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Zwischen Frühpensionierung und "Work Line"

15.12.2005: Beschäftigung Älterer in Europa

  
 

Forum Wissenschaft 4/2005; Titelbild: Hermine Oberück

Beschäftigungspolitik lässt sich nicht nur für den gesamten Arbeitsmarkt und sämtliche Gruppen Erwerbsfähiger buchstabieren. Sie kann - und muss, um zu greifen - auf konkrete Gruppen heruntergebrochen werden. Dass und warum die Beschäftigung älterer Menschen nicht nur als individuelle Sinnfrage für Menschen in höherem Alter Sinn macht, sondern auch in gesellschaftlicher Perspektive, und in welchem Zusammenhang sie mit der anderer Gruppen steht, arbeiten Gerhard Bosch und Sebastian Schief heraus. Beschäftigungspolitik für Menschen in höherem Alter wäre unter dem Stichwort "Arbeitsplatzkonkurrenz für Jüngere bei Massenarbeitslosigkeit" zu kurz gedacht.

Zur Beschäftigung Älterer hat sich die Europäische Union ehrgeizige Ziele gesetzt. Im März 2001 legte der Europäische Rat in Stockholm als Bestandteil der europäischen Beschäftigungsstrategie fest, dass bis 2010 mindestens die Hälfte der EU-Bevölkerung im Alter von 55 bis 64 Jahren in Beschäftigung sein solle. Die Realisierung dieses Ziels wird, wie die anderen dieser Strategie, anhand von Indikatoren überprüft. Jedes Mitgliedsland ist verpflichtet, jährlich einen Aktionsplan zu erstellen, der beschreibt, wie die Ziele in die Praxis umgesetzt werden. Die europäischen Länder sind von der Umsetzung des Stockholmer Ziels noch weit entfernt: Gegenwärtig erreichen nur fünf der 15 alten EU-Länder (S, Dk, Fin, UK, P) bereits eine Beschäftigungsquote der 55- bis 64-Jährigen über 50%; die anderen Länder liegen zumeist erheblich unter der Vorgabe. Von den neuen Mitgliedern der Europäischen Union erfüllen nur Estland und Zypern die Anforderung der 50-Prozent-Marke. Deutschland tut dies bei weitem nicht: Im Jahre 2004 waren nur 41,4% aller Personen zwischen 55 und 64 Jahren beschäftigt. In Schweden lag die Beschäftigungsquote Älterer bei fast 70%, dem höchsten Wert in Europa.

Lebensarbeitszeit verlängern - warum?

Eine so geringe Nutzung des Erwerbspersonenpotenzials Älterer wie in Deutschland ist angesichts der demografischen Entwicklung auf Dauer nicht vertretbar. Bis zum Jahr 2020 wird das Erwerbspersonenpotenzial der über 50-Jährigen in Deutschland um fast 5 Millionen Personen und ihr Anteil am Erwerbspersonenpotenzial insgesamt von 22 auf 34% steigen. Die Anforderungen der Arbeitswelt von morgen und übermorgen müssen somit von insgesamt weniger und zugleich älteren Erwerbspersonen bewältigt werden. Zugleich ist die Lebenserwartung erheblich gestiegen und wird weiter zunehmen. Dies und die Vorruhestandspolitik der letzen Jahrzehnte hat bereits dazu geführt, dass die durchschnittliche Rentenbezugsdauer von 9,6 Jahre 1960 auf 16,6 Jahre 2002 angewachsen ist, was auf den individuellen Lebenslauf bezogen einer Rentenerhöhung von über 70% gleichkommt.

Eine Erhöhung der Beschäftigungsquote Älterer und des Renteneinstiegsalters, das bei Männern im Jahre 2002 bei 60,8 und bei Frauen bei 61,4 Jahren lag, ist ein notwendiger Beitrag zur Generationengerechtigkeit, da er den Anstieg der Beiträge zur Altersversicherung für die nachwachsende Generation bremst. Mit rein "rententechnischen" Argumenten allein lässt sich eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit aber nicht begründen. Der Gesundheitszustand und das Bildungsniveau der künftigen Älteren werden sich verbessern. Eine längere Erwerbsphase wird für viele von ihnen ein wichtiges Element einer erfüllten Lebensgestaltung, die ihnen heute auf dem Arbeitsmarkt versagt wird. Sie verfügen zudem über Wissens- und Erfahrungsschätze, die durch Jüngere nicht einfach ersetzt werden können.

