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Klaus Holzkamp

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Professionalisierung der Professur

13.04.2020: Interview mit Wolff-Dietrich Webler zum Zustand der Lehre an deutschen Hochschulen

  
 

Forum Wissenschaft 1/2020; Foto: Gorodenkoff / Shutterstock.com

Für eine Bestandsaufnahme von Zustand und Perspektiven der Lehre im Hochschulbereich ist eine umfassende kritische Betrachtung des Gesamtsystems Hochschule unabdingbar. Als ausgewiesener Experte für Fragen von Hochschulforschung und -praxis gilt der Herausgeber der Zeitschrift "Das Hochschulwesen", Wolff-Dietrich Webler. Er stellte sich den Fragen der Redaktion für ein ausführliches Interview über den Reformbedarf der Lehre an deutschen Hochschulen.




Forum Wissenschaft: Sie engagieren sich als Hochschulforscher und Hochschuldidaktiker seit Jahrzehnten auf dem Gebiet der Studienreform und einer Erneuerung der Lehr-/Lernstrategien. Nun sind diese Sektoren in der deutschen forschungsorientierten Hochschultradition eher untergewichtet. Unser Eindruck ist, dass die aktuelle "Exzellenzpolitik" diese Tendenzen noch verstärkt, dass Studium und Lehre angesichts höchst selektiv verteilter Forschungsmilliarden an "Spitzenuniversitäten" immer mehr zu einer Art randständigen "Restgröße" werden, für die sich keiner der politisch Verantwortlichen interessiert. Ist diese Beobachtung zutreffend oder übertrieben?

Wolff-Dietrich Webler: Dieser Eindruck war in den letzten Jahrzehnten seit etwa 1980 als Trend zutreffend, auch wenn es immer Kräfte in den Hochschulen, weiter über Stiftungen, unter Parlamentsabgeordneten bis in die Ministerien hinein gab, die annähernd eine Balance zwischen Forschung und Lehre herstellen wollten - zumindest in deren Relevanz. Inzwischen gibt es aber nicht nur Anzeichen, sondern Beschlüsse von Bund und Ländern, die - wenn auch keine Balance, so doch eine kräftige und dauerhafte Förderung von Lehre und Studium und damit zusammenhängende Förderprogramme auf den Weg gebracht haben. Wenn die hochschulbezogenen, nicht mit Forschungsförderung, sondern direkt und indirekt mit Studium und Lehre verbundenen Förderprogramme zusammengerechnet werden, kommen erhebliche Anstrengungen von Bund und Ländern zustande. Gemeint sind die Programme "Qualitätspakt Lehre", "Hochschulpakt 2020", Wettbewerb "Aufstieg durch Bildung: offene Hochschulen" sowie als neuestes "Innovation in der Hochschullehre". Zwar gab es immer eine starke Tendenz, die Forschung einseitig zu fördern, aber allmählich dämmerte, dass eine Vernachlässigung von Lehre und Studium sich mittelfristig äußerst negativ auswirken könnte, weil die Absolvent*innen nicht die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen könnten. Der "Qualitätspakt Lehre" hat schon einiges in den Hochschulen bewegt, und der neueste Beschluss der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK) will das auf Dauer stellen.

Die Gegenbewegung zur Aufwertung von Lehrleistungen und erfolgreichem Studium nimmt folglich an Stärke zu. Schon die Einführung der LOM, der leistungsorientierten Mittelzuweisung, in die auch studienbezogene Erfolgsindikatoren aufgenommen wurden, war ein starkes Signal. Die alte Forderung, parallel zur Deutschen Forschungsgemeinschaft eine Lehrgemeinschaft als Förderinstanz zu schaffen, hat nach erheblichem Widerstand und der Verschleppung praktischer Maßnahmen jetzt einen Durchbruch erzielt: Die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz (GWK) hat im Dezember 2019 eine entsprechende Infrastruktur und Finanzierung beschlossen. Unter dem Dach der Hamburger Töpfer Stiftung als Trägerinstitution soll eine - wie es noch neutral heißt - Organisationseinheit aufgebaut werden, die durch entsprechende Förderformate im Rahmen des Programms "Innovation in der Hochschullehre" die Weiterentwicklung der Lehre an Hochschulen sowie ihre Stärkung im Hochschulsystem insgesamt fördern soll. Dafür stellen Bund und Länder jährlich 150 Millionen Euro bereit. Das bedeutet ja nicht die Finanzierung des Studienbetriebs, sondern allein eines Teils seiner Reformprojekte. Das ist immerhin ein viel versprechender Anfang in Richtung einer Deutschen Lehr-/Lerngemeinschaft nach dem Muster der DFG. Die neue Organisationseinheit soll 2021 ihre Arbeit aufnehmen. Es soll um die wissenschaftsgeleitete Förderung von Projekten gehen, insbesondere zur strategisch-strukturellen Stärkung der Hochschulen in Studium und Lehre sowie zu innovativen, themenbezogenen Forschungs- und Entwicklungsprojekten. Wie gesagt, das ist ein richtungsweisender Anfang.

So erfreulich der Aufbau einer solchen Infrastruktur für kontinuierliche Reformen ist, so ist die Politik noch nicht am eigentlichen Kern des Problems angekommen: Am einseitigen und inzwischen abwegigen Berufsbild der Professur und ihrer Berufungskriterien, die die realen Anforderungen in ihrer Breite in keiner Weise abbildet. In unterschiedlichem Umfang, aber gleichrangig notwendig sind Forschung, Lehre, professionelles Prüfen (das z.B. testtheoretischen Anforderungen vielfach nicht standhält), Curriculumentwicklung, Projektmanagement, Personalführung, Betreuung des wissenschaftlichen Nachwuchses, Transfer, Weiterbildung und professionelle akademische Selbstverwaltung zu erlernen. Die sozialen Kosten des diesbezüglichen Dilettantismus sind viel zu hoch. Das bedeutet keine Kritik an Einzelpersonen, sondern es handelt sich um Systemfehler, die nur politisch, vom staatlichen Träger des öffentlichen Wissenschaftssystems, korrigiert werden können. Die sog. akademische Laufbahn muss den realen Anforderungen angepasst werden.

