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Klaus Holzkamp

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Forum Wissenschaft

Mehr Kollegialität und Kooperation in der Schule

21.03.2021: Ein Plädoyer

  
 

Forum Wissenschaft 1/2021; Foto: Alberto Giuliani, CC BY-SA 4.0

Nicht nur durch die Folgen der Coronakrise zeigt sich der wachsende Reformbedarf des Schulwesens. Ansätze zu einer Demokratisierung im Schulbereich gab es in den vergangenen Jahrzehnten häufig - eine konsequente Umsetzung blieb aus vielerlei Gründen aus. Doch - so führt Jos Schnurer im Folgenden aus - die Schule braucht einen Paradigmenwechsel für veränderte Leitungsstrukturen, die von Kooperation und demokratischer Mitbestimmung geprägt sind.

Als in den 1960er Jahren auch die Fragen nach der Neubesinnung und Neubestimmung des öffentlich-rechtlichen Schulwesens dringlicher und fordernder gestellt wurden, fokussierten sich die gesellschaftswissenschaftlichen Forschungen auf die Herausforderungen, die sich durch die Veränderungs- und Wandlungsprozesse in lokalen und globalen Zusammenhängen ergaben. Es waren die Forderungen nach dem Paradigmen- und Perspektivenwechsel, wie sie bereits in der "globalen Ethik", der von den Vereinten Nationen 1948 proklamierten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zum Ausdruck kamen: "Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt". Daraus entwickelten sich die Ansprüche, in den menschlichen Gemeinschaften für eine gleichwertige "Bildung für Alle" und für "Gleichberechtigung" zu sorgen: "Es entspricht dem Geiste unserer Zeit, auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens durch Erweiterung der Selbstverwaltung bisher gebundene Kräfte zu befreien, das Interesse an der gemeinsamen Arbeit zu erhöhen, das Gefühl der Mitverantwortlichkeit und den Gemeinsinn zu wecken, und die Erfahrungen des Einzelnen der Gesamtheit mehr als bisher nutzbar zu machen". Diese Forderung stammt nicht aus dem heutigen Diskurs über die vielfältigen politischen, ökonomischen und ökologischen Zusammenhänge1; sie ist mehr als einhundert Jahre alt. Sie steht in der schulamtlichen Verordnung "Die kollegiale Schulleitung" von 1919.2 Sie beruht auf den Grundlagen, wie sie in der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 zum Ausdruck kamen, dass nämlich "die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre frei sind" (Art. 142), dass für die Bildung der Jugend öffentliche Anstalten zu sorgen hätten (143), dass das gesamte Schulwesen unter der Aufsicht des Staates stünde (144), dass allgemeine Schulpflicht bestehe (145), dass sich das öffentliche Schulwesen organisch ausgestalten solle und für den Besuch einer Schule die Anlagen und Neigungen der Kinder und nicht die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung oder das Religionsbekenntnis maßgeblich seien (146).3 Zahlreiche demokratische Grundsätze aus der so genannten "Weimarer Verfassung" wurden in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 und in die Schulgesetze der Bundesländer übernommen; z.B., dass in allen Schulen "sittliche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung, persönliche und berufliche Tüchtigkeit im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung" gelehrt und vermittelt werden solle (148); wie auch, dass die in der Schule tätigen Lehrerinnen und Lehrer in der Lehrerkonferenz über die organisatorischen und didaktischen Grundsätze des Lehrens und Lernens mitentscheiden sollten. Dass auch Schülerinnen, Schülern und Eltern eigenständige, selbständige Vertretungen in der Schule zugestanden werden, ist ein Mitbestimmungsstatut, das sich erst in den weiteren Jahren der demokratischen Ordnung entwickelt hat.

Kollegiale Schulleitung

Die Schulreformbewegung der End-1960er-Jahre in der Bundesrepublik, die zur (vorsichtigen und vorläufigen) Einrichtung von Integrierten Gesamtschulen (IGS) führte und z.B. in Niedersachsen mit dem Status "Pilot-Schulen" ausgestattet wurden, hat sich ja zum Ziel gesetzt, die eine, gemeinsame Schule für alle Kinder einzurichten und damit das dreigliedrige Schulsystem überflüssig zu machen und abzulösen. In dieser "Front"-Stellung haben die Gesamtschulbefürworter und -arbeiter ihre Messlatten und Meißel an das traditionelle Schul-"Gebirge" angelegt und Reformen entwickelt und erprobt, wie z<$[Spazio +15>.<$]Spazio +15>B.: Änderungen des (Schul-)Leistungsgedankens durch die Ablösung des Notensystems durch Lernentwicklungsberichte; der didaktisch-methodischen, fächerbezogenen Unterrichtsstrukturen durch die Curriculum-Revision, die Zusammenfassung als fächerübergreifendes Lernen, etwa in den künstlerisch-musisch-kreativen, sozial- und naturwissenschaftlichen Fächern und bei der ethischen und interreligiösen Bildung. Institutionell und organisatorisch stand die Einführung der Kollegialen Schulleitung ganz oben. Die anfangs positiv, integrativ und motivativ wirkenden Erfahrungen mit diesem neuen Organisations- und Führungssystem, das verbunden war mit einer zeitlich befristeten, vierjährigen Wahl der Schulleitungsfunktionen, wurde wegen (angeblicher) "beamtenrechtlicher" Gesetzgebung jedoch bald revidiert, z.B. auf neun Jahre verlängert und in einigen Schulgesetzen auch weitgehend durch die Stärkung der Position des/r alleinigen Schulleiters/in wirkungslos gemacht. Damit wurde die Chance vertan, auch in der Schule das Selbst- und Mitbestimmungsrecht einzuführen.