Allerdings wird die Diskussion über eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit zu pauschal geführt:

Erstens werden Unterschiede zwischen den Älteren unterschätzt. "Die" Älteren gibt es nicht. Vielmehr teilen sie sich in Gruppen mit höchst unterschiedlichen Beschäftigungsmöglichkeiten und -erwartungen auf. Manche können und wollen bis zum 65. Lebensjahr und möglicherweise auch darüber hinaus arbeiten; andere sind angesichts ihrer subjektiven Voraussetzungen (Qualifikation und Gesundheitszustand) oder objektiver Ausgangsbedingungen (Arbeitsbedingungen, Arbeitsplatzangebot, familiäre Verpflichtungen) dazu nicht in der Lage; weitere schließlich könnten durchaus länger arbeiten, wünschen aber aus unterschiedlichen Gründen einen früheren Ausstieg und können sich ihn trotz Rentenabschlägen auch leisten, da sie zeitlebens gut verdient oder geerbt haben oder in einem Haushalt mit mehreren Verdienern leben. Angesichts der großen Unterschiede zwischen den Älteren können pauschale Rezepte zu großen sozialen Ungerechtigkeiten führen. So haben Männer aus dem untersten Viertel des sozio-ökonomischen Status eine um zehn Jahre geringere Lebenserwartung (72 gegenüber 82 Jahren) als Männer aus dem oberen Viertel. Bei Frauen beträgt der Unterschied fünf Jahre (81 gegenüber 86). Eine pauschale Heraufsetzung des Renteneintrittalters verkürzt die Rentenbezugsdauer der Personen mit geringerer Lebenserwartung überproportional. Anders ausgedrückt: Die sozialen Gruppen mit geringerer Lebenserwartung subventionieren die Renten der Gruppen mit der längeren.

Zweitens stellt sich die Frage, wie angesichts hoher Arbeitslosigkeit eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit gerechtfertigt werden kann, die den Arbeitskräfteüberschusse noch verstärken wird. In der Tat ist der Zielkonflikt zwischen dem kurz- und mittelfristigen Ziel, die Arbeitslosigkeit auch durch eine Umverteilung von Arbeit von Alt auf Jung zu vermindern, und langfristigen Zielen, Ältere in den Arbeitsmarkt zu integrieren, unübersehbar. Dieser Zielkonflikt lässt sich nur mit langen Übergangsfristen bei der Abschaffung von Ausstiegsmöglichkeiten verringern. Mit der Verkürzung des Arbeitslosengeldanspruchs für Ältere (von 32 auf 18 Monate) durch die Hartz-Gesetze schon ab 2006 wurde dies versäumt.

Drittens dominiert in der öffentlichen Diskussion die Vorstellung, dass lediglich die heutige Vorruhestandspraxis zu beenden und zum Renteneintrittsalter der 60er-Jahre zurückzukehren sei, um die Beschäftigungsquote Älterer zu erhöhen. So einfache Rezepte werden allerdings nicht greifen. Ein kurzer Blick zurück zeigt aber, dass selbst 1970 - vor der Zeit der großen Vorruhestandsprogramme - acht von 15 EU-Ländern unter der 50 Prozent-Quote blieben. Zwar hatten die Männer damals mit 76,9% im Durchschnitt der EU 15 eine erhebliche höhere Erwerbsquote1 als heute (Abb. 1). Aufgrund der traditionellen Familienmodelle waren aber nur etwas mehr als ein Viertel der über 55-jährigen Frauen beschäftigt, was den Gesamtdurchschnitt in der EU 15 auf unter 50% drückte (s. Abb. 1).

