wissenschaft. Denn was, wie und warum erforscht wird, kann nicht abgekoppelt von akademischen und politischen gesamtgesellschaftlichen Konjunkturen begriffen werden. In der DDR-Geschichtswissenschaft materialisierte sich gewissermaßen dieser Befund. Sie steht für beides: die Instrumentalisierbarkeit der Wissenschaften im 20. Jahrhundert ebenso wie für die nach wie vor wegweisenden Forschungserträge, die im zweiten deutschen Staat zwischen 1949 und 1989 in bestimmten Feldern geleistet wurden. Die hierin ruhende, grundstürzende Ambivalenz zu benennen und mit ihr intellektuell redlich umzugehen, ist m.E. eine der Hauptkompetenzen, die ein gutes Geschichtsstudium Studierenden vermitteln sollte. Historisches Arbeiten heißt, allzu eingängige Narrative zu dekonstruieren, eine grundsätzliche Skepsis dem plumpen "Schwarz"-und-"Weiß"-Malen gegenüber zu kultivieren. Gerade deshalb gehört die DDR-Geschichtswissenschaft mit all ihren problematischen wie positiven Facetten ganz selbstverständlich ins akademische Curriculum - und zwar nicht als obskurer Treppenwitz der geteilten deutschen Geschichte, sondern als ernstzunehmende Antwort auf historische Beobachtungen und Formationen. Dem Autor jedenfalls hat die Beschäftigung mit den Beiträgen ostdeutscher Historiker*innen dabei geholfen, vermeintlich ausgetretene Forschungspfade neu aufzuschließen und akademischen Widerspruch als Prinzip demokratischer wissenschaftlicher Praxis zu internalisieren. Und nicht zuletzt in ihm die vorsichtige Vermutung reifen lassen, dass möglicherweise in der eben beschriebenen Ambivalenzproduktion die wichtigste Aufgabe der Geschichtswissenschaft überhaupt liegt.

Anmerkungen

1) Vgl.: Manfred Weißbecker, Kurt Pätzold 1981: Geschichte der NSDAP 1920-1945, Köln.

2) Vgl. hierzu bspw.: Martin Sabrow 1998: "Die Geschichtswissenschaft in der DDR und ihr ›objektiver Gegner‹", in: HZ 27: 53-91; hier besonders: 55-57.

3) Horst Drechsler 1966: Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft. Der Kampf der Herero und Nama gegen den deutschen Imperialismus (1884-1915), Berlin.

4) Matthias Häussler 2018: Der Genozid an den Herero. Krieg, Emotion und extreme Gewalt in Deutsch-Südwestafrika, Weilerswist:13, FN 11.

5) Siehe bspw.: Larissa Förster 2010: Postkoloniale Erinnerungslandschaften. Wie Deutsche und Herero in Namibia des Krieges von 1904 gedenken, Frankfurt am Main.

Johannes Häfner, geb. 1991 in Schmalkalden/Thüringen, Studium in Erfurt und Marburg, seit 2016 Promotion an der Philipps-Universität Marburg zur hessischen Kolonialgeschichte, seit April 2020 Büroleiter des Thüringer Ministerpräsidenten in der Thüringer Staatskanzlei Erfurt.

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