Das Hauptproblem scheint mir zu sein, dass inzwischen drei Generationen von Professor*innen im Namen der Forschung und allein nach Forschungskriterien berufen worden sind. Viele von ihnen - wie wir aus Schilderungen von wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen wissen - raten sogar davon ab, sich um Lehre zeitaufwändig zu kümmern, fordern statt dessen dazu auf, lieber einen weiteren forschungsbezogenen Aufsatz zu schreiben oder verweigern ihren Mitarbeiter*innen sogar die Freigabe für eine hochschuldidaktische Fortbildung. In diesem Klima macht sich verdächtig, wer sich intensiver um Lehre kümmert. Das Interesse an Forschung - und damit an einer Karriere hin zur Professur - scheint dann nicht allzu ausgeprägt zu sein. Leser*innen dieser Zeilen, die das nicht erlebt haben, werden den Kopf schütteln - ich kann aber versichern, dass dies vielfältig bestätigte Fakten sind. Je weniger sich um Grundlagen lernförderlicher, erfolgreicher Lehre gekümmert wird, desto eher hält sich die Überzeugung, wer gut forsche, könne auch gut lehren. Hier wird nicht von der Anleitung menschlichen Lernens ausgegangen, sondern vom sachkompetenten Vortrag von Forschungsergebnissen. Dann wird auch das Defizit nicht begriffen. Die Fortbildung läge dann nämlich in weiterer Forschung.

Ungleichgewicht zwischen Forschung und Lehre

FW: Sind die Ursachen dieser Entwicklung erkannt? Ohne die Ursachen zu kennen, kann auch keine Wende auf Dauer erfolgreich eingeleitet werden.

Webler: Eine gravierende Wende und Entwicklung zum Ungleichgewicht zwischen Forschung und Lehre hat verstärkt im Laufe der 1970er Jahre stattgefunden - zunächst allein forschungsbezogen, sodass die Folgen für Lehre und Studium den Entscheidungsinstanzen nicht ausreichend deutlich waren. Die Wissenschaftspolitik wollte a) die bis dahin lebenslang geltenden Berufungszusagen befristen und (alle 5, alle 7 Jahre) neu verhandelbar machen; b) Doppelforschung möglichst vermeiden; c) daher und zur Qualitätssteigerung eine kollegiale Begutachtung herbeiführen; d) dafür die Strukturen der DFG nutzen. Also wurden die Berufungszusagen erheblich gesenkt, die Mittel stattdessen der DFG zugewiesen, sodass Forschung aus "Bordmitteln" immer weniger möglich war (allenfalls noch als "Anforschung" größerer Projekte bis zur Antragsreife) und die Forschung in eine antragsfähige Projektform gelenkt, die auf eine Finanzierung durch Drittmittel angewiesen war. Dieser mit Steuerungsabsicht herbeigeführte Mangel in den regulären Haushaltsmitteln führte zu viel zahlreicheren und größeren Anträgen, als die DFG fördern konnte. Selbst bei Berücksichtigung einer Ausfallquote durch Ablehnungen der Gutachter mangels Qualität des Vorhabens überstieg die Zahl der im Grundsatz förderwürdigen Anträge bei weitem das mögliche Fördervolumen der DFG. Die Anträge hatten eine erhebliche Qualität (wer will sich schon vor kollegialen Gutachter*innen blamieren?). Die Folge war ein Absinken der Förderquote auf anfangs noch 37% bis herunter zu zeitweise 27%. Was übrigens aus den übrigen über 60 bis 70% abgelehnten Projektanträgen wurde, hat niemand festgestellt. Allein dieser Wettbewerb führte a) dazu, dass immer mehr Arbeitszeit in die Vorbereitung der Anträge investiert wurde (inkl. Pilotuntersuchungen), die infolgedessen den anderen Aufgaben nicht mehr zur Verfügung stand und b) dass im inneruniversitären Wettbewerb in den Verteilungskämpfen um reguläre Haushaltsmittel wie auch den Kämpfen um Berücksichtigung des eigenen Arbeitsgebietes in der einsetzenden Profilbildung die Erfolge bei der Einwerbung von Drittmitteln zum Erfolgsindikator wurden. Erfolg in der Forschung war mit solchen Indikatoren leichter messbar als Erfolg in der Lehre. Das wurde über Publikationserfolge in referierten Zeitschriften und mit Hilfe entsprechender impact-Werte immer weiter verfeinert. In zehn Jahren Mitgliedschaft in der zentralen Forschungskommission der Universität Bielefeld habe ich diesen Prozess auch lokal vielfach beobachten und diskutieren können.

Die Sanktionen durch mangelnde Drittmitteleinwerbung (Einschränkung eigener Erkenntnisprozesse durch mangelnde Mittelbewilligung) waren ungleich spürbarer als etwa eine negative Wirkung nachlassenden Engagements in der Lehre.

Anders als in Ländern mit Studiengebühren bildet die Frage der Attraktivität für ausländische Studierende im Gegensatz etwa zu Großbritannien oder den Niederlanden für staatliche Hochschulen in Deutschland keinen wirtschaftlichen Faktor im Hochschulhaushalt. Sonst wäre das ein Treiber für gute Lehre. In den genannten Ländern zahlen ausländische Studierende so hohe Studiengebühren, dass man diese Gruppe auf keinen Fall durch nachlässige Lehre verlieren will.

Sie haben die "Exzellenzpolitik" angesprochen. Bei der Exzellenzstrategie kommen unterschiedliche Absichten zusammen und der Fokus liegt auf den Siegern. Aber wenn man sich die Situation der zahlreichen "Verlierer" ansieht, so handelt es sich z.T. um eine Bankrotterklärung staatlicher Hochschulpolitik. Weil die Mittel nicht für alle reichen, werden sie in einem Wettbewerb nur an wenige Sieger verteilt. Dabei wird in Kauf genommen, dass die zahlreichen Verlierer auch künftig (mangels Investitionen) nur geringere Qualität erreichen, soweit sie ressourcenabhängig ist. Trotzdem werden bundesweit die gleichen akademischen Grade verliehen.

Aber diese negative Entwicklung ist nun auch politisch registriert worden. Die neugewählte Vorsitzende des Wissenschaftsrates hat die in der Hochschulforschung schon länger erkannte "Überhitzung" der Drittmittelfinanzierung öffentlich aufgegriffen. Die noch immer wachsende Zahl der Studierenden und der dahinter stehenden Familien (alle wahlberechtigt) erzeugt wachsenden Druck auf die Verbesserung von Studium und Lehre. Die Studienerfolgsquoten (immerhin erhoben und veröffentlicht, was keineswegs selbstverständlich war) haben die Öffentlichkeit alarmiert. Der hochschulseitig ständige Hinweis auf mangelnde Studierfähigkeit, auf immer schlechter vorbereitete und in ihrem Studienverhalten mangelhafte Studierende verliert an Glaubwürdigkeit, weil immer mehr empirische Ursachenanalysen auf Defizite in den Universitäten selbst verweisen - z.B. in der universitären Lehrerbildung, deren Defizite den Universitäten über die Schulen und deren Absolvent*innen als Erstsemester wieder auf die Füße fallen.