Neue Ungleichheiten: Geschlecht und Qualifikation

Ein Zurück zu den 60 Jahren mit höheren Beschäftigungsquoten der Männer und geringeren der Frauen erscheint kaum denkbar; Erwerbsverläufe von Männern und Frauen haben sich zu sehr verändert. Zu den weiterhin bestehenden alten Ungleichheiten nach sozialem Status und Arbeitsbedingungen kommen neue Differenzierungen der Erwerbsverläufe nach Geschlecht und Qualifikationsniveau. Realistische Szenarien zum Entwurf einer Erhöhung der Beschäftigungsquote Älterer verlangen einen genaueren Blick auf Veränderungen der Erwerbsverläufe von Personen zwischen 55 und 64 Jahren. Dies soll am Beispiel eines europäischen Vergleichs geschehen.

Insgesamt stellen sich die nationalen Erwerbsmuster der 55- bis 64-jährigen Männer und Frauen heute in Europa weitaus unterschiedlicher dar als 1970. Bei den Männern ist dies Folge abweichender Politikmuster in der Arbeitsmarkt- und Rentenpolitik. Länder, die flächendeckende Vorruhestandsprogramme eingeführt haben (etwa F, D, Ö, B oder NL) reduzierten die Beschäftigungsquote der Männer drastisch. Andere Länder wie die skandinavischen und Großbritannien gingen diesen Weg nicht und verzeichnen nur leichte Rückgänge bei den Männern.

Bei den Frauen zwischen 55 und 64 Jahren ist die Auseinanderentwicklung in Europa nicht Folge des Rückgangs der Beschäftigungsquoten, sondern des unterschiedlichen Steigerungs-Tempos. In Ländern, in denen die Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf frühzeitig verbessert wurden, steigt die Beschäftigungsquote der Frauen schon seit den 60er Jahren an. In diesen Ländern, allen voran den skandinavischen, sind die Frauenkohorten, die noch das traditionelle Familienmodell lebten, inzwischen schon im Rentenalter. Die neue Generation erwerbstätiger Frauen ist bereits in die Altersgruppe der 55- bis 64-Jährigen hinein gewachsen und hat in einigen Ländern (Schweden, Finnland) schon fast gleiche Beschäftigungsquoten wie die Männer erreicht.

Es überrascht nicht, dass die Korrelation zwischen den Beschäftigungsquoten der älteren Männer und Frauen dort hoch ist. Denn die Länder, die die Beschäftigung von Frauen frühzeitig förderten, verfolgten die genannte Work Line-Politik, wie sie in Schweden genannt wird, der Aktivierung aller Personen im Erwerbsalter. Dies hat auch verhindert, dass Vorruhestandsprogramme in den nationalen Instrumentenkasten aufgenommen wurden. Umgekehrt haben Vorruhestandsländer wie Frankreich oder Belgien, die mit den écoles maternelles und Ganztagsschulen exzellente Bedingungen für die Erwerbstätigkeit von Frauen geschaffen haben, durch ihre Vorruhestandspolitik auch in hohem Maße Frauen über 55 Jahre aus dem Arbeitsmarkt genommen. Dies ermöglicht durchaus Geschlechtergleichheit, aber auf einem niedrigeren Beschäftigungsniveau als im Modell der Work Line. In Frankreich gehen eben beide Partner frühzeitig aus dem Erwerbsleben.2

Während sich die Geschlechterungleichheit in den letzten Jahrzehnten in der EU deutlich verringert hat, haben die Ungleichheiten nach Qualifikation erheblich zugenommen. Eine gute schulische und berufliche Bildung ist mittlerweile nicht nur zum "Eintrittsticket" und - was zur Erklärung der Beschäftigungsquoten Älterer fast noch wichtiger ist - auch zur Voraussetzung der Verlängerung der "Aufenthaltsberechtigung" auf dem Arbeitsmarkt geworden. In allen Ländern der EU 15 steigen die Beschäftigungsquoten sowohl der 25 bis 44-Jährigen als auch der 55- bis 64-Jährigen für Männer und Frauen mit dem Qualifikationsniveau. Wer besser qualifiziert ist, hat größere Chancen eine Stelle zu finden und auch nach dem 55. Lebensjahr beschäftigt zu bleiben.3 Dies ist in allen EU-Ländern gleichermaßen zu beobachten - bei beträchtlichen Niveauunterschieden. In den Vorruhestandsländern (D, Ö, F, NL, B) sind es insbesondere die geringer Qualifizierten über 55 Jahre, die keiner Beschäftigung mehr nachgehen. Allerdings hat sich die Kultur des vorzeitigen Ruhestands in diesen Ländern auch auf Personen mit mittlerer Qualifikation ausgebreitet, während hoch Qualifizierte zwischen 55 und 64 Jahren zumeist (Ausnahmen sind Österreich und Belgien) noch sehr hohe Beschäftigungsquoten aufweisen. Die Gegenüberstellung der Beschäftigungsquoten der 55- bis 64-Jährigen zweier Vorruhestandsländer (F, D) und zweier Work Line-Länder (Dk, S) nach Qualifikation und Geschlecht verdeutlicht diese Unterschiede besonders (Abb. 2).

