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Klaus Holzkamp

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"Wär' ich nicht arm, wärst Du nicht reich"

04.07.2016: Reichtum. Macht. Armut.

  
 

Forum Wissenschaft 2/2016; Foto: Enrique Ramos /shutterstock.com

Die Entwicklung von Reichtum und Armut steht in einem engen Wechselverhältnis. Diese Erkenntnis hat eine lange Geschichte und ist - in Zeiten neoliberaler Gesellschaftskonzepte - besonders aktuell. Davon ausgehend heißt die Konsequenz: wer Armut bekämpfen will, muss Reichtum bekämpfen. Andreas Schüßler zeichnet die historischen Verläufe nach und fordert drastische Veränderungen.

Das über 60 Jahre alte Gedicht von Bertolt Brecht (gesamter Text siehe Anmerkungen)1 hat sich immer noch nicht wirklich herumgesprochen. Denn Brechts schlüssige Verbindung zwischen den Begriffen "die" Armut und "der" Reichtum fehlt zu oft. Die bekannte Schere zwischen Reich und Arm wird jedoch häufig angesprochen und auch, dass sie sich ständig weiter öffnet. Immer wieder gibt es dazu aktuelle, alarmierende Zahlen.

Die Organisation Oxfam veröffentlichte Anfang 2016, dass das reichste Prozent der Weltbevölkerung über mehr Vermögen verfügt als der Rest der Welt zusammen. 85 Einzelpersonen haben genauso viel Vermögen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung (3,5 Milliarden Menschen).2

Der Zusammenhang zwischen Reichtum und Armut ist nicht neu; schon in der Bibel werden auch die Verursacher der Armut benannt. So wird der Prophet Micha in Kapitel 3 "Gegen die führenden Männer in Juda" zitiert mit "Ihr hasset das Gute und liebet das Arge; ihr schindet ihnen die Haut ab und das Fleisch von ihren Gebeinen und fresset das Fleisch meines Volkes; und wenn ihr ihnen die Haut abgezogen habt, zerbrecht ihr ihnen auch die Gebeine und zerlegt's wie in einen Topf und wie Fleisch in einen Kessel."

Die vielfältige massive Kritik an den Reichen im Alten Testament greift Jesus auf, u.a. mit seinem "Weh euch, ihr Reichen!" und mit "Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.". Einige Zeit später schreibt Kirchenvater Hieronymus: "Der Reiche ist entweder selbst ein Gauner oder der Erbe eines Gauners." und an anderer Stelle "Aller Reichtum kommt von der Ungerechtigkeit".3

"Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen."4

Die aktuell letzten Jahrhunderte unserer Menschheits-Geschichte sind durch die bestialische Kolonialgeschichte, die Geschichte des Sklav*innenhandels geprägt. Diese Geschichte ist noch lange nicht wirklich erzählt und erforscht worden, die Auswirkungen wirken massiv bis heute.

Der im April 2015 verstorbene Eduardo Galeano hat vor 30 Jahren einleitend zu seinem fundamental wichtigen Buch Die offenen Adern Lateinamerikas geschrieben:

"Die internationale Arbeitsteilung besteht darin, dass einige Länder sich im Gewinnen und andere im Verlieren spezialisieren. Unsere Region der Welt, die, die wir heute Lateinamerika nennen, war früh entwickelt: Schon seit den fernen Zeiten, in denen die Europäer der Renaissance über das Meer vordrangen und ihr die Zähne in die Gurgel schlugen, spezialisierte sie sich im Verlieren. [...] Lateinamerika ist die Region der offenen Adern. Von der Entdeckung bis in unsere Tage hat sich alles zuerst in europäisches, nachher in nordamerikanisches Kapital verwandelt, und als solches hat es sich in fernen Machtzentren angehäuft und häuft sich weiter an. Alles: die Schätze der Natur und die Fähigkeiten der Bevölkerung, die Produktionsmethoden und die Klassenstruktur jedes Ortes sind von auswärts durch seine Eingliederung in das weltumfassende Getriebe des Kapitalismus bestimmt worden. [...] Unsere Niederlage war seit jeher ein untrennbarer Bestandteil des fremden Sieges; unser Reichtum hat immer unsere Armut hervorgebracht und dazu gedient, den Wohlstand anderer zu nähren: den der Imperien und ihrer einheimischen Aufseher."

