BdWi - Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler

»Wissenschaft ist also ein prinzipielles Gegen-den-Strom-Schwimmen.«

Klaus Holzkamp

Newsletter abonnierenKontaktSuchenSitemapImpressumDatenschutz
BdWi
BdWi-Verlag
Forum Wissenschaft

"Leitkultur"

18.09.2017: Die große Beschwörungsformel von Georg Auernheimer

  
 

Forum Wissenschaft 3/2017; Haeferl – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org

Immer wieder geistert seit Jahren der Begriff "Leitkultur" durch die öffentlichen Debatten. Nach Pegida und AfD schwören auch CSU und Bayerische Staatsregierung auf die Leitkultur. Georg Auernheimer betrachtet die Karriere dieses merkwürdigen Begriffes und seine Absurdität.

Der Begriff "Leitkultur" hat ein seltsames Schicksal hinter sich. Geschaffen hat ihn der Politikwissenschaftler Bassam Tibi in seinem zuerst 1998 publizierten Buch Europa ohne Identität?, um der europäischen Migrationspolitik einen Weg zwischen "eurozentrischer Arroganz und kulturrelativistischer Selbstverleugnung" zu weisen. Es sei dahingestellt, ob die unterstellte "Selbstverleugnung" allen gerecht wurde, die damals für Multikulturalismus eintraten. Auf jeden Fall hatte die Intention von Tibi wenig gemein mit dem heutigen Gebrauch des Begriffs durch politische Gruppierungen aus dem rechten Spektrum oder von Mitterechts. Tibi, selbst im sunnitischen Islam erzogen, war es ein großes Anliegen, vor allem die Trennung von Religion und Politik und den Vorrang der Vernunft vor göttlicher Offenbarung als europäische Leitkultur gegenüber einem scheinbaren Defätismus zu sichern, der für ihn von falscher Toleranz und identitätspolitischer Schwärmerei geleitet war. Die europäische Leitkultur in seinem Sinn war dabei gerade gegen ein ethnisches Nationsverständnis und die damit verbundene Abwehrhaltung gerichtet. Im selben Jahr 1998 propagierte jedoch der Herausgeber der Zeit, Theo Sommer, eine "deutsche Leitkultur", die zur Ab- und Ausgrenzung befähigt wurde, was auch daran deutlich wird, dass sich der Journalist zwei Jahre später dagegen verwehren musste, als der CDU-Politiker Friedrich Merz unter Bezugnahme auf seinen Artikel in der Zeitung Die Welt die neue Integrationspolitik des Kabinetts Schröder in Frage stellte. Norbert Lammert (CDU) plädierte dann 2005 für eine Wiederaufnahme der Debatte, wobei er wieder eine europäische Leitkultur ins Gespräch brachte (de.wikipedia.org/wiki/Leitkultur).

Ethnisch begründete Leitkultur

Nach dem starken Zustrom von Geflüchteten aus Syrien und den anderen destabilisierten Staaten des Nahen Ostens wurde Leitkultur endgültig zum politischen Kampfbegriff. Die Demonstrationen derer, die sich "Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" nennen, bekannt unter dem Kürzel Pegida, machten die CSU nervös, so dass sie den Begriff auch auf ihre Agenda setzte, zumal die neue Partei am rechten Rand, die "Alternative für Deutschland" (AfD) ihn in ihrem Grundsatzprogramm verwendet. Man befürchtete offenbar, dass sich zu viele Wähler dieser Partei zuwenden würden. Die Geschichte des Begriffs macht deutlich, dass die Leitkultur speziell gegen den Islam und die Muslime in Stellung gebracht wird.

Im Grundsatzprogramm der AfD vom Mai 2016 heißt es: "Die Alternative für Deutschland bekennt sich zur deutschen Leitkultur, die sich im Wesentlichen aus drei Quellen speist: erstens der religiösen Überlieferung des Christentums, zweitens der wissenschaftlich-humanistischen Tradition, deren antike Wurzeln in Renaissance und Aufklärung erneuert wurden, und drittens dem römischen Recht, auf dem unser Rechtsstaat fußt"1.