Neugier und Zweifel wecken

FW: Um zurück zur guten Lehre zu kommen: Was wird eigentlich unter guter Lehre verstanden? Eine, die möglichst zum kritischen Denken anregt, Raum für eigene Schwerpunktsetzung lässt oder aber möglichst effektiv auf künftige Arbeitsfelder vorbereitet?

Webler: Es ist nicht vergessen, dass bei den Beratungen der Regierungsvorlage zum Hochschulrahmengesetz die Mehrheitsfraktion im damaligen Bundestag "kritisches Denken" als ein Ziel des Studiums 1975 aus der Gesetzesvorlage gestrichen hat. Zunächst sehr allgemein geantwortet: Eine alternative Gegenüberstellung von Lehre, durch die Studierende "entweder kritisch denken lernen oder möglichst effektiv auf künftige Arbeitsfelder vorbereitet" werden - wie Sie eben formuliert haben - existiert so nicht. Denn alle Menschen müssen ihren Lebensunterhalt verdienen können - und die Studierenden erwarten dies auch mit Recht als eines der Ziele des Studiums. Aber eben nur als eines.

Ihre Frage bezieht sich mehr auf die Ziele als auf den Prozess guter Lehre; für Letzteres gilt allerdings: Vor allem lernförderlich muss sie sein - nicht nur ein Fach kompetent ausbreiten. Die Ziele sind vom Bundestag herausragend in den §§7 und 8 des Hochschulrahmengesetzes (HRG) festgelegt worden. Für diese Formulierungen und den parlamentarischen Auftrag an die Hochschulen - immer noch im Schatten der deutschen Geschichte seit den Hochschulversäumnissen der 1920er Jahre, in denen das Kaiserreich nicht abgeschüttelt wurde - wird Deutschland im Ausland vielfach bewundert. Lehre, die als "gut" zu bezeichnen ist, muss in allen Fächern den vollen Wortlaut des §7 HRG einlösen: "Lehre und Studium sollen den Studenten auf ein berufliches Tätigkeitsfeld vorbereiten und ihm die dafür erforderlichen fachlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und Methoden dem jeweiligen Studiengang entsprechend so vermitteln, dass er zu wissenschaftlicher oder künstlerischer Arbeit und zu verantwortlichem Handeln in einem freiheitlichen, demokratischen und sozialen Rechtsstaat befähigt wird." Die Einschränkung auf ein "berufliches" Tätigkeitsfeld statt auf eine breitere "Praxis" war lange umstritten, d.h. Studierende gleichermaßen auf ihre privaten, beruflichen und öffentlichen Aufgaben vorzubereiten.

Ein Maßstab in England lautet z.B. in der Universität Oxford: Ein Studium dient dazu, "um sich zu bilden und sich auf ein gesellschaftlich nützliches Leben vorzubereiten". Mit dem "sich" wird deutlich, wo das Aktivitäts- und Verantwortungszentrum gesehen wird: bei den Studierenden. Im Hochschulrahmengesetz kommt für deutsche Hochschulen ein weiterer Auftrag hinzu, der häufig missverstanden wird: §<|>8 Studienreform: "Die Hochschulen haben die ständige Aufgabe, im Zusammenwirken mit den zuständigen staatlichen Stellen Inhalte und Formen des Studiums im Hinblick auf die Entwicklungen in Wissenschaft und Kunst, die Bedürfnisse der beruflichen Praxis und die notwendigen Veränderungen in der Berufswelt zu überprüfen und weiterzuentwickeln." Der erste Teil des §8 enthält nichts Ungewöhnliches. Aber die Formulierung: "…Inhalte und Formen des Studiums im Hinblick auf […] die Bedürfnisse der beruflichen Praxis […] zu überprüfen und weiterzuentwickeln" könnte zu dem Schluss führen, dass hier eine "Abbildungsdidaktik" gefordert wird: Die Hochschulen fragen die berufliche Praxis, fragen Arbeitgeberverbände, IHK und Gewerkschaften nach ihren Bedürfnissen und passen Inhalte und Formen des Studiums daran an… Das entspricht aber weder dem genauen Wortlaut, noch dem Auftrag und dem Selbstverständnis der Hochschulen, kritische Instanzen in der Gesellschaft zu sein. Vor allem müssen die Hochschulen auch Anwalt der Interessen ihrer Studierenden sein. Diese Interessen besagen, die Studierenden nicht nur auf eine berufliche Tätigkeit (Berufsbefähigung), sondern - wie oben genannt - gleichermaßen auf ihre privaten, beruflichen und öffentlichen Aufgaben vorzubereiten, oft zusammengefasst in dem Bild von Persönlichkeitsentwicklung, die im Studium vorangetrieben werden müsse. (im Gegensatz zur engen Forderung nach employability). Und selbst innerhalb der Berufsbefähigung führt die Verantwortung der Hochschulen dazu, die Studierenden mit einem flexiblen, generalistischen Profil auszustatten, das ihnen erlaubt, sich im Arbeitsmarkt möglichst lange zu halten, also wechselnden beruflichen Anforderungen optimal gewachsen zu sehen. Manche Betriebe fordern u.U. den sofort einsetzbaren Spezialisten, weil dieser die geringsten innerbetrieblichen Einarbeitungskosten verursacht. In dieser Spezialisierung fehlt es dann aber an beruflicher Flexibilität. Solche Fragen stellen sich den Hochschulen heute verstärkt angesichts der vielen spezialisierten Bachelor- und besonders Master-Programme. Die Arbeitsmarktchancen ihrer Absolvent*innen spielen bei den Entscheidungen offensichtlich kaum eine Rolle und werden auch in den Akkreditierungsverfahren von den Gutachtern oft zu wenig ins Kalkül gezogen.

Brisanz enthält auch in diesem Paragraphen der letzte Halbsatz. Damit wird den Hochschulen ein Prüfauftrag erteilt, den sie großenteils noch nicht registriert, geschweige denn ausgeführt haben. Welche Veränderungen in der Berufswelt sind notwendig? Und wie schlagen sie sich dann in den Inhalten und Formen des Studiums nieder? Der Auftrag lautet unumwunden, die Arbeitsgesellschaft konzeptionell und prognostisch weiter zu denken. Das ist auch notwendig, denn bis Anpassungen des Studiums im Arbeitsmarkt wirksam werden können, vergehen i.d.R. etwa sieben Jahre.