Ein wichtiger Grund für Gewalt- und Machtverhältnisse zwischen Menschen war schon immer Bereicherung. Für die Kolonialzeit beschreibt dies auch Karl Marx, wenn er die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals betrachtet:

"Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingebornen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute, bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära. Diese idyllischen Prozesse sind Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation. Auf dem Fuß folgt der Handelskrieg der europäischen Nationen, mit dem Erdrund als Schauplatz. [...] In England werden (die verschiednen Momente der ursprünglichen Akkumulation) Ende des 17. Jahrhunderts systematisch zusammengefaßt im Kolonialsystem, Staatsschuldensystem, modernen Steuersystem und Protektionssystem. Diese Methoden beruhn zum Teil auf brutalster Gewalt, z.B. das Kolonialsystem. Alle aber benutzten die Staatsmacht, die konzentrierte und organisierte Gewalt der Gesellschaft, um den Verwandlungsprozeß der feudalen in die kapitalistische Produktionsweise treibhausmäßig zu fördern und die Übergänge abzukürzen. Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht.5"

"Der Sklavenhandel war das größte Verbrechen der Weltgeschichte." so Jean-Michel Deveau und ohne die unbezahlte Arbeitskraft der Sklaven wäre die von England ausgegangene industrielle Revolution nicht möglich gewesen, meint Eric Williams. Nur mit dem aus dem Sklavenhandel akkumulierten Kapital habe sich der Westen zur "ersten Welt" mausern können. "No Spaceship without slaveship" - "Keine Mondlandung ohne Sklaverei".6

Deutsche Kolonialherrschaft sei bloß eine Episode, denken und sagen immer noch viele. So erklärte selbst Christian Ströbele im April 2001, "dass Deutschland das Glück hatte, sehr früh aus der Kolonialisierung gewaltsam heraus getrieben worden zu sein". So könne es "eine Rolle übernehmen, die unbelastet ist und die deshalb eine Vorreiterrolle sein kann". Diese Ignoranz ist Resultat mangelhafter Auseinandersetzung mit der deutschen kolonialen Vergangenheit und schreibt diese zugleich weiter fort. Das "Dritte Reich" - zwölf Jahre - zeigt: Dauer von Verbrechen sagt überhaupt nichts über ihre Intensität. Andere Legenden, so z.B. die vom beliebten, gar guten Kolonial-Deutschen gibt es noch immer zu viele.

Kolonialismus ist nicht vorbei. Neo-Kolonialismus bestimmt heutige Politik.

Neoliberalismus und verschärfte Ungleichheit

"Massenmörder Welthandel" hieß es 1969 auf einem Wahlkampf-Klebezettel.

Chile war nach dem brutalen Militärputsch vom 11. September 19737 das weltweit erste Experimentierfeld des sog. "Neoliberalismus": Die Militärdiktatur (vereint mit der CIA) zerschlug solidarische gesellschaftliche Strukturen und ersetzte diese durch die Gesetze des Marktes - die nachfolgenden zivilen Regierungen führten diese Politik fort. Viele gesellschaftliche Bereiche wie Gesundheit und Bildung sowie natürliche Ressourcen wurden privatisiert und zu Waren gemacht. Das Resultat war eine deutliche Verstärkung der sozialen und ökonomischen Ungleichheiten, die bis heute fortbestehen. Ebenso wurden weltweit in den letzten Jahrzehnten, fast überall mit Hilfe von Gewalt und Repression, Strukturen des Neoliberalismus durchgesetzt.