Schulen in Bewegung

Als 2006 die Robert-Bosch-Stiftung und die Heidehof-Stiftung, in Zusammenarbeit mit der Zeitschrift stern und der ARD , den Deutschen Schulpreis ausschrieben, da reagierten die Initiatoren auch auf die Ergebnisse der verschiedenen internationalen Vergleichsuntersuchungen, vor allem die des "Programme for International Student Assessment" (PISA), in denen deutschen Schulen und Schülerinnen und Schülern insgesamt erhebliche Defizite bei Lernleistung, den Kompetenzen zur gesellschaftlichen Teilhabe, dem Zusammenhang mit der ethnischen und gesellschaftlichen Herkunft und der Unterrichtsqualität und Schulentwicklung bescheinigt wurden. Dem im öffentlichen Diskurs daraufhin angehefteten Etikett: "Alle Schulen in Deutschland sind schlecht", wollten die Initiatoren des Deutschen Schulpreises ein Contra entgegensetzen: "Es geht auch anders". Die Stifter des Preises wollen "herausragende Schulen mit richtungsweisenden pädagogischen Leistungen herausheben, damit ihre beispielhaften Innovationen anderen Schulen zugutekommen können". Mit dem schönen Slogan "Dem Lernen Flügel verleihen!", werden Schulen eingeladen, sich beim jährlich einmal ausgeschriebenen Deutschen Schulpreis zu bewerben. Es werden jeweils ein Hauptpreisträger (mit einem Preisgeld von 100.000 Euro) und fünf weitere Schulen (mit jeweils 25.000 Euro) ausgezeichnet. Eine Jury aus 14 ErziehungswissenschaftlerInnen, PädagogInnen und gesellschaftlichen ExpertInnen, ergänzt durch ein Gremium von Fachleuten, wählen eine Anzahl von Bewerbern aus, besuchen die jeweiligen Schulen und nominieren schließlich 15 Schulen, aus denen dann der Hauptpreisträger und die fünf weiteren Preisträger bestimmt werden. Die ausgezeichneten Schulen arbeiten weiterhin in einem Netzwerk zusammen, der "Akademie des Deutschen Schulpreises", tauschen ihre Erfahrungen aus, diskutieren ihre geplanten Innovationen, bilden Hospitationszirkel und Gesprächskreise und öffnen sich vor allem für interessierte Schulen. Mehr als 1.000 Schulen haben sich bisher um den Deutschen Schulpreis beworben. Die Kriterien für die Auswahl von Schulen werden in sechs Inhaltsbereichen benannt: Leistung - Umgang mit Vielfalt - Unterrichtsqualität - Verantwortung - Schulklima, Schulleben und außerschulische Partner - Schule als lernende Institution. Interessant ist dabei, dass bei den bisher ausgezeichneten Bildungseinrichtungen die im Vergleich mit den traditionellen dreigliedrigen Schulen zahlenmäßig geringeren Gesamtschulen an der Spitze liegen.4

Sozioprudenz

In einer humanen, friedlichen, gerechten, demokratischen Gemeinschaft kommt es darauf an, sozial klug zu handeln. Die Kompetenz gründet auf dem kantischen Rat: "Sapere aude - Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen", und auf dem Kategorischen Imperativ, der sich im Sprichwort so ausdrückt: "Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg‘ auch keinen andern zu!". Es kommt darauf an, das soziale Feld, in dem man sich individuell und kollektiv befindet, scharfsinnig zu beobachten und kommunikativ zu erschließen. Mit dem Begriff "Sozioprudenz" wird im soziologischen, sozialwissenschaftlichen Diskurs die Fähigkeit zum sozialen klugen Handeln bezeichnet. Wir sind bei der vornehmsten bildungspolitischen Aufgabe und Herausforderung, uns und den Mitmenschen zu ermöglichen, "soziale Wirklichkeiten kommunizierend und handelnd [zu] erschließen". Der Kultursoziologe von der Universität Bonn, Clemens Albrecht, zeigt auf, wie sozial kluges Denken und Handeln wirksam werden kann, nämlich als Erkenntnis, dass soziale Klugheit mehr ist als rationales Denken: "Sie schließt die Überlegung ein, wann es klug ist, auf Rationalität zu verzichten" - oder sie zu relativieren. Diese Einsicht lässt sich auch bei Fragen nach Autoritäten, Leitungs- und Führungsqualitäten einsetzen.5