Die kürzeste Definition guter Lehre kommt wieder aus England: Lehre ist dann exzellent, wenn sie Neugier und Zweifel weckt (couriosity and doubt) - eine einmalige Grundlage für lebenslanges Lernen. Meistens wird dann skeptisch zurückgefragt: Wo bleibt denn der Stoff? Antwort: Wissenschaftliche Neugier kann sich nur an Inhalten befriedigen - die kommen dann von selbst, wenn der Neugier gefolgt wird, aber eben als neugiergeleitetes Lernen. Ein Harvard-Preisträger (für exzellente Lehre) formuliert zu seiner zentralen, preiswürdigen Lehridee: "Ich führe die Studierenden als erstes auf ein Gelände, wo ihre Denkroutinen versagen. Dann beginnt Lernen." Das hat ein bisschen andere Qualität als manche Debatte in Deutschland.

FW: Wie wird die Güte denn gemeinhin gemessen, bzw. welche Indikatoren sind Ihres Erachtens geeignet, die Qualität der Lehre zu untersuchen? Und welche Rolle spielen hierbei die Studierenden?

Webler: Die Qualität der Lehre ist am höchsten, wenn auch der Lernerfolg am höchsten ist. Insofern handelt es sich prioritär um Lernveranstaltungen, nicht Lehrveranstaltungen. Das ist keine Haarspalterei. Das bildet den Hintergrund für den international geforderten "shift from teaching to learning" oder den Satz, dass der Fokus der Betrachtung weniger auf dem input, als auf das outcome, also auf dem liegt, was Studierende anschließend definitiv können. Insofern sollten die Curricula Raum geben, damit die Studierenden ihre Lernbedürfnisse (in Richtung der Studienziele) einbringen können. Daraus lassen sich Indikatoren ableiten.

Lernerfolg zu messen ist außerordentlich schwer, weil viele Erfolge zunächst verdeckt erreicht werden und daher zunächst kaum erfassbar sind. Natürlich können Vorher/Nachher-Szenarios weiterhelfen. Aber doch erst in einem gewissen zeitlichen Abstand. Besonders schwer greifbar sind die Änderung und Neuentwicklung von Einstellungen und Haltungen, die erst allmählich erfolgen und auch den Betroffenen erst allmählich klar werden. Auf solchen Lernwegen sind monokausale Herleitungen oft falsch, weil eine Fülle von Eindrücken in dem Zeitraum gesammelt wurde. Die Vorgänge sind ja nicht im Labor isolierbar. Eher messbar sind Eindrücke der Studierenden, ob der Lehr-/Lernzusammenhang ihrem Eindruck nach zu Lernen geführt hat. In Befragungen gesammelt werden können auch Eindrücke von Kommilitonen als einfache Beobachtung des Lernerfolgs ihrer Nachbarn - ein Mittel, anwendbar natürlich nur in interaktiven Veranstaltungen, von dem wenig Gebrauch gemacht wird. Aber Nachbarn fallen Änderungen im Laufe des Semesters oft eher auf als den Betroffenen selber.

Lehrqualität im internationalen Vergleich

FW: In Ihrer langjährigen Forschung haben Sie die Lehrqualität auch im internationalen Vergleich untersucht. Wo steht die deutsche Hochschullandschaft in dieser Hinsicht?

Webler: In den USA war die akademische Lehre seit langem relativ hoch entwickelt. Das hängt mit dem Stellenwert der Studiengebühren zusammen, die auch bei staatlichen Universitäten einen wesentlichen Teil des Haushalts ausmachen - also Abhängigkeit bedeuten. Diese Einnahmen aus privaten Quellen durch gute Lehre zu pflegen, ist notwendig. Wohlhabende Familien zu den Kosten des Studiums heranzuziehen ist sinnvoll, statt genau bei ihnen Steuermittel einzusetzen - immer unter der Voraussetzung, es existiert ein leistungsfähiges Stipendienwesen - auch in der Höhe seiner Leistungen, sodass niemand aus solchen Gründen ausgeschlossen wird. Das ist in Deutschland jedoch nicht der Fall. In Harvard erhalten z.B. 52% der Studierenden ein Harvard-Stipendium! Das hängt mit der gesamten Philosophie der Gesellschaft zusammen, die selbst bei staatlichen Universitäten auch finanziell viel mehr auf Privatinitiative setzt als in Deutschland. In Deutschland ist praktisch unbekannt, dass ausgerechnet die forschungsintensive Harvard Universität seit langem das größte Hochschuldidaktik-Zentrum der USA unterhält - inzwischen sogar ein zweites für manche Hochschul-Fachdidaktiken - und andere sogenannte Elite-Universitäten ähnlich. Außerdem gilt in den USA ein anderes Leitbild der Professur: Erwartet wird exzellente Forschung und ebenso exzellente Lehre! Dort findet schon seit Mitte der 1960er Jahre das sog. student rating statt - eine kurze Beurteilung der Veranstaltung in Frageform sowie ein freier Kommentar, der sich liest wie eine Theaterkritik. Die Ergebnisse werden auf dem Campus veröffentlicht. Dort habe ich eine Veranstaltung erlebt, die auf einer 5er-Skala (5 als bester Wert) mit einem Mittelwert von 5,0 endete! Die Studierenden, die ich anschließend sprach, antworteten einheitlich: "Das kann man einfach besser nicht machen!" Das Geheimnis liegt (neben hochschuldidaktischer Schulung) darin, dass einzelne Veranstaltungen über längere Zeit von der gleichen Person durchgeführt werden; an dieser Veranstaltung wird immer weiter gefeilt, sodass sie nahezu perfekt werden kann. Umgekehrt ist ein Ergebnis von 3,0 auf einer 5er-Skala Anlass für ein ernstes Gespräch beim Dean, bei dem die Beendigung des Arbeitsverhältnisses in Aussicht gestellt wird, wenn nicht in eine intensive Schulung eingetreten wird. Weiter mit Beispielen internationaler Lehrqualität: Die Niederlande (hier vor allem Maastricht) waren die ersten, die in Europa das Modell des problembasierten Lernens aus dem Medizinstudium an der Universität in Hamilton (Canada) übernommen haben, bevor es sich dann auch schnell in Skandinavien ausbreitete.

