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Ambulant vor stationär?

24.08.2014: Über die Konsequenzen eines fragwürdigen Grundsatzes im Pflegegeschäft

  
 

Forum Wissenschaft 2/2014; Foto: Creatista/Photocase.de

Bei der Pflege bedürftiger Menschen gilt in Deutschland der Leitsatz "ambulant vor stationär". Dabei handelt es sich nicht bloß um eine gesellschaftliche Überzeugung, sondern um einen in §13 Abs. I SGB XII verankerten Grundsatz der Sozialversicherung. Sowohl die Politik als auch die Spitzenverbände der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen haben diese Maxime übernommen und machen sich stark für den Ausbau einer ambulanten Pflegeversorgung. Die Anwendung dieses Grundsatzes führt zu problematischen Konsequenzen für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen, wie Annika Kron kritisiert.

Die in der Regel vorgebrachten Argumente für die ambulante Versorgung pflegebedürftiger Menschen liegen dabei in den geringeren Kosten im Vergleich zur stationären Pflege und der Selbstständigkeit im gewohnten Lebensumfeld.1

Ambulante Versorgung als gesellschaftliches Idealbild

Auch im öffentlichen Diskurs spielen Pflege und deren Qualität eine bedeutende Rolle, wobei vor allem die Ermöglichung der häuslichen Versorgung in den Mittelpunkt gestellt und die stationäre Pflege als grundsätzlich problematisch dargestellt wird. Hier haben sich die Überzeugungen zugunsten ambulanter Versorgung bei einer bestehenden Pflegebedürftigkeit gefestigt. Zum einen spiegelt sich dies in der medialen Berichterstattung zum Thema Pflege wieder, welche sich überwiegend mit schlechten Zuständen in stationären Einrichtungen, überforderten Pflegekräften und dem aktuellen Pflegenotstand beschäftigt. Zum anderen zeigen die Zahlen des Statistischen Bundesamts deutlich den derzeitigen Trend in Bezug auf die Versorgung und Betreuung pflegebedürftiger Menschen in Deutschland. Ende 2012 lebten 17 Millionen Menschen im Alter von 65 Jahren und älter in der Bundesrepublik. 2,5 Millionen davon waren pflegebedürftig nach § 14 SGB XI. Sie waren demnach aufgrund einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung auf Unterstützung in den Bereichen Körperpflege, Mobilität, Ernährung und hauswirtschaftliche Versorgung angewiesen. 1,8 Millionen Pflegebedürftige (70%) wurden von Angehörigen versorgt und betreut. Von diesen 1,8 Millionen erhielten 1,2 Millionen ausschließlich Pflegegeld, was bedeutet, dass die Angehörigen die Pflege alleine übernahmen. Bei 576.000 Personen (32%) erfolgte die Pflege zum Teil oder vollständig durch ambulante Pflegedienste. Lediglich 743.000 der gesamten 2,5 Millionen Pflegebedürftigen (30%) lebten Ende 2011 in stationären Einrichtungen (siehe Grafik)2 . Aktuell stehen 1,2 Millionen so genannte LaienpflegerInnen 952.000 Pflegefachkräften (291.000 im ambulanten und 661.000 im stationären Setting) gegenüber, was bedeutet, dass der größte Pflegedienst Deutschlands die Familie ist. Gleichzeitig steigt der Unterstützungs- und Pflegebedarf der Pflegebedürftigen weiter an. Insgesamt zeigt sich also sowohl in den im öffentlichen Diskurs vermittelten Werturteilen als auch in der faktischen Praxis eine deutliche Präferenz zugunsten der ambulanten Pflege.

