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Nicht zukunftsfähig

15.09.2021: Das "Kippmodell der Nachhaltigkeit" und die Gefahren unserer Lebensweise

  
 

Forum Wissenschaft 3/2021; Foto: Ale Grutta Foto / shutterstock.com

Seit Jahren gehört "Nachhaltigkeit" zum Standardvokabular der politisch Verantwortlichen, auch im Marketing für den wirtschaftlichen Geschäftsverkehr findet der Begriff immer mehr Verbreitung. Doch die herrschende gesellschaftliche Entwicklung lässt stark daran zweifeln, dass das Verständnis von "Nachhaltigkeit" weiter reicht als in die Sphäre blumiger Rhetorik. Nachhaltige Entwicklung in der Gesellschaft bedarf auch wissenschaftlicher Begleitung. Ansätze dafür stellt Timo Heimberger in seinem Beitrag vor.

"Die einen ertrinken im Überfluss, die anderen im Meer"1 (Faber)

Vor etwa sechs Jahren ging ein Bild um die Welt. Und mit ihm eine Geschichte. Das Bild zeigt das Ende eines kurzen Lebens. Alan Kurdi, gerade mal zwei Jahre alt, lag tot an einem türkischen Strand. Er starb beim Versuch seiner Familie mit einem Schlauchboot nach Europa zu gelangen. Dort suchte Familie Kurdi Sicherheit. Stattdessen fand sie den Tod. Lediglich der Vater überlebte.

Das Bild und seine Geschichte prägte die Diskussion um die europäische Flüchtlingspolitik für einige Zeit. Im Jahr 2015, dem Jahr in dem das Foto entstand, starben über 3.700 Menschen beim Versuch über das Mittelmeer zu fliehen.2 Was diese Information in ihrer Abstraktheit nicht schafft, gelingt mit dem Bild des kleinen Alan Kurdi: Es weckt Empathie. Bilder können große Wirkmacht entwickeln. Auch die Bilder in unseren Köpfen wirken sich auf unser Denken und Handeln aus. Unsere Sprache ist durchsetzt von Metaphern, die wiederum Denkrahmen prägen, sogenannte "Frames", "die Fakten erst eine Bedeutung verleihen, […] indem sie Informationen im Verhältnis zu unseren körperlichen Erfahrungen und unserem abgespeicherten Wissen über die Welt einordnen." Entscheidungen treffen Menschen letztlich nicht aufgrund von Faktenlagen, sondern "aufgrund von sinngebenden Frames", in die Fakten selektiv integriert werden und dies größtenteils unbewusst. "Wer ehrlich kommunizieren will, muss sich derjenigen Metaphern, die er nutzt, möglichst bewusst sein und sie immer wieder daraufhin prüfen, ob sie seine Weltsicht und seine Meinungen wiedergeben."3. Um geeignete Bilder auswählen zu können, muss allerdings zuerst geklärt werden, was bildlich dargestellt werden soll.

Wie wird Nachhaltigkeit definiert?

Der Begriff der Nachhaltigkeit ist international geläufig und in Abkommen etabliert: Bereits 1992 wurde bei der UN-Konferenz in Rio de Janeiro Nachhaltigkeit als Leitbild festgelegt. Darin wurde eine Definition von Nachhaltigkeit aufgegriffen, die 1987 im Brundtland-Bericht vorgestellt wurde. Nachhaltigkeit ist demnach eine Entwicklung, "die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können"4.

Es ist eine sehr allgemeine Definition von Nachhaltigkeit, beinhaltet aber bereits die Elemente der intra- und intergenerationellen Gerechtigkeit. Intragenerationelle Gerechtigkeit bedeutet: Bedürfnisbefriedigung aller Menschen in der Gegenwart. Mit intergenerationeller Gerechtigkeit ist gemeint, dass auch zukünftigen Generationen solch ein menschenwürdiges Leben auf der Erde möglich sein muss.