Einen Monat später, im Juni 2016, wurde dem Bayerischen Landtag der Entwurf des Bayerischen Integrationsgesetzes (BayIntG) vorgelegt, das der Idee einer Leitkultur verpflichtet sein soll - welcher, das wurde in der damaligen Landtagsdebatte nicht ganz klar. Unter den Propagandisten einer Leitkultur scheint ungeklärt, ob es sich dabei um eine Art regulativer Idee handelt, deren inhaltliche Konkretion sich meist darin erschöpft, dass die Prinzipien des Grundgesetzes, eigentlich jeder modernen Verfassung, angeführt werden. Oder sind mit der Leitkultur tatsächlich gelebte Normen, Verhaltens- und Denkmuster gemeint? Dann stellt sich die Frage: Wie sollen die nachweisbar sein?

Die verfassungsrechtliche Frage ist, ob kulturelle Übereinstimmung über die Staatsangehörigkeit entscheiden soll bzw. ob sie die Staatsbürgerschaft "als Ausweis der rechtlichen Zugehörigkeit zur politischen Gemeinschaft" ersetzen soll.2 Eine gesetzliche Verankerung der deutschen Leitkultur ist gleichbedeutend mit einer heimlichen Rückkehr zum ethnischen Nationsverständnis, das bis vor eineinhalb Jahrzehnten noch das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht bestimmte. Unter verfassungsrechtlichem Aspekt kann und muss man somit der Idee eine Absage erteilen. Thema abgehakt. Ich möchte im Folgenden aber unabhängig von der verfassungsrechtlichen Grundsatzfrage zum einen die kulturwissenschaftliche Absurdität von Leitkultur und zum anderen deren politische Funktion beleuchten. Ich gestehe auch, dass es mich gereizt hat, einmal den Blick auf die Inszenierung der bayerischen Scheinwelt durch die CSU zu lenken, die, so kurios sie sein mag, ideologisch recht effektiv ist.

Lebendige Leitkultur als Phantasma

Die AfD beruft sich auf eine angeblich lebendige Kultur. In dem oben schon zitierten Abschnitt 7.2 ihres Grundsatzprogramms behauptet die AfD allen Ernstes: "Gemeinsam liegen diese Traditionen [Christentum, Aufklärung, röm. Recht; G. A.] nicht nur unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung zugrunde, sondern prägen auch den alltäglichen Umgang der Menschen miteinander, das Verhältnis der Geschlechter und das Verhalten der Eltern gegenüber ihren Kindern"3. Wenn man sich die zu vernachlässigende Bedeutung vor Augen führt, die christliche Glaubensinhalte und -rituale im hiesigen Alltagsleben, zumal im Gebiet der ehemaligen DDR, aber nicht nur dort, heute noch haben, dann entpuppt sich die Aussage in dieser Hinsicht als Phantasma. Das Erbe der Aufklärung mag das europäische Denken, z.B. in der Pädagogik, prägen. Aber die Welt der Ideale darf nicht mit der Alltagswelt gleichgesetzt werden.

So werden viele der Auffassung sein, dass Gleichberechtigung das auszeichnende Merkmal unserer Genderordnung ist, wobei in der Regel der abschätzige Vergleich mit islamisch geprägten Gesellschaften nicht ausbleibt.4 Aber die entsprechenden Normvorstellungen werden im Alltag noch keineswegs immer gelebt. Welcher Mann möchte heute noch leugnen, dass er auch Pflichten im Haushalt hat oder dass die Wahl des Wohnorts von den beruflichen Perspektiven beider Partner abhängig sein sollte? Aber wie oft wird dem entsprochen? Die Autor*innen einer empirischen Studie sprechen von einem "taktischen" Verhältnis vieler Befragter zur Gleichstellung.5

Im Übrigen darf die "Dialektik der Aufklärung" nicht verdrängt werden. In dem Diskurs über Leitkultur macht sich ein völlig unangebrachtes Selbstbewusstsein breit. Man will nichts von den verheerenden Folgen wissen, die die Vorstellung von der Beherrschbarkeit der Welt gezeitigt hat, von den ungeheuren Verbrechen des Faschismus ganz zu schweigen. Nicht von ungefähr wendet sich die AfD in ihrem Grundsatzprogramm gegen die angebliche "Verengung der deutschen Erinnerungskultur auf die Zeit des Nationalsozialismus"6. Grotesk wirkt übrigens die Berufung auf Christentum und Aufklärung, wenn man bedenkt, dass dies eine Partei tut, die für Wohlstandschauvinismus und Nationalismus steht, die nicht für die Schwachen eintritt, die unter anderem für eine verschärfte Abschiebepraxis gegenüber Flüchtlingen plädiert. Ähnliches gilt für die "Christlich Soziale Union".