Es kann jedoch bezweifelt werden, ob der Grundsatz "ambulant vor stationär" aus Sicht der pflegebedürftigen Person und ihrer Lebensqualität so grundsätzliche Geltung beanspruchen kann. Zunächst fällt auf, dass die Argumente für ein Primat der häuslichen Pflege sich nicht etwa auf eine höhere Lebensqualität, mehr soziale Kontakte, einen besseren Betreuungsschlüssel oder personenzentrierte Pflege beziehen. Sie wird auch nicht als das qualitativ bessere Versorgungssystem für pflegebedürftige Menschen betrachtet. Vielmehr geht es um Kostenersparnisse und den Erhalt der Selbstständigkeit im gewohnten Lebensumfeld durch die Vermeidung eines Umzuges in eine stationäre Einrichtung.

Höhere Selbstständigkeit?

Doch selbst bei diesen beiden Hauptargumenten für die häusliche Pflege sind Zweifel angemessen. Hinsichtlich der Selbstständigkeit im gewohnten Lebensumfeld ist zu bedenken, dass beide Aspekte nicht garantiert sind. Zum einen wird nicht bedacht, dass auch häusliche Pflege nicht zwingend in der Wohnung des Pflegebedürftigen stattfindet, sondern dieser unter Umständen zu seinen Kindern oder Enkelkindern ziehen muss, um eine häusliche Versorgung erhalten zu können. Dieser Prozess stellt ebenfalls eine Entwurzelung dar, auch wenn sie vielen Menschen leichter fallen wird als ein Umzug in eine stationäre Einrichtung. Zum anderen ist es fragwürdig, ob allein die Tatsache, dass eine Person trotz Pflegebedürftigkeit im gewohnten Umfeld lebt, mit mehr Selbstbestimmung gleichgesetzt werden kann. Mit Beginn einer Pflegebedürftigkeit beginnt in der Regel das Angewiesen sein auf Andere. Daran verändern der Wohnort und andere äußere Umstände erst einmal nichts. Pflegebedürftige Personen sind auf Unterstützung angewiesen. Das bedeutet, dass sie auch im häuslichen Umfeld Abhängigkeit erleben, nämlich entweder von den eigenen Angehörigen oder den Mitarbeitern ambulanter Pflegedienste, häufig beides.

Die Belastung von Angehörigen und die Folgen für Pflegebedürftige

Inwiefern die Abhängigkeit von den eigenen Angehörigen eine angenehmere Form der Abhängigkeit darstellt als die Anhängigkeit von Pflegepersonal in einer stationären Einrichtung, hängt vom jeweiligen Fall ab. Jedoch gibt es eine Reihe von Rahmenbedingungen, die es Angehörigen schwierig machen, eine gute und Selbständigkeit erhaltende Pflege zu gewährleisten. Zunächst ist der Beginn eines Pflegearrangements in den meisten Fällen mit einem plötzlichen Krankenhausaufenthalt verknüpft. Angehörige übernehmen anschließend wie selbstverständlich die Pflege zu Hause, ohne die Zeit zu haben sich mit möglichen Konsequenzen dieses Entschlusses auseinanderzusetzen. Dabei kann die Tragweite dieser Entscheidung für ein häusliches Pflegearrangement nicht eingeschätzt werden. Zu Beginn der Übernahme der häuslichen Pflege setzen pflegende Angehörige in den meisten Fällen eine Überschaubarkeit der eigenen Pflegeleistungen voraus, sowohl hinsichtlich der Dauer als auch der Intensität der Pflege. Die durchschnittliche Pflegedauer in Deutschland beträgt jedoch acht bis zehn Jahre, wobei die Intensität der Pflege stetig zunimmt. Ein Zeitraum, den man sich ohne Vorkenntnisse unmöglich in all seinen Facetten vorstellen kann und der zudem nicht planbar ist. Durch die unerwartet lange Dauer einer Pflegebeziehung kann es zu Frustration und Überforderung bis hin zum Burnout der pflegenden Person kommen.