Besonders bedauert habe ich, dass Großbritannien und Deutschland Anfang der 1970er Jahre in ihrer Entwicklung der Lehre etwa gleichauf waren. Inzwischen ist Großbritannien Meilen voraus! Auch in Skandinavien wird Lehrkompetenz hoch geachtet. Ein äußerst fähiger Historiker aus Deutschland wurde nicht auf eine Professur in Schweden berufen, weil er nur drei hochschuldidaktische Workshops in Deutschland besucht hatte. In romanischen Ländern tut sich lernförderliche Lehre etwas schwer, weil dort (häufig noch anzutreffen) ein Klima und Selbstbild der Selbstdarstellung als Gelehrter herrscht. In Großbritannien und Skandinavien gehört eine hochschuldidaktische Ausbildung zur Pflicht für alle, die Lehraufgaben übernehmen. Und zwar mit 300 bis 350 Präsenzstunden - also einem vollen Drittel mehr als die freiwilligen Fortbildungen in Deutschland mit dem hiesigen Rahmen von 200 bis 240 Präsenzstunden. In Großbritannien und Skandinavien muss ein entsprechendes Zertifikat vorgelegt werden. Wer eine solche Ausbildung noch nicht absolviert hat, muss sich in Großbritannien direkt im Arbeitsvertrag verpflichten, dies binnen zwei Jahren nachzuholen - in Skandinavien genauso, aber binnen drei Jahren. In Deutschland ist das noch weitgehend undenkbar, dafür Mehrheiten zu finden. Das wäre Aufgabe des Dienstherren, also der Länder, eine solche Regelung zu treffen. Bis dahin geht es mit den unhaltbaren Thesen weiter, Lehrbefähigung sei angeboren (was nur in wenigen Fällen tatsächlich vorkommt) oder "wer gut forscht, kann auch gut lehren" oder die Studierenden in voller Autonomie: "Wir machen Angebote - sich um Lernen zu kümmern, ist allein Aufgabe der Studierenden". Ich kenne bisher nur eine einzige, zusammenhängende Gruppe privater Hochschulen in Deutschland, die dies im vergangenen Jahr für alle Lehrenden zur Pflicht erklärt hat: die Medical School Hamburg, Business School Hamburg sowie die Medical School Berlin und Business School Berlin. Das deutsche Hochschulsystem ist bisher nicht in der Lage, für die Forschung geltende selbstverständliche Bedingungen wissenschaftlicher Tätigkeit auch auf Lehre zu übertragen: wissenschaftsgeleitet zu agieren. Dazu müssten die Lehrenden aller Fächer zunächst einmal sehr viel mehr über die Bedürfnisse menschlichen Lernens lernen, um ihre Lehre nicht in erster Linie nach der Systematik des disziplinären Forschungsgebäudes, sondern nach den Bedürfnissen menschlichen Lernens ausrichten zu können. Der Mensch lernt zwischen Geburt und Einschulung mehr und schneller als jemals wieder in seinem Leben - und die Lernforschung hat Erklärungen dafür. Kleinkinder lernen aus Neugier und an Hindernissen, die sie interessieren. Und die Hochschulen verfügen seit langem über eines der erfolgreichsten Lernmotive der Welt: Die Forschung. Warum wird das nicht oder nur zögernd (in Gestalt des forschenden Lernens) und in hohen Semestern eingeführt? Neugier ist eines der stärksten menschlichen Motive, die wir kennen.

FW: Wie es in Ihrer letzten Antwort bereits anklang, ist Lehre in Deutschland nicht immer "gut" oder gar "exzellent". Dass für die Lehre und ihre Reform politischer Handlungsbedarf besteht, hat sich daher auch bis in die offizielle Hochschulpolitik herumgesprochen. Über "Qualität der Lehre" wird, verbunden mit Preisverleihungen und "Wettbewerben", seit mindestens zwanzig Jahren diskutiert. Die Frage wäre also, ob das reine Symbolpolitik ist oder ob daraus bisher auch positive Effekte entsprungen sind? Wie schätzen Sie beispielsweise die Wirkung des nun (in veränderter Form) erneut aufgelegten "Qualitätspakt Lehre" ein?

Webler: Natürlich begann das Ganze als Symbolpolitik, um zumindest Denkanstöße zu bewirken, dass es nicht nur die renommierten Forschungspreise geben kann und darf, sondern exzellente Lehrleistungen ebenfalls preiswürdig sind. Aber ohne Änderung der Rahmenbedingungen bleibt das Stückwerk. Das jüngste Programm "Innovation in der Hochschullehre", das hier gemeint ist, habe ich ja schon ausführlich kommentiert. Als Projektförderprogramm macht es Sinn, kann aber die Reform grundlegender Rahmenbedingungen nicht ersetzen - Stichwort Berufsbild der Professur. Solchen Forderungen nach breiterer Kompetenz wird schnell entgegengehalten, das sei viel zu zeitaufwändig. Das ist Unsinn und missachtet diese anderen Aufgaben. Alle dazu nötigen Fortbildungsprogramme gibt es schon - für die Lehrkompetenz sind 9 Wochenenden vorgesehen - auf internationalem Niveau dann 12. Der ganze Rest erfordert etwa nochmal den gleichen Umfang. Nochmal zum Nachrechnen: Zum Erwerb der Forschungskompetenz sind ohne Widerspruch 7 Jahre notwendig: Bachelor- und Masterarbeit zusammen 6 Monate, Promotion 3 Jahre, Habilitation oder habilitationsgleiche Leistungen - etwa in der Juniorprofessur mindestens 3,5 Jahre - ergibt 7 Jahre. Und diese o.g. breiteren Kompetenzen ersparen später viel Zeit und Konflikte.

FW: Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund den derzeitigen Zustand im deutschen Hochschulsystem? Welche Mängel und Probleme sind im Bereich der Lehre besonders relevant, werden diese angegangen?

Webler: Der Zustand von Lehre und Studium sowie der Prüfungen ist in vieler Hinsicht unzulänglich. Wenn auch nur annähernd Maßstäbe auf der gleichen Anspruchshöhe wie in der Forschung eingesetzt werden - und es gibt keinen Grund, in einer wissenschaftlichen Einrichtung davon abzusehen - dann wird es Zeit, wissenschaftliche Lehre und wissenschaftliches Studium auf eine wissenschaftliche Basis zu stellen. Fachwissenschaftliche Ergebnisse vorzutragen erfüllt diese Forderung jedenfalls nicht. Defizite werden nur unzureichend angegangen - und wenn, dann freiwillig und nur punktuell. Forschungserfolge als alleiniges Reputationssystem blockieren die anderen Initiativen.

Bologna: Chancen für die Lehre?