Autorität - eine Pädagogik des Vertrauens

Im pädagogischen Diskurs haben die aus der römischen Staatslehre stammenden Begriffe "auctoritas" und "potestas", übersetzt als "Autorität" und "Macht" immer schon eine herausragende und für die Theorie und Praxis von Bildung und Erziehung prägende Bedeutung. Sie stellt sich dar in der Entwicklung und Darstellung von Erziehungsstilen und -maßnahmen, in Begründungen und Rechtfertigungen von Macht und Einfluss. Mit dem vom israelischen Psychologen Haim Omer entwickelten Konzept einer "neuen Autorität" stehen nicht mehr die Einstellungen und Wertvorstellungen im Vordergrund - Distanz, Kontrolle, Strafe - sondern Selbstkontrolle, Transparenz, Beharrlichkeit und Standhaftigkeit. In der "Systemischen Pädagogik" erhalten diese Maßstäbe einen ganzheitlichen Charakter. Damit ergibt sich auch ein Perspektivenwechsel bei den schulischen Ordnungs- und Führungsfragen. Mit der Aufforderung "In Führung gehen!" werden die für ein systemisches Bewusstsein wichtigen Autoritätsaspekte diskutiert, die sich als empathische, dialogische, internale, interpersonale, moralische, deeskalierende, unterstützende und pragmatische Präsenz darstellen und wirksam werden. Wo Konzepte, Haltungen und Einstellungen erfolgreich im Sinne eines humanen, gerechten und gleichberechtigten Erziehungsverhaltens sind, braucht es deren reflektierte, erfahrungsbedingte Weiterentwicklung und Vervollständigung. Die neuen Autoritätskonzepte werden dabei als prozess- und embodiment-fokussierte psychologische Theorien und Praxen verstanden, die sich ausdrücken in den Zielvorstellungen und Interventionen: "Verantwortung übernehmen!" - "Blockaden aufbrechen!" - "Hoffnung vermitteln!".6

Fazit

Wenn die Schule als Anstalt und gesellschaftliche Autorität ihre Aufgaben erfüllen will, braucht es die Fähigkeit und Bereitschaft zum Umdenken. Der Paradigmenwechsel ist auch angesagt und fällig, wie sich die Macht- und Führungsstrukturen verändern, weg vom autoritären, distanzierten und obrigkeitsbestimmten Denken und Handeln, hin zu einem zeitgemäßen demokratischen, kooperativen und mitbestimmten Bewusstsein.7

Anmerkungen

1) Wolf Lotter 2020: Zusammenhänge. Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen, Hamburg, www.socialnet.de/rezensionen/27036 .php; Jeremy Rifkin 2019: Der globale Green Deal. Warum die fossil befeuerte Zivilisation um 2028 kollabiert - und ein kühner ökonomischer Plan das Leben auf der Erde retten kann, Frankfurt/Main, New York www.socialnet.de/rezensionen/26178.php; Manfred Folkers / Niko Paech 2020: <I%-2>All you need is less, München2020, www.socialnet.de/...php.

2) M.-E. vom 20. September 1919, U III B 2271.

3) Oskar Löber ,(Hg.) 1927: Schulrecht für das den Preußischen Regierungen unterstellte Schulwesen, Wiesbaden, 1112 S. (Teil I) und 98 S. (Teil II: Verfügungen der Regierung in Hildesheim).

4) Manfred Prenzel, u.a. (Hg.) 2011: Was für Schulen! Schule der Zukunft in gesellschaftlicher Verantwortung, Bern, Stuttgart, Wien, www.socialnet.de/rezensionen/12587.php.

5) Clemens Albrecht 2020: Sozioprudenz. Sozial klug handeln, Frankfurt/Main, New York, www.socialnet.de/rezensionen/27512.php.

6) Martin Lemme / Bruno Kröner 2018: Neue Autoritäten und Haltung und Handlung. Ein Leitfaden für Pädagogik und Beratung, Heidelberg, www.socialnet.de/rezensionen/238 91.php.

7) Werner Nienhüser u.a. 2018: Was Menschen über Mitbestimmung denken, Baden-Baden, www.socialnet.de/rezensionen/252 53.php.

8) Siehe dazu auch: "Sisyphos werden", in: Pädagogische Rundschau 4/2018: 536ff; sowie: Mensch Lehrer!, 6/2019: 653ff.

Dr. Jos Schnurer (*1934), ehemaliger Lehrer, Lehrerfortbildner und Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim. Der Hinweis darauf, welche Motive, Anlässe und Erwartungshaltungen hinter diesem "Zwischenruf" stecken könnten, die einer intensiveren, erziehungswissenschaftlichen Beachtung bedürften, sei mit der folgenden Erläuterung gestattet: Der Autor übte in den 1970er Jahren die vierjährige Zeitfunktion als Didaktischer Leiter der Robert-Bosch-Gesamtschule (RBG) aus. Er war dadurch Mitglied der Kollegialen Schulleitung.8

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