Nachhaltigkeit umfasst die Dimensionen Ökologie, Soziales und Ökonomie. Die ökologische Dimension erfordert, dass die Ökosysteme und somit die Lebensgrundlagen der Menschen erhalten werden. Über die soziale Dimension soll allen Menschen heute und in Zukunft ein menschenwürdiges Leben gesichert werden. Bei der Dimension "Ökonomie" geht es um die Befriedigung der materiellen menschlichen Bedürfnisse heute und in Zukunft. Wichtig ist zu beachten, dass diese Dimensionen nicht isoliert betrachtet, sondern in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit verstanden werden müssen.5

Ein weiterer Bestandteil der Nachhaltigkeit ist die Werteorientierung. Einige Begriffe, die zur Beschreibung von Nachhaltigkeit eingesetzt werden, bedürfen der inhaltlichen Konkretisierung - und dies ist nur über die Orientierung an Werten möglich. Für die Brundtland-Definition ist beispielsweise zu klären, welche Bedürfnisse Menschen überhaupt haben. Einen Erklärungsansatz liefert Remo H. Largo, der für das "passende Leben" sechs Grundbedürfnisse identifiziert hat: Die körperliche Integrität, Geborgenheit und Zuwendung, soziale Anerkennung und soziale Stellung, Selbstentfaltung, Streben nach Leistung und existenzielle Sicherheit. Largo geht davon aus, dass "jeder Mensch sein ihm eigenes Bedürfnisprofil hat". Er betont dabei immer wieder die Relevanz des richtigen Maßes und setzt der individuellen Bedürfnisbefriedigung - in Anlehnung an Kants "kategorischen Imperativ" - Grenzen: "Befriedige deine Bedürfnisse so, dass die anderen Menschen in der Befriedigung ihrer Bedürfnisse nicht beeinträchtigt werden"6.

Auch der Gerechtigkeitsbegriff kann inhaltlich sehr unterschiedlich ausgelegt werden. Durch verinnerlichte Werte werden Sachverhalte als gerecht oder eben als ungerecht empfunden. Es gibt Wertemaßstäbe, die auf individueller Ebene Anwendung finden: Das sind zum einen die allgemeinen Menschenrechte.7 Zum anderen bietet die Literatur zur Bildung für Nachhaltige Entwicklung (= "BNE") Orientierung. Als Ziel der BNE wird das Ermächtigen zu Gestaltungskompetenz formuliert. Über eine interdisziplinäre, mehrperspektivische Auseinandersetzung mit globalen Themen sollen Individuen dazu befähigt werden, "an einer nachhaltigen Entwicklung mitzuwirken, indem sie den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Wandel fördern und ihr eigenes Verhalten ändern"8 - im Sinne einer Nachhaltigen Entwicklung.

Wertemaßstäbe, die auf kollektiver Ebene eine Nachhaltige Entwicklung stützen können, liefert das Konzept der "Good Governance": Governance umfasst "die Gesamtheit aller nebeneinander bestehenden Formen der kollektiven Regelung gesellschaftlicher Sachverhalte"9. Neben staatlichen Strukturen werden also auch zivilgesellschaftliche und wirtschaftliche Akteure mitberücksichtigt. Das Good-Governance-Konzept wurde ursprünglich von der Weltbank entwickelt. Es wurden Kriterien festgelegt, die für eine Entwicklung sogenannter "Entwicklungsländer" förderlich sind: Rechtsstaatlichkeit, funktionierende Verwaltungsstrukturen, Transparenz, Verantwortlichkeit der Regierenden gegenüber den Regierten, Bekämpfung von Korruption. Der Entwicklungsausschuss der OECD erweiterte den Kriterienkatalog um soziale und ethische Komponenten: Einhaltung der Menschenrechte, Partizipation und Demokratisierung.10

Sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene ist Handeln im Sinne einer Nachhaltigen Entwicklung sehr anspruchsvoll. Das Individuum steht vor der Herausforderung, Gestaltungskompetenz zu erlangen und daraus Verhaltenskonsequenzen in einer Gesellschaft zu ziehen, die über Generationen hinweg nur bruchstückhaft Erfahrungen darin hat, wie ein nachhaltiger Lebensstil aussehen kann.11 Die Menschheit als Ganze steht vor der Herausforderung, in einer Welt der sozialen Ungleichheit12, die von Nationalstaaten und transnationalen Konzernen mit jeweils ganz unterschiedlichen Interessen geprägt wird, verbindliche Regularien im Sinne einer Nachhaltigen Entwicklung zu etablieren, die global gültig sind.