Transformation kultureller Muster

Lässt sich überhaupt so etwas wie eine deutsche Kultur identifizieren? Man kann der Auffassung sein, es gebe dafür Indizien.7 Aber die deutsche Kultur gibt es nicht. Wer eine solche zur "Leitkultur" machen will, der übersieht nicht nur die synchrone Vielfalt, wie sie die bekannten Sinus-Milieustudien belegen (www.sinus-institut.de), sondern auch die Dynamik in der Zeit.8

Typische Eigenschaften von Deutschen (ebenso wie von Franzosen, Briten etc.) wären sicher für eine empirische Studie schwierig zu operationalisieren. Eher machen historische Studien plausibel, dass nationalspezifische Entwicklungen, Strukturen und Konflikte in Politik, Wirtschaft, Religion die Herausbildung besonderer habitueller Eigenschaften gefördert haben könnten.9 Dabei ist innerhalb Europas nationale Vielfalt mit vielen ebenfalls historisch bedingten Gemeinsamkeiten verbunden, was zeigt, dass eine gewisse Homogenität interne Differenzen nicht ausschließt.

Kulturelle Muster werden aufgrund neuer Anforderungen, die wirtschaftliche und soziale Strukturveränderungen mit sich bringen, heute schneller denn je transformiert. Soziale Bewegungen und Diskurse befördern den Prozess. Innerhalb von zwei Generationen haben sich unsere Institutionen und Verhaltensweisen fast bis zur Unkenntlichkeit verändert. So sind zum Beispiel deutsche Schulen zu Dienstleistungsunternehmen mutiert, soweit sie nicht als Sozialeinrichtungen für marginalisierte Bevölkerungsteile dienen. Dem entspricht die Verrechtlichung des Schullebens, speziell der Beziehung zu den Eltern. Der Lehrer sei nicht mehr Repräsentant der Kultur mit einer gewissen Aura, so Thomas Ziehe10, da die kulturellen Selbstverständlichkeiten erodiert seien. Die Lehrerrolle spalte sich auf in den Qualifizierungsfachmann und den Beziehungsarbeiter oder Animateur (ebd.). Ähnliche Tendenzen lassen sich beim sozialen Umgang im Allgemeinen beobachten. Im Mittelschichtmilieu ist der Umgang miteinander weit weniger formell als früher, was Formen der Begrüßung und Anrede und die Gesprächsstile betrifft. Innerhalb von Organisationen hat man nach Sennett11 gelernt, das Spiel der Kommunikation zu spielen. Loyalität und gegenseitige Verpflichtung hätten an Verbindlichkeit verloren (ebd.).

Und wie hat sich das Sozialverhalten erst verändert seit der Verbreitung der neuen Kommunikationsmedien! Der Tratsch mit Nachbarn ist durch Facebook oder Twitter ersetzt worden. Partner, Freunde, Bekannte sitzen im Restaurant und tippen in ihre Smartphones, ohne sich eines Blickes zu würdigen. Wenn ich mich im Zug neben einen anderen Fahrgast setze, erwarte ich kein freundliches, einladendes Zunicken mehr, wie früher üblich, weil der andere mit seinem Gerät beschäftigt ist. Also auch technologische Neuerungen verleiten zu verändertem Verhalten, bringen Erleichterungen ebenso wie neue Anforderungen mit sich.

Es zeigt sich also, dass es einerseits aufgrund der inneren Differenzierung in vielfältige Milieus und andererseits aufgrund der kulturellen Transformationen unmöglich ist, eine in der Realität vorfindliche Kultur oder auch Lebensform zur "deutschen Kultur" zu erklären und zur Maß gebenden Leitkultur zu machen. Da sich im Zug der Globalisierung die wirtschaftlichen Strukturen und, dadurch bedingt, soziale Ordnungen zunehmend angleichen, lassen sich weniger denn je nationale Eigenheiten identifizieren. Die weltweite Nutzung der neuen Technologien tut ein Übriges.