FW: Welche Rolle spielt dabei die Bolognareform? Der BdWi hat immer eine sehr kritische Position gegenüber dem Bologna-Prozess vertreten, auch weil wir vermutet haben, dass dabei bildungsökonomische Motive einer Verkürzung, Verdichtung und Verschulung des Studiums, um Einsparungen zu erwirtschaften, im Zentrum standen und stehen. Gleichzeitig wissen wir, dass eine schlichte Forderung wie "Stop dem Bologna-Prozess!" auch nirgendwo hinführt, weil sich die offenen Defizite der Studienreform, die unbestritten sind, so nicht bewältigen lassen. Daraus ergibt sich die Frage, ob es in einzelnen Fällen der Bolognareform auch beispielhaft positive Ergebnisse gibt, die möglicherweise quer zu den genannten Motiven liegen und sich möglicherweise politisch verallgemeinern lassen?

Webler: In Deutschland ist kaum bekannt, dass scharf unterschieden werden muss, was in den Bologna-Papieren tatsächlich steht, was dadurch möglich wäre - und was in Deutschland daraus gemacht wurde. Bologna-Studiengänge im Ausland (etwa in Skandinavien) können auf der gleichen Grundlage sehr viel freier sein. Wir sprechen also von der deutschen Art der Umsetzung der Bologna-Vereinbarungen. Von der Ebene der Bildungsminister, die den Vertrag geschlossen haben, bis herunter zum Justitiar der einzelnen Hochschule ist immer noch etwas im Namen von Bologna draufgesattelt worden (z.B. um Dinge "gerichtsfest zu machen"). Und dann haben Fachvertreter*innen auf Fachbereichsebene in einem 6- statt 8-semestrigen Studium (wie bisher) um die Unversehrtheit ihrer Lehrgebiete gekämpft und die Module stoffüberfrachtet, statt den Studiengang von den Zielen her zu reformieren (§7 und 8HRG). Nebenfächer und Dispositionsspielräume der Studierenden wurden gelöscht. Die Verschulung nahm schrittweise zu. Es waren vielfach keine bildungsökonomischen Motive, kein Generalplan, sondern der curriculare Interessenhorizont der Fachvertreter*innen selbst, verbunden damit, dass professionelle Studiengangsentwicklung bisher nicht zu den Kenntnissen und Fähigkeiten gehört, die auf dem Weg zur Professur üblicherweise erworben werden.

Bis heute ist in vielen Fachbereichen noch immer unzureichend bewusst, was der Unterschied zwischen fachlichem input in der Lehre und dem tatsächlich gelernten outcome bei den Studierenden bedeutet und welche Folgen das für die Lehre und Lehrmenge hat.

Aus den Bologna-Grundlagen können sehr reizvolle Studiengänge auf Bachelor- und Master-Niveau entwickelt werden - wenn gewusst wird, wie. Die Formel, die Bologna-Reform habe die Humboldtsche Universitätsidee getötet, ist unzutreffend - allenfalls ihre deutsche Variante hat das geschafft.

FW: Wenn man sinnvoll über Studienreformstrategien diskutieren will, kommt man nicht um die Frage der Entscheidungsstrukturen an Hochschulen herum. In der - hochgradig kontrovers politisierten - Studienreformdiskussion der End60er und 70er Jahre wurde von den Hochschulreformern angenommen, dass es einen untrennbaren Zusammenhang von Studienreform und Mitbestimmung gebe. Dabei hatte man insbesondere die nicht-professoralen Statusgruppen im Blick, da der sog. Mittelbau die Hauptlast der Lehre trug und Studierende nicht als Konsumenten von Lehre, sondern als Mitproduzenten von Studienerfolgen betrachtet wurden. Davon sind wir heute weit entfernt, und zwar in dem Maße, wie sich seit den 90er Jahren das Leitbild der "unternehmerischen Hochschule" mit gestärkter Exekutive an der Spitze und noch weiter eingeschränkter akademischer Selbstverwaltung durchgesetzt hat. Daraus ergibt sich folglich die Frage, wie sich im Zusammenhang mit Studienreform aktuell der Gedanke von Mitbestimmung in horizontalen Strukturen wieder stärken lässt?

Webler: Natürlich hat akademische Selbstverwaltung einen besonders hohen Wert (wenn sie professionell wahrgenommen wird, denn den bisherigen Dilettantismus können wir uns nicht länger leisten). Hoch zu schätzen sind Hochschulen, die von unten nach oben organisiert sind, aber dazu gehört eine Menge Personalentwicklung in allen Statusgruppen - also auch den Studierenden. Die Probleme sind nicht gelöst, wenn den Studierendenvertretern nur mehr Einfluss eingeräumt wird. Das sind idealisierte Vorstellungen von Studierenden, und die zu entscheidenden Vorlagen sind zu komplex. Aber das ist mit überschaubarem Aufwand erlernbar, und Fachschaftsvertreter*innen sind diesen Weg oft schon ein gutes Stück gegangen.

Zu Veränderungen in den Beziehungen zwischen zwei Seiten gehören - wie bei Verträgen oder informellen Vereinbarungen - bekanntlich zwei. Durch die alleinige Ausrichtung auf Forschung galten alle anderen Tätigkeiten als Ablenkung vom Wesentlichen. Universitäten waren ihrer Grundidee nach seit ihrem Bestehen von unten nach oben aufgebaut, und nicht umgekehrt (vielleicht mit Ausnahme der frühen Pariser Universität durch den kirchlichen Einfluss). Die 1968 eingeführte Gruppenuniversität war amateurhaft organisiert und wurde nicht wegen ihrer Struktur, sondern ihrer Organisation und mangelnden Professionalität so schwerfällig, dass sie schlechtgeredet und abgeschafft werden konnte. Es ist schon bemerkenswert, dass in der sog. Freien Wirtschaft Führungskonzepte flacher Hierarchien der Mitverantwortung und des Mitdenkens eingeführt werden, während die Hochschulen die alten Modelle einführen sollen. Mangels Wissen über die Vorteile akademischer Selbstverwaltung ist sie leichtfertig preisgegeben worden. Es lohnt sich, das berühmt gewordene sog. Hochschulurteil des Bundesverfassungsgerichts von 1973 nochmal zu lesen. Zum Entsetzen der damaligen professoralen Kläger wurden auch die Studierenden zu Trägern der Wissenschaft erklärt, zu Mitproduzenten von Wissenschaft. Auch konnten akademische Gremien über Studiengänge und Studienstrukturen und damit auch über Studieninhalte entscheiden. Die individuelle Lehrfreiheit wurde auf die Auswahl der Inhalte in der einzelnen Veranstaltung und auf die Wahl der Methodik beschränkt. Wenn die ständige Argumentation der Gruppe der Professor*innen aufgegriffen wird, dann sollten Stimmrecht in der Studienreform diejenigen erhalten, die nachgewiesene Expertise besitzen. Und das sind alle Lehrenden, die nicht nur Fachexperten sind, sondern eine professionelle Fortbildung für die Lehre durchlaufen haben sowie die Studierenden, die - als Einzige - Expert*innen ihrer persönlichen Lernbedürfnisse sind.