In Deutschland und Frankreich zeigen sich die Auswirkungen der Vorruhestandspolitik besonders stark. Bei den gering Qualifizierten, aber auch bei Frauen und Männern mit mittlerer Qualifikation liegt die Beschäftigungsquote der 55- bis 64-Jährigen in beiden Ländern deutlich unter der 50%-Marke. Das Stockholmer Ziel einer 50%-Beschäftigungsquote wird in Frankreich nur bei der relativ kleinen Gruppe hoch qualifizierter Männer zwischen 55 und 64 Jahren erreicht; in Deutschland erreicht zudem die Gruppe der hoch qualifizierten Frauen diese Marke (s. Abb. 2).

Ganz anders fällt das Ergebnis in den Work Line-Ländern aus: Schweden erreicht diese Quote für Männer und Frauen in allen Qualifikationsgruppen und, neben Portugal, als einziges EU-Land auch bei den gering qualifizierten Frauen (52,3%). Dänemark kann nur bei den gering qualifizierten Frauen das Stockholmer Ziel nicht erreichen. Deren Beschäftigungsquote ist zwar deutlich höher als in Frankreich oder Deutschland, liegt aber immer noch weit unter der 50%-Marke (36,6 %).

Ein früheres Renteneintrittsalter von geringer Qualifizierten bedeutet im Übrigen nicht unbedingt kürzere Lebensarbeitszeiten dieser Gruppe. Die gering qualifizierten 55- bis 64-Jährigen haben in Deutschland 3,3 Jahre früher als hoch Qualifizierte eine Erwerbstätigkeit aufgenommen. Dies ist einer der Gründe, warum in vielen Ländern der Renteneintritt nicht nur an eine Altersgrenze, sondern auch an die Dauer der Beitragszahlung und damit der Lebensarbeitszeit gebunden ist.

Zusätzlich muss beachtet werden, dass der Eintritt in die Rente aufgrund von Erwerbsfähigkeit stark mit der gesundheitlichen Belastung der Tätigkeit zusammenhängt. Immerhin 19,7% aller Rentenneuzugänge im Jahre 2001 in Deutschland bezogen Renten aufgrund verminderter Erwerbsfähigkeit. Während z.B. lediglich 6% aller Ärzte und 7% aller Hochschullehrer aufgrund verminderter Leistungsfähigkeit in Rente gingen, beendeten knapp 98% aller Arbeiter im Bergbau und etwa 53% aller Maurer aus diesem Grunde ihre Erwerbstätigkeit. Es zeigt sich also, dass "vor allem körperlich anstrengende und gering qualifizierte Tätigkeitsfelder mit geringen Entscheidungsspielräumen (…) mit hohen Erwerbsunfähigkeitszahlen korrelieren, während es sich bei Berufen mit vorrangig kognitiven Anforderungen und hohem Sozialprestige genau umgekehrt verhält".4

Aus anderen Studien ist zudem bekannt, dass die Erwerbsbeteiligung einiger Gruppen von AusländerInnen erheblich unter dem ohnehin schon niedrigen Niveau der Deutschen liegt. So sind in Deutschland nur noch etwa 20% aller türkischen Männer zwischen 50 und 64 Jahren und kaum mehr als 10% der türkischen Frauen beschäftigt. Bei vielen AusländerInnen kumulieren verschiedene Risiken wie niedrige Qualifikation, vorherige Beschäftigung in besonders belastenden Tätigkeiten und in Krisenbranchen bzw. auf besonders von Rationalisierungen oder Verlagerungen betroffenen Arbeitsplätzen. Diese Risiken treffen zudem mit einer starken Erwartungshaltung eines vorzeitigen Ausscheidens aus dem Erwerbsleben zusammen.