Neben diesen weithin akzeptierten Bestandteilen von Nachhaltigkeit existieren einige Konfliktfelder innerhalb der Nachhaltigkeitswissenschaft, zum Beispiel bei der Gewichtung der Dimensionen. Bei der Vorstellung des Kippmodells der Nachhaltigkeit werde ich begründen, welches Verständnis von Nachhaltigkeit dem Modell zu Grunde liegt.

Bilder von "Nachhaltigkeit"

Es existieren verschiedene Modelle, die "Nachhaltigkeit" veranschaulichen sollen. Diese Modelle wirken normativ, das heißt sie drücken ein bestimmtes Verständnis von Nachhaltigkeit aus, geben also Antworten auf Fragen, die innerhalb der Nachhaltigkeitswissenschaft ganz unterschiedlich beantwortet werden.

Die weitest verbreiteten Modelle (3-Säulen-Modell, Schnittmengenmodell, Nachhaltigkeitsdreieck) weisen einige Gemeinsamkeiten auf: Die Dimensionen der Nachhaltigkeit werden gleichrangig dargestellt. Die Modelle sind statisch und eher abstrakt. Sie beschränken sich auf die Beschreibung der Dimensionen der Nachhaltigkeit und deren Anordnung. Aspekte wie die intra- und intergenerationelle Gerechtigkeit, der Anthropozentrismus, die Werteorientierung und eine Positionierung zur Wachstumsfrage und zu Kipppunkten werden nicht modelliert.

Mit dem Kippmodell der Nachhaltigkeit - ausgehend vom Ist-Zustand und dessen Darstellung über das Kippmodell der nicht-nachhaltigen Entwicklung - soll ein Modell vorgestellt werden, das den Kritikpunkten Rechnung trägt und fehlende wesentliche Komponenten einer Nachhaltigen Entwicklung integriert.

Das Kippmodell der nicht-nachhaltigen Entwicklung

Das Kippmodell der Nachhaltigkeit (Abb. 1) besteht aus verschiedenen Bausteinen, die für die Komponenten von Nachhaltigkeit stehen. Diese Bausteine lassen sich so anordnen bzw. variieren, dass sie eine globale Perspektive auf die derzeitige, nicht-nachhaltige Entwicklung ermöglichen. Dadurch wird die Labilität unseres aktuellen Gesellschaftssystems deutlich und die möglichen Folgen eines Überschreitens sozialer oder ökologischer Kipppunkte werden erkennbar. In den nächsten Zeilen soll erläutert werden, welche Überlegungen hinter dieser Darstellung stecken.

Die Namensgebung des Kippmodells ist angelehnt an das Konzept der Kipppunkte. Kipppunkte sind "nicht-lineare Prozesse", die "irreversible Veränderungen bewirken und substantielle Auswirkungen auf die Lebensgrundlagen eines Großteils der Menschheit haben können"13. Das Überschreiten von Kipppunkten kann für die Menschheit als Ganze existenzgefährdend sein und eine Nachhaltige Entwicklung unmöglich machen. Deshalb ist eine Integration der Kipppunkte in ein Nachhaltigkeitsmodell erforderlich. Neben ökologischen sind auch soziale und ökonomische Kipppunkte möglich und historisch bekannt, beispielsweise in Form von Revolutionen oder Weltwirtschaftskrisen. Ökologische Kipppunkte sind allerdings "naturwissenschaftlich greifbar, folgen physikalischen Gesetzen und sind somit leichter berechenbar als [beispielsweise] soziale Kipppunkte"14 . Der WBGU setzt den ökologischen Kipppunkten präventiv das Konzept der "planetarischen Leitplanken" entgegen. "Planetarische Leitplanken" werden definiert als "quantitativ definierbare Schadensgrenzen, deren Überschreitung heute oder in Zukunft intolerable Folgen mit sich brächte, so dass auch großer Nutzen in anderen Bereichen diese Schäden nicht ausgleichen könnte"15. Sechs Leitplanken werden vom WBGU gesetzt, die darauf hinweisen, in welchen Bereichen die Menschheit derzeit ein hohes Risiko eingeht Kipppunkte zu überschreiten: Bei der Klimakrise, der Versauerung der Meere, dem Verlust biologischer Vielfalt, der anthropogenen Land- und Bodendegradation, der Gefährdung durch langlebige anthropogene Schadstoffe und dem Verlust von nicht rückgewinnbarem Phosphor legt der WBGU Werte fest, die nicht überschritten werden sollen.16 Das Stockholm Resilience Center erarbeitete ein ähnliches Konzept ("planetary boundaries") mit weiteren kritischen Bereichen wie z.B. dem Stickstoffkreislauf. Insbesondere für die Klimakrise, die Biodiversität und den Stickstoffkreislauf diagnostiziert das Stockholm Resilience Center eine alarmierende Entwicklung.17 Beim Überschreiten von Kipppunkten droht letztlich ein totaler Kontrollverlust und ein "Untergang der Holozän-Natur […] als Folge von Untersystem-Zusammenbrüchen"18.