Durch die emotionale Verbundenheit mit der pflegebedürftigen Person fehlt pflegenden Angehörigen sehr häufig eine eigene Gesundheitsprävention. Während professionelle Pflegekräfte ein Leben nach der Arbeit haben, in dem sie Kraft tanken können und Halt finden, fehlt pflegenden Angehörigen dieser Abstand zum Pflegesetting. Dies ist vor allem bedingt durch knappe Zeitressourcen sowie durch das Gefühl, funktionieren zu müssen und unentbehrlich zu sein. Besonders der Aspekt der Unentbehrlichkeit hindert pflegende Angehörige daran, sich Zeit für sich und die eigenen Bedürfnisse zu nehmen.

Ein weiterer Faktor ist die Herausforderung der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf sowie der hohe Zeitaufwand der benötigten Pflege. Derzeit pflegt etwa jede zehnte ArbeitnehmerIn in Deutschland ein nahestehendes Familienmitglied. Bei einem durchschnittlichen Pflegeaufwand von 37 Stunden wöchentlich ist eine Erwerbstätigkeit nur mit einer Einschränkung oder Aufgabe persönlicher Aktivitäten3 sowie sozialer Kontakte möglich.4 Dennoch gehen 19% der pflegenden Angehörigen einer Vollzeitbeschäftigung nach, was einem Arbeitsaufwand von zwei Vollzeitjobs entspricht. 14% der pflegenden Angehörigen haben eine Teilzeitbeschäftigung und 8% sind geringfügig beschäftigt. Dabei wird aufgrund der zunehmenden Intensität der Pflege das Verfolgen einer Erwerbsarbeit im Fortgang der Pflegesituation zunehmend schwieriger. Wird aufgrund der Pflege die Erwerbsarbeit reduziert oder aufgegeben, gehen zudem wichtige Rentenansprüche verloren, wovon insbesondere Frauen betroffen sind, da die private Hauptpflegeperson in 72% der Fälle weiblich ist.5

Die Folge einer dauerhaften hohen physischen und psychischen Belastung führt in vielen Fällen zu Erschöpfung, Überforderung und Depression. Auch für die Pflegebedürftigen selbst sind solch schwierige Pflegearrangements belastend. Wird in solchen Fällen keine professionelle Hilfe in Anspruch genommen, kann es zu physischer und psychischer Gewalt kommen. Diese kann sowohl vom Pflegebedürftigen als auch vom pflegenden Angehörigen ausgehen und sich in verbaler bis hin zu körperlicher Form äußern. In Deutschland sind Übergriffe in der häuslichen Pflege noch immer ein Tabuthema. Dennoch zeigen Untersuchungen, dass Gewalt in der Regel von nahestehenden Personen, also pflegenden Angehörigen, ausgeübt wird.6 In einer Befragung aus dem Jahr 20107 gaben 47,6% der pflegenden Angehörigen an, in den letzten 12 Monaten psychische Misshandlungen und 19,4% physische Misshandlungen an den pflegebedürftigen Menschen vorgenommen zu haben. Gewalt in der häuslichen Pflege ist demnach keine Seltenheit. Gründe für Übergriffe liegen in der Überforderung und Überlastung eigentlich gutwilliger Pflegender, sowie in biographischen Verstrickungen und einer Übernahme der häuslichen Pflege aufgrund von äußeren Umständen, wie materieller Abhängigkeit, das Fehlen eines Heimplatzes oder der finanziellen Mittel für einen solchen oder anderer Entlastungsmöglichkeiten, wie z.B. einer Haushalts- oder Putzhilfe.

Niedrigere Kosten?