Das Stockholmer Ziel, eine Beschäftigungsquote der 55- bis 64-Jährigen von 50% innerhalb der EU zu erreichen, stellt die EU-Länder vor ganz unterschiedliche Herausforderungen. Einige Länder wie Dänemark oder Schweden haben dieses Ziel schon seit langem realisiert und können sich ohne europäischen Druck auf Detailprobleme konzentrieren, etwa die weitere Verringerung der Unterschiede zwischen den Geschlechtern und die Verbesserung der Beschäftigungsmöglichkeiten gering Qualifizierter. Andere Länder stehen angesichts ihrer niedrigen Beschäftigungsquoten vor fast unlösbaren Aufgaben, wenn der enge Zeitrahmen bis 2010 und die oft beachtlichen Verzögerungen zwischen der Einleitung von Maßnahmen und ihren Wirkungen auf dem Arbeitsmarkt in Rechnung gestellt werden.

Problembündel

Die Vorruhestandsländer können allerdings aus den Erfahrungen der Work Line-Länder lernen. So zeigt sich, dass die Erschwerung eines vorzeitigen Ruhestands zwar eine notwendige, aber lange noch keine hinreichende Maßnahmen ist. So hat etwa Deutschland in den letzten Jahren die Kosten eines vorzeitigen Eintritts in die Rente auf die Betroffenen verlagert (Abschläge von der Rentenversicherung) und zudem Warteschleifen auf den Vorruhestand, die über die Arbeitslosenversicherung finanziert werden, in Kurzarbeit oder Arbeitslosengeld verkürzt.

Dennoch steigt die Beschäftigungsquote Älterer nur langsam an, da andere Probleme noch ungelöst blieben. Der Vergleich der EU- mit den Work Line-Ländern verweist auf sechs weitere Problembündel, deren Bewältigung zentral für die Erhöhung der Beschäftigungsquote Älterer ist:

1. Das Gleichstellungsproblem: In den meisten Ländern der EU setzen alle Maßnahmen an den Beschäftigten an; sie versuchen, ihre Beschäftigungsphase durch die Heraufsetzung des Rentenalters und eine Verringerung der Anreize für einen vorzeitigen Ruhestand zu verlängern. Dies aber ist eine klassische Männersicht. Die Beschäftigungsquote der über 50-jährigen Frauen wird durch rein alterspezifische Maßnahmen nur geringfügig erhöht werden können. Die Beispiele Schwedens und Dänemarks zeigen hingegen, dass die Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt vor allem durch ausreichende Kinderbetreuung und die Individualisierung von Besteuerung und sozialer Sicherung frühzeitig gefördert wird. Nur wenn die Beschäftigungsquote der Frauen in jüngeren Lebensjahren erhöht wird, können Kohorten von Frauen nachwachsen, für die es selbstverständlich ist, auch nach dem 55. Lebensjahr erwerbstätig zu sein - allerdings auch nur dann, wenn sie hier von Hausarbeit entlastet werden. So wird zum Beispiel in Deutschland erst jetzt - 40 Jahre nach Schweden - mit den Programmen für Ganztagsschulen (4 Mrd. Euro-Programm der Bundesregierung, 2004) und der Kinderbetreuung (Tagesbetreuungsgesetz, 2004) für die unter 3-jährigen Kinder der Systemwechsel vom traditionellen zu einem gleichberechtigten Familienmodell eingeleitet. Die vollen Auswirkungen auf die Beschäftigungsquote der über 55-Jährigen werden erst langfristig eintreten und bis 2010 bescheiden bleiben. Und was Kinderbetreuung für jüngere Frauen ist, ist professionelle Pflege für über 55-Jährige.