Zu Neoliberalismus und imperialen Strukturen der internationalen Beziehungen gibt es im Internet eine Fülle von Artikeln.8

Armut und Reichtum in Deutschland

Die Bundesrepublik Deutschland verpflichtete sich 1995 auf dem Weltsozialgipfel zur Erstellung eines Berichts über die Verteilung von Armut und Reichtum in Deutschland. 1999 wird die Regierung unter Schröder aufgefordert, einen solchen Bericht vorzulegen. Seit 2001 sind diese Auskünfte zu "Lebenslagen in Deutschland" (so der Titel) viermal erschienen. Viermal war danach die Kritik massiv: zu mangelhaft seien die Definitionen, umstritten die Datenauswahl, Minister hätten Schönfärberei betrieben und, vor allem, verlässliche Angaben zum Reichtum enthalte keiner der Berichte.

Kann er auch nicht. Denn das Statistische Bundesamt in Wiesbaden, das selbstverständlich jedes Fitzel zu Hartz4 veröffentlichen kann, hat keine verlässlichen Zahlen zum Reichtum.9 Der Bericht zu "Lebenslagen in Deutschland" wird deshalb auch häufig nur als "Armutsbericht" bezeichnet.

Reichtum ist jedoch im Übermaß vorhanden. "In keinem Euro-Land ist der Reichtum so ungerecht verteilt wie hierzulande", sagt Markus Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW).10 Die größten Vermögen in Deutschland werden in Branchen erwirtschaftet, in denen sich die Kosten auf die Bevölkerung ärmerer Länder abwälzen lassen - über Hungerlöhne, Preisdiktate und miserable Arbeitsbedingungen bei Subunternehmer*innen und Leiharbeitsfirmen. Daraufhin sollten mann/ frau sich die Liste der fünf Reichsten in Deutschland ansehen: Karl Albrecht (Aldi), Dieter Schwarz (Lidl), Theo Albrecht & Familie (Aldi), Michael Otto & Familie (Otto), Susanne Klatten (BMW).

Der ungeheure Reichtum ist jedoch Tabuthema; kritische Äußerungen werden schnell mit dem Schlagwort "Neid-Debatte" plattgemacht. "Neid" hat jedoch einen sozialen Faktor; er macht auf Schieflagen aufmerksam. Dass Gelder für den staatlichen Wohnungsbau, für öffentliche Verkehrsmittel, für Kindergärten, Schulen und Jugendfreizeiteinrichtungen fehlen. Dass viel Reichtum, der zudem kaum oder gar nicht besteuert wird, in wenigen Händen ist.

Schließlich: die Begriffe Reichtum und Armut sind eng mit dem Begriff Macht verbunden. Ohnmacht ist heimlicher Vierter in diesem Begriffe-Dreieck, Ohnmacht ist für die 99,9% bestimmt. Reichtum - vor allem extremer Reichtum - bedeutet auch politische Macht. "Die Herrschaft der Reichen nennt man Plutokratie. Plutokratie ist die ›Privatisierung der Politik‹, ist ›Politik als Privatangelegenheit‹ einer kleinen Gruppe von Superreichen und ihrer Netzwerke"11, schreibt Hans Jürgen Krysmanski in seinem wichtigen Buch Hirten & Wölfe. Es ist eine der wenigen kritischen Beobachtungen der Machenschaften der "Reichen und Mächtigen" dieser Welt im deutschsprachigen Raum. Die Parallel-Gesellschaft Reichtum (mit ihren Abschottungen, Verschleierungsstrategien, massiven Einflussnahmen ...) schildert er zudem sehr drastisch in 0,1% - Das Imperium der Milliardäre12. Hier befasst er sich mit einer zahlenmäßig kleinen Gruppe von Menschen, den wenigen "Superreichen", die letztlich über eine unübersehbar große Zahl von Menschen und deren Schicksal entscheiden. Dabei geht es um massivste Geldoperationen bis hin zu allen Formen des Verbrechens durch die Superkapitalist*innen und es geht um ihre Distanz zu den übrigen 99,9 Prozent.

Soweit einige wenige Aspekte zur Geschichte der "Akkumulation des Reichtums". Die "da oben" leben von denen "da unten". Reiche werden reicher, Arme werden zahlreicher.