Wenn sich Fachschaften wieder in der Lage sähen, Studienrefomvorschläge auf der Basis der hochschuldidaktischen Forschung zu erstellen und dies ausweisen könnten, würden ihre Vorschläge sicherlich konstruktiv geprüft. Wenn das Ausmaß des Selbststudiums ausgedehnt würde (dafür gibt es zahlreiche Varianten), käme das den von Korrekturlasten geplagten Lehrenden sehr entgegen. Für Fachschaften gibt es übrigens ebenfalls Weiterbildungsangebote für solche Aufgaben bis hin zu Strategien, ihre Konzepte einzuführen und erfolgreich zu vertreten.

Mittelbau und Lehrqualität

FW: Wenn es um Mitbestimmung geht, ist auch der Mittelbau an den Hochschulen angesprochen. Dieser befindet sich bekanntlich schon seit Jahren in einer Spirale aus häufig befristeten Verträgen, ungewissen Zukunftsperspektiven, kompetitivem Umfeld und vielerorts einer enormen Lehrbelastung. Wie wirken sich die schwierigen Arbeitsbedingungen - insbesondere im Mittelbau - auf die Lehrqualität aus?

Webler: Natürlich müssen die Arbeitsbedingungen dringend reformiert werden, aber das hängt eng mit Ausbildungskontexten, die natürlich befristet sind, und Drittmittelabhängigkeit in Projekten zusammen, die zurückgefahren werden muss und die auch nicht automatisch befristete Verträge zur Folge haben muss. Der Mittelbau ist mehrheitlich bis zur Selbstausbeutung bereit, Zeit in die Lehre und ihre Vorbereitung zu stecken. Zusammen mit den anderen Pflichten und externen Erwartungen kann das schon an den Rand der Leistungsmöglichkeiten gehen.

Und trotzdem: Bis auf besonders karrierefokussierte wissenschaftliche Mitarbeiter*innen (die lieber einen Forschungsaufsatz schreiben) nehmen erfreulich viele Kolleg*innen an hochschuldidaktischen Fortbildungen teil. Vier Ursachen sind erkennbar: a) Die jungen Lehrenden sind noch so nah an den Studierenden dran, dass sie sich unschwer an deren Situation erinnern und ihnen helfen wollen - also Mitverantwortung für den Studienerfolg übernehmen. b) Sie haben ein Selbstverständnis, das ihnen selbst eine gewisse Perfektion abverlangt; der wollen sie sich annähern; c) sie möchten respektiert und gemocht werden; d) und sie erleben, dass ihnen Lehre dann Spaß macht und ihre Berufszufriedenheit steigert, wenn sie erfolgreich, d.h. lernförderlich lehren. Also ist die Lernqualität ihrer Lernveranstaltungen - gemessen an den Umständen - erstaunlich hoch.

FW: Wir möchten auch einen Blick auf die Rolle und vor allem die Gestaltungsmacht der Studierenden werfen. Im Zuge des Akkreditierungssystems werden Seminare immer häufiger evaluiert, die Rückmeldungen der Studierenden könnten also direkt in die Weiterentwicklung der Curricula und Seminare einfließen, Impulse könnten direkt aufgenommen werden. Wie gut gelingt dies für gewöhnlich? Und welche konkreten Möglichkeiten der Gestaltung der Lehre, beispielsweise in Form von Methoden aber auch Inhalten, stehen den Studierenden offen bzw. sollten offen stehen?

Webler: Veranstaltungsbewertungen sind wichtig. Ich hatte schon gesagt, dass Studierende als einzige im Lehr-/Lernzusammenhang die Expert*innen für ihre eigenen Lernbedürfnisse sind. Nur sie können dies mitteilen. Und da die Veranstaltungen unzweifelhaft auf Lernerfolg gerichtet sind, sind ihre Bedürfnisse eine wesentliche Quelle. Allerdings müssen die Bewertungsbögen in ihren items geeignet sein, nach Lernbedingungen zu fragen und nicht (allein) dozentenzentriert zu sein. Einige Einschränkungen sind vorzunehmen: A) Die Schulsozialisation bereitet oft nicht ideal auf die Bewältigung des Studiums vor. Da muss viel dazu gelernt werden, was sich noch nicht sofort in eigenen Bedürfnissen niederschlägt. Lehrende wie Lernende sind nicht nur von ihrer (augenblicklichen) Befindlichkeit und den momentanen Bedürfnissen abhängig, sondern auch von den erklärten Studienzielen eines wissenschaftlichen Studiums. Mit Studierenden sollte von Anfang an geklärt werden, a) was ein wissenschaftliches Studium ausmacht (z.B. auch an Eigenaktivität), b) dass es aus wesentlich mehr besteht als der Anwesenheit in den Veranstaltungen, c) weiter über Ziele des Studiums, d) über persönliche Lernstile sowie darüber, welcher Lerntyp sie sind, und e) über Kriterien guter Lehre, um ihre Urteilsfähigkeit zu fördern. Dazu gehört, dass sie erleben, wie verschieden die gleiche Veranstaltung von ihren Kommilitonen bewertet werden kann - das schult die Relativierung und Differenzierung ihrer Wahrnehmung und damit die Wissenschaftlichkeit. Ich habe solche breit gefächerten bis gegensätzlichen Bewertungen dann regelmäßig mit den Studierenden diskutiert - verbunden mit der Frage, in welcher Richtung ich mich denn künftig nun verhalten solle? Das hat sie sehr beschäftigt. Diese Lerneffekte lassen sich noch wesentlich steigern. In meinem Modell beurteilen nicht nur die Studierenden den Verlauf bzw. die Güte der Veranstaltung, sondern mit einem zweiten, fast identischen Fragebogen beurteilen die Lehrenden diesen Verlauf. Auch über diese Perspektive lässt sich gut diskutieren - vor allem im Vergleich mit der studentischen. Und schließlich können die Lehrenden noch mit einem dritten Bogen das Studienverhalten beurteilen; das wurde zu Beginn des Semesters als Erwartung transparent gemacht und am Ende als Rückmeldung an die Studierenden diskutiert. In diesem Austausch gewinnen beide Seiten erhebliche Differenzierungsfähigkeit und Urteilskraft. B) Einschränkend muss auch gesagt werden, dass dieser Ansatz bei lernmotivierten Studierenden ansetzt. Diese Annahme trifft nicht überall zu. Der Zustand der Studiengänge, ihre Stoffüberfrachtung, die dauernden Prüfungen und eine Lehre, die u.U. keineswegs geeignet ist, Neugier und Zweifel zu wecken, können auch zu Lernunlust und Frustration führen. Nochmal: Veranstaltungsbewertungen sind wichtig. Aber auch die Studierenden müssen die Ziele des Studiums bis hin zum Bildungsauftrag und der eigenen gesellschaftlichen Verantwortung akzeptieren.