Ökologische Krisen können wiederum Gesellschaftssysteme destabilisieren: Aus Naturkatastrophen resultieren Lebens- und Gesundheitsrisiken, die Ernährungssicherheit ist aufgrund von Extremniederschlägen oder Dürren in vielen Weltregionen nicht mehr gewährleistet. Die Lebens- und Einkommensgrundlagen sind vielerorts in Gefahr (z.B. durch verminderte Erträge aus Landwirtschaft, Fischfang oder Tourismus).19 Es drohen Verteilungskonflikte "um Wasser, um Land, um die Bewältigung von Flüchtlingsbewegungen oder um Kompensationszahlungen zwischen den wesentlichen Verursachern des Klimawandels und den Ländern, die vor allem von dessen destruktiven Wirkungen betroffen sein werden"20. "Dabei gilt das Gegenteil des Verursacherprinzips: Diejenigen […], die den geringsten Anteil [an der menschengemachten Klimakrise] haben, werden zuerst die Folgen erleiden"21.

Die Form des Kreis- bzw. des Kugelausschnittes der Dimensionen soll veranschaulichen, dass ein Kippen dieser Ebenen möglich ist. Die Schieflage der ökologischen Dimension drückt aus, dass es nicht mehr viel Spielraum gibt bis zu einem Kippen. Damit wird auf das Erfahrungswissen der Betrachter*innen zurückgegriffen: Auf einer schiefen Ebene zu stehen und das Gefühl zu haben das Gleichgewicht verlieren zu können, lässt sich übertragen auf die globale Schieflage durch eine nicht-nachhaltige Entwicklung. Das Kippmodell verbildlicht, dass Nachhaltigkeit ein anthropozentrisches Konzept ist.22 Die Menschheit taucht symbolisch auf. Damit lässt sich der Aspekt der intra- und intergenerationellen Gerechtigkeit veranschaulichen. Die Erwachsenen symbolisieren "Arm" und "Reich", das Kind nachfolgende Generationen. Aus der Position von "Arm" und "Reich" lässt sich ableiten, dass der Wohlstand auf der Erde derzeit sehr ungleich verteilt ist.

Good Governance-Strukturen existieren nur in Teilen der Welt. Transnationale Konzerne nutzen den fehlenden staatlichen Schutz in vielen Ländern der Welt um billige, weitgehend rechtlose Arbeitskräfte zu rekrutieren und gehobenen Umweltstandards auszuweichen.23 "Es ist die Verbindung der Externalisierung negativer Effekte unserer Lebensart mit den Wirkmechanismen, insbesondere des Wachstumsdogmas, des globalen Kapitalismus, die die Menschheit in den Abgrund bringt, ohne dass sich das für die Bewohner*innen der Industrieländer bedrohlich anfühlt"24.

Das Kippmodell der Nachhaltigkeit

Das Kippmodell der Nachhaltigkeit (Abb. 2) weicht in wesentlichen Punkten von den vorgestellten etablierten Modellen ab: Die Dimensionen der Nachhaltigkeit haben nicht dieselbe Wertigkeit. Die Ökonomie ist ein Teilbereich der Sozialwissenschaften und Gesellschaftssysteme können nicht ohne ein ökologisches Fundament existieren. Daher werden die drei Dimensionen als Kugel- bzw. Kreisausschnitte dargestellt, die aufeinander basieren.