2. Das Humanisierungsproblem: Angehörige höher qualifizierter Berufe mit höherem Sozialprestige und größeren Entscheidungsspielräumen in der Arbeit weisen geringe Fehlzeiten auf und können zumeist bis zum normalen Rentenalter von 65 Jahren erwerbstätig sein. Demgegenüber haben viele Beschäftigte geringere Chancen, auf ihren Arbeitsplätzen alt zu werden. Für viele typische Erkrankungen älterer Beschäftigter können dabei biologische Alterungsprozesse als nahezu irrelevant angesehen werden. Neben den physischen Arbeitsbelastungen, die keineswegs - wie lange Zeit erwartet - rückläufig sind, sind vielfältige

psychische Belastungsarten als neue Einflussgrößen des höheren Krankheitsrisikos Älterer hinzugekommen, die insbesondere von älteren Beschäftigten empfindlich wahrgenommen werden. Dies gilt vor allem für z.T. eher unspezifische Faktoren wie hohe Mobilitätserfordernisse, Hektik, Zeitdruck, Stress, Überforderung, soziale Isolation und "altersunfreundliches" Arbeitsklima.5 Nach repräsentativen Befragungsergebnissen in den EU-Staaten leiden 18,4% der über 45-jährigen Männer und 21,6% der über 45-jährigen Frauen nach eigenen Angaben unter einem chronischen oder lang andauernden Gesundheitsproblem, das ihre Arbeit erschwert. Durch Arbeitsgestaltung wie etwa Erweiterung der Handlungsspielräume und Schutz vor zu hohen Belastungen - die in den skandinavischen Ländern am weitesten verbreiteten Maßnahmen zur Humanisierung des Arbeitslebens - können Voraussetzungen zur Verlängerung der Beschäftigungsdauer geschaffen werden.

3. Das Qualifikationsproblem: Eine begrenzte Tätigkeitsdauer ist zudem sicherlich auch Folge unzureichender Teilnahme an Weiterbildung, also ein Qualifikationsproblem. Vorzeitig in den Ruhestand gehen vor allem geringer Qualifizierte, die sich den Anforderungen ihrer Tätigkeit aufgrund unzureichender Teilnahme an Weiterbildung nicht mehr gewachsen fühlen. Eine neuere Untersuchung von Infas zur Weiterbildungsteilnahme in Deutschland, die von einem sehr weiten Begriff der Weiterbildung ausgeht, der unterschiedliche Formen von informellem Lernen am Arbeitsplatz einschließt, kommt zu dem überraschenden Ergebnis, dass Alter kein Erklärungsmerkmal für Weiterbildungsteilnahme ist. Bei den gut Qualifizierten steigt die Teilnahme an Weiterbildung ab dem 50. Lebensjahr sogar an.6 Es sind vor allem die gering qualifizierten Älteren, die von Weiterbildung ausgeschlossen sind. Arbeitsmarktpolitisch war dies in den Vorruhestandsländern bislang kein Problem, da gerade diese Gruppe vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausschied. Die Analyse zeigt aber auch, dass große Gruppen von Personen mit mittlerer Qualifikation, die in arbeitsorganisatorischen und technisch wenig innovativen Betrieben gearbeitet haben, damit den Anschluss verloren. Dänemark und Schweden haben nicht nur ein gut ausgebautes System schulischer und beruflicher Erstausbildung, sondern sichern auch die Beschäftigungsfähigkeit geringer Qualifizierter durch hohe Investitionen in lebenslanges Lernen gerade auch für diese Gruppen.

… und Weiteres

4. Das Flexibilitätsproblem: Trotz ernüchternder Erfahrungen geben wir die Idee nicht auf, dass durch flexible Übergänge in den Ruhestand die Beschäftigungsquote der 55- bis 64-Jährigen erhöht werden kann. Erfahrungen zeigen, dass Verkürzungen der Arbeitszeit am Ende des Erwerbslebens am ehesten akzeptiert werden, wenn Betriebe und Beschäftigten zuvor schon Erfahrungen mit flexiblen Erwerbsverläufen gesammelt haben. Treiber solcher Erfahrungen können Veränderungen der Arbeitszeit im Zusammenhang mit Elternschaft, Pflege und Weiterbildung sein, so dass die Erhöhung der Beschäftigungsquote der Frauen und ein Ausbau lebenslangen Lernens zusätzlich die Chance bietet, auch Übergänge in die Rente flexibler zu gestalten.