Wissenschaftler*innen sollen jedoch nicht nur Wissen schaffen, sie sollten das Wissen auch mit anderen zusammen umsetzen können.

Reichtum ist kein Schicksal - Reichtum wird gemacht!

Es gibt unzählige Programme zur Bekämpfung der Armut.

Programme waren z.B. "Hunger ist kein Schicksal, Hunger wird gemacht" - Brot für die Welt in den 80ern des letzten Jahrhunderts. Die Millenniums-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen für das Jahr 2015. Die derzeitigen "Ziele nachhaltiger Entwicklung" (politische Zielsetzungen der Vereinten Nationen) fordern, Armut in jeder Form und überall zu beenden.13

All diese Programme sind im Wesentlichen bis zum heutigen Tag immer wieder gescheitert. Dies führt zu der Fragestellung:

Warum gibt es eigentlich noch immer noch kein einziges "Programm zur Bekämpfung des Reichtums"?

Völlig veraltete Klassenkampftheorie

Was den Armen zu wünschen wäre
für eine bessere Zukunft?
Nur dass sie alle
im Kampf gegen die Reichen
so unbeirrbar sein sollen
so findig
und so beständig
wie es die Reichen
im Kampf gegen die Armen sind

(Erich Fried, 1921-1988)14

"Die Vernunft kann sich mit größerer Wucht dem Bösen entgegenstellen, wenn der Zorn ihr dienstbar zur Hand geht", sagte einst Papst Gregor der Große.15

Zornig ist in jedem Fall Jean Ziegler, so in seiner "ungehaltenen Salzburger Rede": "Ein Kind, das heute verhungert, wird ermordet."16 Die Mörder sind: "Die kannibalische Weltordnung, hervorgebracht vom Raubtierkapitalismus. Der Terror der Profitmaximierung. Die Weltlandwirtschaft könnte zwölf Milliarden Menschen normal ernähren, das Doppelte der Weltbevölkerung. Wir tun es aber nicht. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind. Das Geld ist nicht da. Denn es wird gebraucht, um die Banken zu retten."17

"Zehntausende Menschen würden jedes Jahr am Leben bleiben ohne Offshore-Staaten. Nur wenn die Leute sich das bewusst machen, kann Zorn entstehen und diesen Zorn braucht es, damit diese Staaten gezwungen werden, dem Druck der Finanzhaie zu widerstehen. Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie."18

Aus der Fülle an notwendigen Forschungs- und Handlungsfeldern beschränke ich mich auf folgende:

Da ist beispielsweise die historische Pflicht, endlich all die Reparationsfragen wegen begangener Verbrechen - in Kriegen und im "Handelsalltag" - zu klären. Wir wissen, dass ein wichtiges Motiv für die Verbrechen im Faschismus die Bereicherung an den Gütern der Vertriebenen, Verschleppten und Ermordeten war. Neben dem Staat waren auch die jeweiligen Nachbar*innen Nutznießer*innen des Geraubten. Neben den Verpflichtungen aus dem Faschismus wartet auch noch weniger Bekanntes auf eine angemessene deutsche Reaktion.

Die Geschichte des deutschen und des europäischen Kolonialismus wird kaum thematisiert. Anfangs noch glorifiziert, dann verdrängt und ignoriert, gilt die deutsche Kolonialgeschichte bis heute als harmlos, nicht relevant und abgeschlossen. 100 Jahre nach dem deutschen Vernichtungskrieg gegen die Herero und Nama im heutigen Namibia - der erste Genozid im vergangenen Jahrhundert - verabschiedete der Bundestag am 17. Juni 2004 einen Beschluss "zum Gedenken", der vor allem versucht, Konsequenzen aus der Geschichte zu vermeiden. Keine Entschuldigung, keine Wiedergutmachung, und auch das Wort "Völkermord" kommt nicht vor. Es ist lediglich von einem "Feldzug" und der "blutigen Niederschlagung der Aufstände" die Rede. Formulierungen wurden sehr vage gehalten, um keine Schadensersatzansprüche zu ermöglichen. Heidemarie Wieczorek-Zeul hat sich - persönlich - (nach 100 Jahren erstmals als Mitglied einer deutschen Regierung) für die Gräuel entschuldigt. Eine wirklich offizielle, deutsche Entschuldigung ist jedoch immer noch überfällig. Eine wünschenswerte Idee dazu ist ein feierlicher Friedensschluss im deutschen Bundestag - verbunden mit anständigen Angeboten für Reparationszahlungen.