Im Unterschied zum Kippmodell der nicht-nachhaltigen Entwicklung sind beim Ideal der Nachhaltigkeit die Dimensionen in der Balance. Die Good Global Governance bildet einen Rahmen für die gesamte Weltbevölkerung und begrenzt die Ökonomie.25 Das Modell zieht Grenzen für Wirtschaftswachstum: Eine relative Entkopplung des Ressourcenverbrauchs und der Umweltbelastung vom Wirtschaftswachstum ist realisierbar. Global betrachtet sinkt in der Regel die Energieintensität über die Jahre.26 Allerdings steigen die absoluten Zahlen bei Ressourcenverbrauch und Umweltbelastung weiterhin kontinuierlich an. Ursache dafür ist hauptsächlich das Wirtschaftswachstum. Eine absolute Entkopplung gelingt bisher lediglich auf Nationalstaatsebene. Hinzu kommt, dass CO<V>2<^*>-Emissionen durch emissionsintensive Produktionsprozesse in großem Umfang externalisiert werden. Das bedeutet: "Der Anstieg der Emissionen aus Gütern, die in Entwicklungsländern produziert, aber in Industrieländern konsumiert werden, war [2011] sechsmal größer als die Emissionseinsparungen der Industrieländer"27. Die gesamte Menschheit lebt seit 1970 über ihre Verhältnisse. Das Ausmaß der Übernutzung vergrößert sich stetig.28 Doch selbst wenn es möglich wäre eine absolute Entkopplung zu erreichen, könnte das unmöglich in der erforderlichen Zeit gelingen. Schon bei konstant bleibendem Emissionsniveau der Treibhausgase ist das CO<V>2<^*>-Budget, das noch verfügbar ist um das international vereinbarte Ziel zu erreichen, die Erderhitzung auf 1,5 °C zu begrenzen, im Jahr 2030 erschöpft.29 Berechnungen von Tim Jackson verdeutlichen: Die Emissionsintensität müsste jährlich um 8% verbessert werden - ein im Vergleich zu den letzten zehn Jahren verfünfzigfachter Wert. Wenn zudem das Wohlstandsniveau der Industrieländer als globaler Maßstab gelten soll, müsste sich das globale BSP bis zum Jahr 2050 verelffachen. Die Kohlenstoffintensität müsste bis dahin um den Faktor 200 verbessert werden.30

Um soziale Kipppunkte in Zukunft zu vermeiden, bedarf es einer egalitären Gesellschaft. Das heißt nicht, dass alle gleich sein oder gleich viel haben müssen. Aber Chancen- und Verteilungsgerechtigkeit sind wesentlich für den sozialen Frieden.31 Um Gestaltungskompetenz entwickeln und nutzen zu können, um die Bedürfnisse aller Menschen befriedigen zu können, müssen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stimmen und das schließt ein Leben in Armut aus. Darüber hinaus ist erwiesen, dass mit steigendem Einkommen auch beispielsweise der CO<V>2<^*>-Ausstoß steigt. Das reichste Prozent verursacht mehr als doppelt so viel CO<V>2<^*>-Ausstoß wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Die reichsten 10% sind für mehr als die Hälfte der globalen CO<V>2<^*>-Emissionen verantwortlich.32

Sind wir am Ende?

Zu Beginn dieses Artikels wird aus einem Faber-Lied zitiert: "Die einen ertrinken im Überfluss, die anderen im Meer." Dieses Zitat greift das Thema "Flucht" auf und kritisiert europäische Flüchtlingspolitik, hinterfragt aber auch die Verteilung des Wohlstands auf dieser Welt. Es kann als Statement für intragenerationelle Gerechtigkeit interpretiert werden. Das Zitat lässt sich auch intergenerationell interpretieren: In der Gegenwart lebt ein Teil der Weltbevölkerung ein luxuriöses Leben auf Kosten der Menschen in anderen Weltregionen und zukünftiger Generationen. Nachfolgende Generationen werden mit den Folgen zu kämpfen haben, u.a. mit steigenden Meeresspiegeln und einer wachsenden Zahl an Umweltkatastrophen wie Starkregen und Überschwemmungen. Es bleibt zu hoffen, dass das Faber-Zitat eine Momentaufnahme ist, die überwunden werden kann mit Hilfe des gelebten Überlebenskonzepts "Nachhaltigkeit" - und keine Zukunftsprognose.

Anmerkung

1) Faber: In Paris brennen Autos, auf: ebd.: Sei ein Faber im Wind, Universal Music 2017. Nr. 8.