5. Das Motivationsproblem: Ein Blick auf die Motivationslage der Betriebe und der Beschäftigten zeigt, dass eine Abkehr von der Ruhestandspolitik - trotz zum Teil deutlicher Signale aus dem Rentensystem - oft noch nicht vollzogen ist. Viele Betriebe in Deutschland basteln gegenwärtig unter dem Stichwort "demografische Arbeitszeit" an Nachfolgeregelungen zum bisherigen Vorruhestand. Damit sind Überlegungen gemeint, in den jüngeren und mittleren Jahren länger zu arbeiten und die auf Konten gesparte Arbeitszeit am Ende des Erwerbslebens für einen früheren Ausstieg aus der Beschäftigung zu nutzen. Gerade die Länder aber, in denen der Vorruhestand etabliert war und weit in die Gruppe der Personen mittlerer Qualifikation hineinreicht, von denen sicherlich viele ohne Gesundheits- und Qualifikationsprobleme weiter arbeiten könnten, benötigen eindeutige Motivationslagen der Betriebe und der Beschäftigten in Richtung längerer Lebensarbeitszeiten auf Seiten der Betriebe und der Beschäftigten für einen Strukturwandel. Ansonsten müssten noch viele Jahre lang Ersatzmaßnahmen für die Fortsetzung des Vorruhestands "erfunden" werden.

6. Das Wachstums-und Umverteilungsproblem: Alle Maßnahmen zur Erhöhung der Beschäftigungsquote Älterer werden nur greifen, wenn die Jahresarbeitszeit nicht verlängert wird und die Wirtschaft wächst. Eine steigende Arbeitskräftenachfrage wird die Motivationslagen der Betriebe und der Beschäftigten verändern und über Arbeitskräfteengpässe auch Qualifizierungsnotwendigkeiten erkennen lassen. Allerdings ist selbst bei schwachem Wachstum eine Erhöhung der Beschäftigungsquote Älterer nicht zwangsläufig mit einem Nachfragerückgang nach Jüngeren verbunden - ebenso wenig wie eine Erhöhung der Beschäftigungsquote der Frauen zu einem Rückgang der Männer führt. Denn die Mehrbeschäftigung bestimmter Gruppen löst zusätzliche Nachfrageeffekte in der Wirtschaft aus, so dass der Beschäftigungseffekt positiv sein kann. In einer Ansprache an die 87. Tagung der Internationalen Arbeitsorganisation in Genf im Jahre 1999 erklärte dazu der Nobelpreisträger für Ökonomie Amartya Sen: "Bei der Prüfung der Vorschläge zur Veränderung des Rentenalters gilt es viele große Fragen zu beantworten. [… Es] sei mir der Hinweis gestattet, dass oftmals Konflikte gesehen werden, wo es vielleicht gar keine gibt. […] … Wenn nämlich aus einem Gefühl heraus die Behauptung aufgestellt wird, das Problem bei der Bevölkerungsalterung läge in der mangelnden Erwerbstätigkeit der Alten, und die ebenso spontane Behauptung hinzukommt, dass die Jungen ihre Arbeit verlören, wenn die Alten noch arbeiten würden, dann versperren wir uns damit selbst den Weg. Dabei sind dies lediglich unbewiesene Thesen, die einen Konflikt unterstellen, der möglicherweise gar nicht existiert. Ich befürchte, dass in der Arbeitsökonomie häufig von Konfliktannahmen ausgegangen wird, die nicht gründlich nachgeprüft wurden."7

Absage: altersspezifische Politik

Eine wirkungsvolle Politik der Erhöhung der Beschäftigungsquoten Älterer wird an der Lösung der sechs aufgezeigten Problembündel nicht vorbeikommen. Dies bedeutet aber insbesondere, dass mit einer rein alterspezifischen Politik diese Konflikte nicht aufzulösen sind. Gezielte Maßnahmen zur Erhöhung der Beschäftigungsquote Älterer müssen mit einer Politik der Gleichstellung, der Humanisierung der Arbeit, der Entwicklung einer Kultur des lebenslangen Lernens und flexibler Erwerbsverläufe verbunden sein. Die Schwerpunkte der Politik werden in den Ländern unterschiedlich sein müssen. Frankreich hat zum Beispiel die Vereinbarkeit von Beruf und Familie bereits seit langem gut gelöst, während Deutschland hier erst am Anfang steht.