Gerade die Globalisierung verleitet jedoch manche dazu, sich als Mitglied einer Volksgemeinschaft mit spezifischen Charakterzügen zu fantasieren. Nicht wenige speisen ihr Selbstbewusstsein aus dem imaginären Idealbild angeblich typisch deutscher Eigenschaften wie Fleiß, Sauberkeit etc. Den Bedarf an einer zur Identifikation tauglichen Scheinwelt deckt die Bayerische Staatsregierung in ihrem BayIntG. Dort kann man lesen: "Ganz Bayern ist geformt von gewachsenem Brauchtum, von Sitten und Traditionen" (BayIntG, Präambel).

Tatsächlich mögen in Teilen Bayerns noch überraschend viele an kirchlichem Brauchtum partizipieren und überdurchschnittlich viele gemeinsam Musik machen. Aber die noch gepflegten Bräuche - was gepflegt werden muss, ist schon nicht mehr lebendig - sind meist nichts anderes als Spektakel oder "Events", meist mit der Funktion, zumindest mit dem Nebengedanken, die Attraktivität der Region für den Tourismus zu steigern. Der lebendigste Brauch ist nach meinem Eindruck, zumindest unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen, heutzutage Halloween, ein transatlantischer Import.

Das Brauchtum wird nicht nur zur Förderung des Tourismus "gepflegt", sondern auch mit identitätspolitischer Absicht. Das hat in Bayern Tradition. Einigen Volkstümlern aus dem Herrscherhaus der Wittelsbacher im 19. Jahrhundert verdankt sich das in Bayern noch stark gepflegte Volkstrachtenwesen und auch die Volksmusik hat damals eine erste Aufwertung erfahren, eine zweite dann im Gefolge der Jugendbewegung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Die Identitätspolitik wird heute sehr bewusst (und erfolgreich) von der CSU fortgesetzt, knapp gefasst in ihrem Slogan "Laptop und Lederhose".

Seit 2014 gibt es sogar ein "Heimatministerium" als eigenes Ressort des "Bayerischen Staatsministeriums der Finanzen, für Landesentwicklung und Heimat". Erklärte Aufgabe des Ministeriums soll es sein, "gleichwertige Lebensverhältnisse im Freistaat" herzustellen. Derselbe Minister, der das Heimatministerium leitet, hat große Bestände an Sozialwohnungen an eine Investmentgesellschaft verkauft.12 Im Übrigen wird nichts getan, um die Spekulation auf dem Immobilienmarkt einzudämmen, die das Wohnen in den Städten zum Luxus werden lässt und alte, gewachsene Sozialmilieus vernichtet hat. Das zeigt beispielhaft die fast ins Absurde gesteigerte Widersprüchlichkeit dieser Politik, die nur dem Schein nach konservativ im Sinn von nachhaltig oder bewahrend ist. Das Ergebnis der CSU-Politik sind ebenso unwirtliche Städte und verwüstete Landschaften mit Monokulturen und verseuchten Gewässern wie anderswo.

Ausgrenzung als Kehrseite

Die gesellschaftliche Funktion der "Leitkultur" besteht also zum einen in der Stiftung einer imaginären Identität. Die Kehrseite dessen ist die Ausgrenzung. Dabei sprechen sowohl die AfD als auch CSU und Bayerische Staatsregierung von "Integration".

Die AfD erläutert in ihrem Grundsatzprogramm nach dem Bekenntnis zur Leitkultur: "Um mit Einwanderern in der Zukunft friedlich zusammenleben zu können, ist deren Integration unerlässlich…Gelungene Integration fordert von Einwanderern jeden Alters mindestens das Erlernen der deutschen Sprache, die Achtung unserer Rechts- und Gesellschaftsordnung sowie den Verdienst des eigenen Lebensunterhalts"13.

Im Entwurf des Bayerischen Integrationsgesetzes ist man weniger bescheiden mit den Anforderungen: "Die Orientierung an der Leitkultur gibt der Integration die notwendige Richtung. Für den sozialen Frieden ist entscheidend, dass es Regeln gibt, die alle kennen, die für alle gelten und die im Konfliktfall auch bestimmen, was zu gelten hat und was nicht, Regeln also, die von allen als nicht verhandelbar anerkannt werden. Dieser Grundkonsens der Leitkultur ist von besonderer Bedeutung für das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlicher sozialer Erfahrung und mit verschiedenen ethnischen, kulturellen und religiösen Prägungen"14.