2) Lucas Eilers 02.07.2019: "So viele Menschen sterben auf der Flucht". Im Internet unter: www.zdf.de/nachrichten/heute/massengrab-mittelmeer-jeder-elfte-fluechtling-stirbt-auf-dem-weg-von-libyen-nach-italien-100.html.

3) Elisabeth Wehling 2017: Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet - und daraus Politik macht, Bonn.

4) Volker Hauff (Hg.) 1989: Unsere gemeinsame Zukunft - Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, Greven.

5) Timo Heimberger 2019: Die Menschheit in Schieflage. Ein neues Nachhaltigkeitsmodell: Was passiert, wenn wir ökologische und soziale Kipppunkte überschreiten, München.

6) Remo H. Largo 2017: Das passende Leben. Was unsere Individualität ausmacht und wie wir sie leben können, Frankfurt a. M.

7) Armin Grunwald / Jürgen Kopfmüller 2012: Nachhaltigkeit, Frankfurt a.M. / New York.

8) Marco Riekmann: "Die Bedeutung von Bildung für eine nachhaltige Entwicklung für das Erreichen der Sustainable Development Goals (SDGs)", in: ZEP (2/2018), Münster: 4-10.

9) Franz Nuscheler 2013: Good Governance. Studienbrief Nr. 0210 des Fernstudiengangs "Nachhaltige Entwicklungszusammenarbeit" der TU Kaiserslautern.

10) Ebd.

11) Harald Welzer 2014: Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand, Frankfurt a. M.

12) Anthony B. Atkinson 2017: Ungleichheit. Was wir dagegen tun können, Bonn.

13) WBGU (Hg.) 2014.1: Klimaschutz als Weltbürgerbewegung. Sondergutachten, Berlin.

14) Timo Heimberger 2019 (s. Anm. 5).

15) WBGU (Hg.) 2014.2: Zivilisatorischer Fortschritt innerhalb planetarischer Leitplanken. Ein Beitrag zur SDG-Debatte. Politikpapier 8, Berlin.

16) Timo Heimberger 2019 (s. Anm. 5).

17) WBGU (Hg.) 2014.1 (s. Anm. 13).

18) Hans Joachim Schellnhuber 2015: Selbstverbrennung. Die fatale Dreiecksbeziehung zwischen Klima, Mensch und Kohlenstoff, München.

19) WBGU (Hg.) 2014.1 (s. Anm. 13).

20) WBGU (Hg.) 2008: Welt im Wandel. Sicherheitsrisiko Klimawandel. Hauptgutachten, Berlin, Heidelberg.

21) Timo Heimberger 2019 (s. Anm. 5).

22) Ebd.

23) Michael Kopatz 2018: Ökoroutine. Damit wir tun, was wir für richtig halten, München.

24) Timo Heimberger 2019 (s. Anm. 5).

25) Ebd.

26) Tim Jackson 2017: Wohlstand ohne Wachstum. Grundlagen für eine zukunftsfähige Wirtschaft, München.

27) Naomi Klein 2014: Die Entscheidung. Kapitalismus vs. Klima, Frankfurt a. M.

28) J Klaus Dieter John 2014: "Wirtschaftswachstum und Nachhaltigkeit aus systemdynamischer Perspektive", in: Michael von Hauff (Hg.): Nachhaltige Entwicklung. Aus der Perspektive verschiedener Disziplinen, Baden-Baden: 41-74.

29) Tim Gore 21.09.2020: Confronting Carbon Inequality. Oxfam. Im Internet unter: www.oxfamilibrary.openrepository.com/bitstream/handle/10546/621052/mb-confronting-carbon-inequality-210920-en.pdf.

30) Tim Jackson 2017 (s. Anm. 26)

31) WBGU 2014.2 (s. Anm. 15)

32) Tim Gore 21.09.2020 (s. Anm. 29)

Timo Heimberger arbeitet als Stellvertretender Betriebsratsvorsitzender im Betriebsrat der KBF gGmbH und als Sonderschullehrer an der Dreifürstensteinschule in Münsingen. Er eignete sich einen Master im Studiengang "Nachhaltige Entwicklungszusammenarbeit" an und ist im Kreisverband Reutlingen von Bündnis 90/ Die Grünen aktiv. Weitere Infos unter: www.kippmodell-der-nachhaltigkeit.de.

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