Betrachtet man auch das Argument der Kostenersparnis genauer, wird deutlich, dass auch dieses nur bedingt die heutige Realität widerspiegelt. Ein Heimplatz kostet für einen pflegebedürftigen Menschen mit Pflegestufe III in Deutschland im Durchschnitt 2.907 Euro pro Monat. Die Kosten für alle pflegerischen Leistungen liegen dabei bei durchschnittlich 75 Euro pro Tag zuzüglich 21 Euro für Unterkunft und Verpflegung.8 Von der Pflegekasse übernommen werden seit dem 01.01.2012 laut § 43 Abs. 5 SGB XI 1.550 Euro pro Monat. Auf den Pflegebedürftigen entfallen demnach im Durchschnitt 1.357 Euro pro Monat. Darin enthalten sind zum einen die Kosten für pflegerische Tätigkeiten und zum anderen die Kosten für den Wohnraum inklusive Nebenkosten, die Instandhaltung des Gebäudes und der einzelnen Räumlichkeiten. Dazu kommen die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Getränken, sowie die Reinigung der Wäsche und das Putzen aller Räumlichkeiten der Einrichtung. Darüber hinaus sind in den pflegerischen Leistungen auch die psychosozialen Angebote des Sozialen Dienstes und der Seelsorge finanziert. Dazu gehört ein tägliches Freizeitprogramm mit verschiedenen Beschäftigungsangeboten, wie gemeinsame sportliche oder hauswirtschaftliche Aktivitäten, Gartenarbeit, Ausflüge usw. Heimeinrichtungen in Deutschland sind seit einigen Jahren zu einem täglichen Beschäftigungsangebot verpflichtet. Dies wird unter anderem einmal jährlich vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) und der Heimaufsicht überprüft.

Vergleicht man nun die Kosten für die häusliche mit denen für die stationäre Pflege, fällt auf, dass sie ähnlich hoch sind. Bei einer pflegebedürftigen Person mit Stufe III werden von der Pflegekasse nach § 36 Abs. 2 SGB XI ebenfalls 1.550 Euro an Sachleistungen für die Unterstützung durch einen ambulanten Dienst übernommen. Dieser Betrag deckt jedoch bei weitem nicht die Kosten für die umfangreiche Pflege einer schwerstpflegebedürftigen Person. Die bedürftige Person oder die Angehörigen müssen die zusätzlichen Kosten selbst tragen. Dazu kommen Kosten für Miete inklusive Nebenkosten oder Instandhaltung des eigenen Wohnraums, Nahrung und Getränke sowie in vielen Fällen Kosten für Haushaltshilfen. Freizeitaktivitäten und psychosoziale Betreuung, wie in stationären Einrichtungen, sind in den Kosten der häuslichen Pflege nicht enthalten. Ausgaben für eine psychosoziale Betreuung werden jedoch nach einer Prüfung auf Anspruchsberechtigung in Höhe von 1.200 - 2.400 Euro pro Jahr übernommen. Darunter fallen Besuchsdienste durch geschultes Personal, das den pflegebedürftigen Menschen vorliest, Gespräche führt oder mit ihnen spazieren fährt. Mit einem wöchentlichen Betrag von bis zu 46 Euro kommt der/die AlltagsbegleiterIn zwei Mal pro Woche für eine Stunde, um der Vereinsamung von SeniorInnen entgegen zu wirken oder die pflegenden Angehörigen zu entlasten. Benötigen pflegebedürftige Menschen mehr Gesellschaft, die durch die Angehörigen aufgrund einer Erwerbstätigkeit oder anderer Gründe nicht gewährleistet werden kann, müssen die Kosten selbst getragen oder nach ehrenamtlichen Helfern gesucht werden.9 Nehmen pflegende Angehörige keine Sachleistungen in Anspruch, erhalten sie Pflegegeld. Der Höchstsatz beträgt bei Pflegestufe III derzeit 700 Euro. Mit diesem Betrag muss die gesamte Pflege, hauswirtschaftliche Versorgung sowie die Freizeitgestaltung finanziert werden. Dies gilt, wie eingangs erwähnt, für 1,2 der 2,5 Mio. Pflegebedürftigen. Insbesondere eine qualifizierte und Selbstständigkeit erhaltende psychosoziale Betreuung, die für die Lebensqualität des Pflegebedürftigen mindestens ebenso wichtig sein dürfte wie Pflege und Haushaltsführung, findet in diesem Rahmen wohl nur in den seltensten Fällen statt.