Auch kommt es darauf an, Formen des Lernens zu besprechen, um über die Realität hinaus Idealmodelle als Vorbilder und Maßstab zu gewinnen. Wenn sich Lehrende absichtlich selbst Situationen und Fragen aussetzen, die sie selbst noch nicht beantwortet haben, nähert sich die Gruppe dem Ideal einer Lehr-/Lernveranstaltung: einer Lerngemeinschaft unter Einschluss der Lehrenden. Das war historisch zutreffend, ging aber lange Jahrzehnte verloren.

Zukunftsszenarien

FW: Nach einer Bestandsaufnahme der Lehre in vielerlei Hinsicht bleiben nun noch die Fragen nach den Zukunftsszenarien. Wie sollten die Hochschulen Ihres Erachtens mit den aufgezeigten Herausforderungen in der Lehre umgehen? Welche Chancen liegen beispielsweise in diverseren und digitaleren Lehrangeboten?

Webler: Zuallererst sollten kurzfristig Maßnahmen zur Senkung der Drittmittelabhängigkeit ergriffen werden, um Druck aus dem System zu nehmen. Mit Studierenden sollten zu Studienbeginn in mehreren Schüben Diskussionen über die Ziele eines Studiums (übrigens für die Zeit nach dem Examen und nicht diejenigen vor den Klausuren) und dazu adäquate Studienstrategien besprochen werden. Da die Vielfalt der Studierenden immer weiter zunimmt (allein schon wegen der internationalen Studierenden, aber auch der Öffnung neuer Zugangswege zum Studium), ist die Eröffnung möglichst vieler individueller Lernwege ein wichtiges Mittel. Damit werden auch Forderungen aus der Genderdebatte aufgenommen. In digitalen Lernangeboten kann Material bereit gestellt werden (ähnlich wie früher der "Semesterapparat" in der Bibliothek). Es können auch Szenarios und weitere interaktive Angebote bearbeitet werden. Aber wichtig daran ist, dass überwiegend kein Fernstudium als Einzelstudium entsteht, sondern sich Gruppen am Bildschirm versammeln und gemeinsam Ideen, Deutungen, Kontroversen austauschen und sich zu Reaktionen entschließen können. Das fördert die Lernintensität und die Vielfalt des Denkens. Videos als "Kino" müssen eine besondere Lernqualität haben, indem dort im Video z.B. die Lerngegenstände selbst diskutiert bzw. geklärt werden, nicht wenn allein Abläufe zu sehen sind. Diese Fragen konnte ich mal mit Ranga Yogeshwar, dem damaligen Leiter der Wissenschaftsredaktion des WDR ("Quarks & Co") in einem längeren Interview diskutieren. Alle Journalist*innen und Freelancer dort sind von einem Theaterdramaturgen geschult - auch bei rein naturwissenschaftlichen Themen …

FW: Von der Perspektive der Hochschulen möchten wir zum Schluss den Handlungsbedarf der politischen Seite betrachten. Welche Schritte müssten seitens der Politik eingeleitet werden zur Verbesserung der Situation?

Webler: Zuallererst müsste eine Teilnahme an Fortbildungen in der Lehre zur Weiterentwicklung der Lehrkompetenz und vor allem einer professionellen Prüfungsgestaltung als Pflicht eingeführt werden. Selbst die erfolgreich Lehrenden können meistens ihren Erfolg nicht wissenschaftlich begründen. Oder sie gehen mit einem erfolgreichen Konzept in das nächste Semester und erleiden Schiffbruch. Auch das können sie meistens nicht wissenschaftlich erklären. Und wenn sie erfolgreich lehren, bekommen sie dort in den Fortbildungen auch noch die Bestätigung für ihren Erfolg. Insofern also die Verpflichtung zu professionellem Auf- und Ausbau der Lehrkompetenz nach englischem Muster. Als Beleg für den Besuch der Veranstaltungen sollte auch ein akademischer Grad eingeführt werden, wie das in England der Fall ist - dort sogar in zwei Fortschrittsstufen. Das erhöht den Wert der Lehrkompetenz und weist die betreffenden Lehrenden als ausgewiesene Lehrexpert*innen aus.

Und es sollte nach wie vor eine Maßnahme eingeführt werden, die nur im ersten Moment absurd erscheint und die ich seit Jahren fordere. Mir haben in zahlreichen meiner Weiterbildungen Lehrende gesagt, sie würden nicht wagen, mehr Zeit in die Lehre zu stecken, weil sie befürchten müssten, den Anschluss in der Forschung zu verlieren. Hier sollte für besondere Verdienste in der Lehre ein vorzeitiges Forschungsfreisemester eingeführt werden, um diese Befürchtung zu entkräften und die Anstrengung zu belohnen. Auch wenn dies widersinnig klingt: Das wäre die adäquate Antwort zur Förderung der Lehre in einer nach wie vor (und noch längere Zeit) forschungsbestimmten Welt.

Zu den politischen Maßnahmen gehört auch eine umfangreichere und entfristete (d.h. nicht projektgebundene) Finanzierung der Erforschung von und der praktischen Verbesserung der Lehre. Aber vermutlich ist die Projektform mit Einzelbewilligung ein wirksames Mittel, um einer hochschulinternen Umwidmung von Studienreform-Mitteln entgegen zu wirken.

Nach diesen kurzfristigen Maßnahmen müsste dann eine schnelle Anpassung des Berufsbildes der Professur, Ausweitung der Fortbildungsangebote und Durchsetzung der erweiterten Berufungskriterien folgen (s.o.). Um nicht missverstanden zu werden: Es geht nicht um eine Schwächung der Forschung. Aber um ein Ende der eher dilettantischen Wahrnehmung der unbestritten notwendigen weiteren Aufgaben - um eine Professionalisierung der Professur.

Wolff-Dietrich Webler, Prof. Dr. rer. soc., ehem. Professor of Higher Education, University of Bergen/Norway, Ehrenprofessor der Staatl. Pädagogischen Universität in Yaroslawl/Russland, Verleger (UniversitätsVerlagWebler, Bielefeld).

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