Einem kulturwissenschaftlichen Verständnis von Kultur halten solche der "Leitkultur" zugedachte Funktionen nicht stand. Denn kulturell verankerte Regeln sind im Unterschied zu den formalen Regeln einer Organisation oder gar zu Rechtsvorschriften nirgends kodifiziert. Deshalb sind sie auch höchstens durch soziale Missachtung oder Ausschluss aus der jeweiligen Gruppe sanktionierbar. Ihre Besonderheit liegt darin, dass sie selbstverständlich ohne Nachdenken im Kontakt miteinander befolgt werden.

Davon abgesehen, stellt sich aber die Frage, ob für "das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft" gemeinsame kulturelle Orientierungsmuster unabdingbar sind. Zum soziologischen Elementarwissen gehört, dass moderne Gesellschaften in verschiedene Subsysteme ausdifferenziert sind, die ihre je eigenen Funktionen und funktional bestimmten Regeln haben. Deren Kenntnis reicht aus, die Kooperationsfähigkeit der Mitglieder zu sichern. Als Beleg dafür ließe sich die Beschäftigung der "Gastarbeiter" der ersten Stunde anführen, die offenbar ihre Aufgaben in den Betrieben zur Zufriedenheit ausführten, obwohl ihnen anfangs die Alltagskultur ihrer deutschen Kollegen völlig fremd war. Außerdem kennzeichnet unsere Gesellschaft die Trennung zwischen Öffentlichkeit und Privatleben. Wer wollte einer Familie vorschreiben, wann und wie sie essen soll, wie die Aufgaben zwischen den Mitgliedern zu verteilen sind und wie die Kinder erzogen werden sollen?

Eine abwegige Vorstellung besteht darin, mit Hilfe der Leitkultur könne man sich die Loyalität von Bürgern sichern. Loyalität entsteht, wenn Menschen eine Arbeit finden, sich sozial abgesichert und akzeptiert fühlen können, nicht durch die Vorgabe einer Leitkultur. Dagegen der CSU-Abgeordnete Zellmeier: "Leitkultur beinhaltet aber auch Loyalität"15.

Die geringe inhaltliche Tragfähigkeit und Formelhaftigkeit der Leitkultur hat einige ihrer Verfechter*innen veranlasst, sich auf Verfassungsgrundsätze zurückzuziehen, so die Bayerische Sozialministerin Emilia Müller in der Landtagsdebatte vom 1. Juni 2016. Aber im Gegensatz zu ihr erklärte der Landtagsabgeordnete Josef Zellmeier: "Leitkultur… beinhaltet die christlich-abendländische Prägung unseres Landes."16 Das zeigt, dass sich die Verfechter der Leitkultur nicht ganz einig sind, was sie damit meinen.

Versteckte politische Funktion

Die der Leitkultur zugedachten sozialen Funktionen halten einer Überprüfung nicht stand. Das lässt den begründeten Verdacht zu, dass die eigentliche Funktion eine versteckt politische ist. Offenbar sollen verbreitete Vorurteile und Ängste aufgegriffen werden, um sich als die Schutzmacht zu präsentieren, der man sich anvertrauen kann.17

Wenn die Bayerische Sozialministerin in der Landtagsdebatte sagt: "Dabei handelt es sich um eine Leitkultur, die wir uns in Deutschland gegeben haben. Dazu gehören Offenheit und Toleranz", so ist der letzte Satz wie so vieles in dem Diskurs nur aus dem Kontext der gegenwärtigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und Befürchtungen heraus verständlich. Denn implizit unterstellt die Sprecherin, dass irgendjemand nicht Offenheit und Toleranz vertritt. Offen lässt sie zwar, wer das sein könnte. Aber man kann sicher sein, dass die Befürworter einer Leitkultur wissen, wen man dafür haftbar machen muss. In Artikel 3 des BayIntG zur Genderfrage kommt eine vormundschaftliche Politik zum Ausdruck. Die Vormundschaft ist darin begründet, dass die integrationsbedürftigen Zugewanderten erst mit der Gleichberechtigung vertraut gemacht werden müssen. "Der Staat unterstützt Migrantinnen und Migranten durch geeignete Angebote darin, die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern in Deutschland anzunehmen, einzuüben und auch selbstbewusst zu vertreten" (Art.3, Abs.3). - Richtig! wird manche/r sagen. Nur im Kontext des Islam-Diskurses ist die Passage verständlich.