Ist eine 24-Stunden-Betreuung notwendig, beispielsweise aufgrund einer demenziellen Erkrankung, ist diese für pflegende Angehörige zu Hause kaum bezahlbar. Immer mehr Pflegebedürftige und deren Angehörige greifen deshalb auf die Möglichkeiten einer Rund-um-die-Uhr-Versorgung durch ausländische Betreuungskräfte zurück. Die Kosten für eine solche Betreuung belaufen sich im Schnitt auf etwa 1.300 Euro monatlich.10 Dieser Betrag ist genauso hoch wie der durchschnittliche Eigenanteil stationärer Einrichtungen in Deutschland. Zu den Aufwendungen für die 24-Stunden-Betreuung kommen jedoch noch Kosten für Unterkunft und Verpflegung der pflegebedürftigen Person und mitunter auch für die Pflegeperson, wodurch die Ausgaben letztendlich höher sind als in der stationären Versorgung.

Im direkten Vergleich ist die stationäre Versorgung demnach nicht teurer als die Pflege zu Hause. Betrachtet man nur die Pflegeleistungen, wird für die ambulante Pflege durch Pflegedienste und die stationär erbrachte Versorgung gleich viel ausgegeben. Die Unterschiede liegen hierbei jedoch in der psychosozialen Betreuung. In der häuslichen Pflege, egal ob durch Angehörige oder ambulante Dienste, steht die Pflege im Vordergrund. Die psychosoziale Betreuung ist hier alleinige Angelegenheit der Angehörigen und kann stattfinden oder nicht. In gut geführten Alten- und Pflegeeinrichtungen sind die Pflege und die Betreuung der Bewohner gleichwertig und auf die Erhaltung der Selbstständigkeit hin ausgerichtet. Darüber hinaus gibt es in stationären Einrichtungen die Möglichkeit neue Kontakte zu knüpfen und den eigenen sozialen Aktionsraum zu erweitern.

Der Gewinner dieser Rechnung ist letzten Endes die Pflegeversicherung, welche von der alleinigen Versorgung durch pflegende Angehörige profitiert. Dies wird bei der Betrachtung der jeweiligen Ausgaben deutlich. Kostengünstiger ist ambulante Pflege also nur insofern, als dass die Pflegekasse hier spart. Die Gesamtkosten dagegen liegen eher in gleicher Höhe. (siehe Tab.)

Es stellt sich daher die Frage, ob es sich bei dem Leitsatz "ambulant vor stationär" nicht in erster Linie um sozialstaatliche Leistungen handelt, welche in die Familie verlagert werden, etwa um Kosten zu sparen, als um ein verallgemeinerbares Leitbild, dass die bestmögliche Versorgung von Pflegebedürftigen beschreibt. Für viele Pflegebedürftige stellen gut geführte Alten- und Pflegeheime sowie andere Formen stationärer Versorgung dagegen eine bessere Alternative dar, wenn man Aspekte wie die Möglichkeit zu sozialen Kontakten, die fachliche Qualifikation der Pflegenden, die psychosoziale Betreuung und den Erhalt der Selbstständigkeit in den Vordergrund stellt. Eine bessere stationäre Versorgung würde zudem die Überforderung von Angehörigen reduzieren und den Druck von ihnen nehmen, ihre Angehörigen nicht "abzuschieben", wie es häufig wahrgenommen wird.

Anforderungen an eine bessere Pflege - häuslich wie stationär

Um die genannten Faktoren zu reduzieren, die zu Überlastung und häuslicher Gewalt führen, benötigen pflegende Angehörige mehr Unterstützung bei der häuslichen Pflege. Durch das Gesetz zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung aus dem Jahr 2008 wurden bereits erste Schritte zur Verbesserung der Situation pflegender Angehöriger getan. Zum einen wurde das Pflegegeld erhöht und mehr Geld für die Betreuung demenziell erkrankter Menschen zur Verfügung gestellt. Die Pflegeversicherung sichert den Pflegebedürftigen und ihren Familien zwar solidarische Unterstützung zu, da es sich aber um eine Teilkasko-Versicherung handelt, sollen unter der Prämisse eines selbstbestimmten Lebens die Familie, Nachbarn oder EhrenamtlerInnen die Leistungen ergänzen.