"Der Krieg in Namibia war ein genozidaler Vernichtungskrieg und hat durchaus Parallelen zum Holocaust. [...] Die Hereros und Namas wurden damals enteignet, und haben alles verloren. Das ist immer noch eine offene Wunde." (J. Zeller)19

Über 100 Jahre gesellschaftliches, deutsches Schweigen sind genug! Völkermord verjährt nicht, weder rechtlich noch moralisch.

Selbstverständlich sind viele andere Völker ebenso in der Pflicht, Geraubtes zurückzugeben, Reparationen zu zahlen.

1999 wurde erstmals20 eine konkrete Summe für den wiedergutzumachenden Schaden für 400 Jahre Sklaverei und Kolonialismus benannt. Gefordert wurden 777 Billionen Dollar, das waren damals zirka 1,4 Trillionen Deutsche Mark, in etwa das 3.500-fache der damaligen Schulden "Schwarzafrikas". Diese Berechnung taugt auf jeden Fall als Beleg für die Ungeheuerlichkeit des Verbrechens, um das es geht.

Wir müssen endlich sehen, dass ein Großteil des heutigen Reichtums im "Norden" auf offensichtlichen Verbrechen gegen die Menschheit beruht; damit ist auch klar, dass das "wieder gut" zu machen ist.

2002 wurden - im Namen von 35 Millionen Afro-Amerikaner*innen - in New York drei große US-Firmen wegen Bereicherung durch Sklaverei verklagt; den Firmen wurde vorgeworfen, von einem ausbeuterischen System profitiert zu haben. In der Klageschrift wurde geschätzt, dass durch Sklaven zwischen 1790 und 1860 unbezahlte Arbeit für bis zu 40 Milliarden Dollar geleistet worden sei. Nach damaligem Wert wären dies rund 1,4 Billionen Dollar (1,6 Billionen Euro).21

Reichtum - nicht nur in Deutschland - umverteilen!

Laut Piketty22 ändern beliebte Rezepte wie höhere Bildungsinvestitionen oder der Verzicht auf Wirtschaftswachstum wenig. Effektiv seien nur radikale Maßnahmen: Erstens eine Vermögensteuer, die bei einem Vermögen von 200.000 Euro mit einem Prozent jährlich beginnt, bei mehr als einer Million Euro auf zwei Prozent steigt und bei Milliardenvermögen auch bis zu zehn Prozent betragen kann. Zweitens eine Einkommensteuer von bis zu 80 Prozent für Spitzenverdiener*innen (in den ersten drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg lag der höchste Steuersatz in den USA nie unter 70 Prozent. In der BRD lag er bis 1989 überwiegend bei 56; z.Zt. liegt er bei 42 / 45 Prozent.)23

"Durchschnittlich lag das Wirtschaftswachstum - Pikettys Daten zufolge - nämlich in den vergangenen 300 Jahren inflationsbereinigt bei einem bis eineinhalb Prozent jährlich. Vermögen stiegen dagegen um vier bis fünf Prozent vor Steuern. Wer schon wohlhabend ist, kann sein Vermögen offenbar breit anlegen und so überdurchschnittlich steigern. Weil Vermögen zudem meist an die eigenen Kinder vererbt werden, pflanzt sich die Ungleichheit über Generationen fort.24

1995 wurde von der Kohl-Regierung die Vermögensteuer für Reiche abgeschafft. Keine Nachfolgeregierung sah sich in der Pflicht, sie wieder einzuführen. Mitte der 90er Jahre (1997) lag die steuerliche Belastung der Arbeiterlöhne bei knapp 20%, die der Unternehmer und Vermögenden bei nur 8%. Wären die Reichen 1997 genauso besteuert worden wie alle anderen, hätte der Staat damals jährlich 80-90 Mrd. DM zusätzliche Steuereinnahmen gehabt.