Häufig führen die Propagandisten der Leitkultur von niemandem bestrittene Integrationsanforderungen an. Die AfD steht hier nicht allein, wenn sie von den Zugewanderten "das Erlernen der deutschen Sprache, die Achtung unserer Rechts- und Gesellschaftsordnung" verlangt, was seit der Verabschiedung des Nationalen Integrationsplans vor zehn Jahren Gegenstand der Integrationskurse ist. Deshalb handelt es sich um Anforderungen, die überflüssigerweise formuliert werden. Aber es ist ja nicht die Sorge um Eingliederungsprobleme und sozialen Frieden, die hier die Feder führt. Sondern man bedient Vorurteile und schürt Ressentiments in der Verkleidung verantwortungsbewusster Staatsbürger. Auch die Anrufung der "Werte und Traditionen des gemeinsamen christlichen Abendlandes" (Präambel BayIntG) dient nur der Abgrenzung im Zugehörigkeitsmanagement.

Anmerkungen

1) Grundsatzprogramm der AfD, Abschnitt 7.2 Deutsche Leitkultur statt Multikulturalismus: 32.

2) Ulrich K. Preuss 2010: "Kein Ort, nirgends. Die vergebliche Suche nach der deutschen Leitkultur - eine Replik auf Josef Isensee", in: Blätter f. dt. u. internat. Politik 6/10: 67-79; hier: 7.

3) Grundsatzprogramm der AfD: 32.

4) Völlig vergessen ist heute, dass das Gleichheitsversprechen der Französischen Revolution für das weibliche Geschlecht bis ins letzte Jahrhundert hinein nicht oder nur sehr eingeschränkt galt.

5) Sinus Soziovision 2007: 20-jährige Frauen und Männer heute. Lebensentwürfe, Rollenbilder, Einstellungen zur Gleichstellung. Eine qualitative Untersuchung für das BM für Familie, Senioren, Frauen u. Jugendliche, Heidelberg: 37f.

6) Grundsatzprogramm der AfD: 33.

7) Als ein Indiz kann die Erfahrung von Immigrant*innen gelten, die oft davon berichten, dass sie sich beim Besuch in der "Heimat" oder nach der Rückkehr in die Herkunftsgesellschaft dort fremd fühlen.

8) Vgl. Ulrich K. Preuss 2010 (siehe Fn. 2): 10.

9) Nicht ganz unproblematische Studien dieser Art haben der Austromarxist Otto Bauer und der Soziologe Norbert Elias aus unterschiedlichem Erkenntnisinteresse heraus vorgelegt. Auch die Reflexion der deutschen Geschichte unter dem Titel Geschichte und Eigensinn von Oskar Negt / Alexander Kluge lässt sich als Beitrag dazu lesen.

10) Thomas Ziehe 1996: "Von der Veränderung kultureller Selbstverständlichkeiten. Jugendsituation und pädagogische Schulreform", in: Blickpunkt Schulleitung 1/1996.

11) Richard Senett 2000: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin.

12) 2013 verkaufte der bayerische Finanzminister Söder den Bestand der Wohnungsbaugesellschaft GBW mit 30.000 Wohnungen an die Patrizia Immobilien AG.

13) Grundsatzprogramm der AfD, Abschnitt 9.4: 47.

14) Entwurf des BayIntG, Abschn. B.

15) 74. Plenum des Bayer. Landtags.

16) Die Sozialministerin hatte wohl in der Debatte vergessen, dass auch das von ihr zu vertretende Gesetz bestimmt: "Alle Kinder in Kindertageseinrichtungen sollen zentrale Elemente der christlich-abendländischen Kultur erfahren" (Art.6).

17) Der Zweite Münchner Bürgermeister Josef Schmid (CSU) hat in einem öffentlichen Streitgespräch mit mir diese Zielsetzung positiv interpretiert. Indem der Bevölkerung so Ängste genommen würden, werde einer Radikalisierung vorgebeugt.

Georg Auernheimer war von 1972 bis 2005 Professor für Erziehungswissenschaft (Schwerpunkt Interkulturelle Pädagogik) an den Universitäten Marburg und Köln, seit 2005 Lehraufträge an der Universität Salzburg. Er ist publizistisch tätig im Themenfeld Globalisierung.

Zum Seitenanfang | Druckversion | Versenden | Textversion