Neben die Ermöglichung einer verbesserten ambulanten Pflege muss jedoch ein undogmatischer Umgang mit der Wahl des besten Pflegesettings - ambulant wie stationär - für alle Betroffenen treten. Dazu gehört unter anderem ein realistischeres Bild von stationären Einrichtungen. Sowohl im Bereich der pflegenden Angehörigen, der ambulanten Pflegedienste und der stationären Einrichtungen werden sich immer wieder negative Beispiele finden lassen. Das in der Öffentlichkeit durch negative mediale Berichterstattung geprägte Bild stationärer Einrichtungen zeigt jedoch nicht einen Querschnitt aller Einrichtungen der Bundesrepublik. Durch die Bürokratisierung der Pflege und einen Mangel an Fachkräften haben sich die Lebensbedingungen pflegebedürftiger Menschen in Deutschland verschlechtert. Dies betrifft sowohl den ambulanten als auch den stationären Sektor. Es ist daher an der Zeit, die Konditionen der Pflegeversicherung zu überdenken und Entscheidungen zugunsten der älteren Bevölkerung zu treffen. Dazu gehören eine Reduzierung des sozialen Drucks die häusliche Pflege eines Angehörigen übernehmen zu müssen, Entlastungsangebote für Angehörige, die pflegen möchten, mehr Ausgaben für den stationären Bereich, um mehr Fachkräfte einstellen und ausbilden zu können, eine Entbürokratisierung sowie neue Wohnformen, um die Lebensqualität pflegebedürftiger Menschen gewährleisten zu können.

Anmerkungen

1) Vgl. etwa die Aufzählung des BMBF unter www.gesundheitsforschung-bmbf.de/de/ambulant-vor-stationaer.php[zuletzt eingesehen am 09.05.2014].

2) Alle Daten vom Statistischen Bundesamt,www.destatis.de.

3) Beach, D. L. 1993: "Gerontological caregiving - Analysis of family experience", in: Journal of Gerontological Nursing 19(12): 35-41.

4) Adler, C. / T. Gunzelmann / C. Machold / J. Schumacher / G. Wilz 1996: "Belastungserleben pflegender Angehöriger von Demenzpatienten", in: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 29: 143-149.

5) Schneekloth, U. 2010: Pflege von Angehörigen - Doppelbelastung für Beschäftigte. Online unter: www.kwh-seniorenbetreuung.de/files/8_Pflege%20von%20 Angeh%C3%B6rigen.pdf[zuletzt eingesehen am 09.05.2014].

6) Sowarka, D. / B. Schwichtenberg-Hilmert / K. Thürkow 2002: Gewalt gegen ältere Menschen: Ergebnisse aus Literaturrecherchen (= DZA-Diskussionspapiere, Nr. 36), Berlin.

7) Görgen, T. (Hg) 2010: Sicherer Hafen oder gefahrenvolle Zone? Kriminalitätserfahrungen im Leben alter Menschen, Frankfurt

8) Statistisches Bundesamt,www.destatis.de.

9) Siehe den Artikel von Gisela Notz in diesem Heft.

10) Als ein Beispiel wird hier der Anbieter "Linara" genannt, Vergleiche: www.linara.de.


Annika Kron ist Diplom-Sozialpädagogin und hat 2005 ihre Diplomarbeit über die Lebensqualität hochaltriger und insbesondere dementiell erkrankter Menschen geschrieben. An der University of Bradford hat sie zudem einen Master of Science in Dementia Studies mit einer Arbeit über autonomiefördernde Aktivitäten für Menschen mit Demenz abgeschlossen. Sie arbeitet seit 2001 in der Altenpflege und leitet derzeit den Sozialen Dienst eines Seniorenheims in Rheinland-Pfalz.

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