Aber selbst bei einer überzeugenden Lösung für alle sechs Problembündel werden zu einer solchen Politik auch Optionen gehören müssen, die den Beschäftigten, die aus gesundheitlichen Gründen ihre oder eine andere Tätigkeit nicht mehr ausüben können, einen Übergang in den Ruhestand unter akzeptablen Bedingungen ermöglichen. Im Unterschied zur Vergangenheit wäre dies aber nicht mehr durch eine pauschale Öffnung zum vorzeitigen Eintritt in die Rente, sondern durch eine Prüfung des individuellen Gesundheitszustandes zu gewährleisten.


Anmerkungen

1) Die Erwerbsquote schließt im Unterschied zur Beschäftigungs- oder Erwerbstätigenquote die Arbeitslosen mit ein. Wir haben in unserer eigenen Analyse Beschäftigungsquoten berechnet, in Abb. 1 aber auch - mangels anderer Daten - auf den Langzeitvergleich der Erwerbsquoten zwischen 1970 und 2000 durch die Europäische Kommission zurückgegriffen.

2) Es ist offensichtlich, dass Ländertypologien, wie wir sie angedeutet haben, nicht die Entwicklung in jedem einzelnen Fall erklären können. Die hohe Beschäftigungsquote der über 55-jährigen Portugiesinnen zum Beispiel ist Folge der geringen Löhne und des- trotz miserabler Bedingungen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie - frühen Eintritts der Frauen ins Erwerbsleben wegen der Knappheit der Männer auf dem Arbeitsmarkt während der portugiesischen Kolonialkriege.

3) Nur in Griechenland finden sich noch rudimentäre Reste des traditionellen Musters, dass die weniger Qualifizierten längere Lebensarbeitszeiten haben und die privilegierten besser Qualifizierten sich frühzeitig aus dem Erwerbsleben zurückziehen.

4) Morschhäuser, Martina (2003), Gesund bis zur Rente? Ansatzpunkte einer altersgerechten Arbeits- und Personalpolitik, in: Badura, Bernhard /Henner Schellschmidt/Christian Vetter (Hg.): Demographischer Wandel. Herausforderung für die betriebliche Personal- und Gesundheitspolitik, Berlin u.a., S. 59-71; hier: 61f.

5) Behrens, Johann (2003): Fehlzeit, Frühberentung: Länger erwerbstätig durch Personal- und Organisationsentwicklung. In: Badura, Bernhard /Henner Schellschmidt/Christian Vetter (Hrsg.): Fehlzeiten-Report 2002. Berlin et al.: Springer.

6) Schröder, Helmut/Schiel, Stefan/Aust, Folkert (2004), Nichtteilnahme an beruflicher Weiterbildung: Motive, Beweggründe, Hindernisse. Bielefeld: Bertelsmann. Schriftenreihe der Expertenkommission Finanzierung Lebenslangen Lernens, Bd. 5.

7) Zit. nach Europäische Kommission (2004), Beschäftigung in Europa 2003, Luxemburg: 175


Gerhard Bosch ist Hochschullehrer für Arbeits- und Wirtschaftssoziologie am Institut für Soziologie der Universität Duisburg-Essen sowie Vizepräsident des Instituts Arbeit und Technik des Wissenschaftszentrums NRW (IAT), Gelsenkirchen. Er war Mitglied der Sachverständigenkommmission für den Fünften Altenbericht beim BMFSFJ sowie der Expertenkommission Finanzierung lebenslangen Lernens beim BMBF. - Dr. Sebastian Schief war bis Okt. 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsschwerpunkt Arbeitszeit und Arbeitsorganisation am IAT; seit Nov. 2005 ist er Oberassistent an der Universität Freiburg (CH). Seine Schwerpunkte sind international vergleichende Forschung zu Arbeitszeit, Industriellen Beziehungen und Arbeitsorganisation, Organisations- und Wirtschaftssoziologie und Globalisierung.

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