Das Netzwerk Steuergerechtigkeit25 tritt realpolitisch für eine am Gemeinwohl orientierte Finanzpolitik ein und will Umverteilung durch Steuergerechtigkeit. Zu seinen Kernforderungen gehören u.a. die Schaffung eines solidarischen Steuersystems in Deutschland, die wirksame Bekämpfung von Steuerflucht und Steuerhinterziehung, faktische Beseitigung von Steueroasen und Schattenfinanzplätzen, die Unterstützung der Länder des globalen Südens bei der Bekämpfung der Steuerflucht und Verhinderung von Gewinnverschiebungen ins Ausland.

Weitere realpolitische Forderungen sind die Einführung einer Finanztransaktionssteuer (attac), die Aufforderung von Oxfam an die Bundesregierung, die Überwindung sozialer Ungleichheit weltweit als eigenständiges Ziel in der Post-2015-Entwicklungsagenda zu verankern. Es gibt weit radikalere Forderungen und Gedanken, beispielhaft: Gleiches Gehalt für alle weltweit.26

Zum guten Schluss: Wir brauchen Widerstand

Es ist dringend an der Zeit für drastische Veränderungen. Wir brauchen eine andere Politik. "Andere Politik" meint kaum parlamentarische Parteipolitik. Diese vorherrschende, z.T. schein-demokratische Form der Politik ist im Wesentlichen mitverantwortlich für den jetzigen Zustand der Weltgesellschaft. Wir brauchen eine deutlich sichtbare außerparlamentarische Opposition gegen die Machenschaften der Geldelite und gegen das System des Kapitalismus. Krysmanski erinnert unter Berufung auf amerikanische Quellen (Richard Sennett) daran, dass der moderne Kapitalismus in seiner Grundtendenz antidemokratisch ist und zu einer "weichen Spielart des Faschismus" führt.

Vor diesem Hintergrund ist es schon ein Fortschritt, dass sich mit Bewegungen wie "Occupy Wall Street" und "99 Prozent" in unseren Köpfen alternative Einsichten festgeschrieben haben.

Allerdings brauchen diese 99% ein wirkliches, inhaltliches Programm. Unabhängig von o.g., eher realpolitischen, pragmatischen Lösungsvorschlägen ist die weitere Suche nach Alternativen jenseits der herrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung drängend. Während in den 1970/80er Jahren Gesellschaftsutopien populär waren und lebhaft diskutiert wurden, ist es nach dem gleichzeitigen Zusammenbruch des Staats"sozialismus" und des "demokratischen Wohlfahrts"staats eher still geworden um Utopien. Das proklamierte "Ende der Geschichte" sollte die Fragen, wie wir leben wollen und wie wir auch ganz anders leben könnten, zum Schweigen bringen.

Dennoch hat sich in den letzten 20 Jahren eine neue Utopiedebatte entwickelt, in der die Erfahrungen aus Ost und West, aus den Ländern des Nordens und denen des Südens, ihren Niederschlag finden. So ist in Lateinamerika die Debatte um einen "Sozialismus des 21.Jahrhunderts" theoretisch und praktisch wieder eröffnet worden. Feministische Utopien sind unter Schlagworten wie "Subsistenzperspektive", "Fürsorgendes Wirtschaften" oder "Vier-in-Einem-Perspektive" wieder zu einem zentralen Bestandteil der Utopie-Debatte geworden. Andere haben sich mit den Ideen einer "solidarischen Ökonomie", mit "anders leben und wirtschaften im Alltag" befasst. Wichtig ist dabei immer die Frage des "Süd-Mainstreaming": Wie sind die Bedürfnisse und die Situation von Menschen in der "Dritten Welt"27 in den unterschiedlichen Utopien berücksichtigt? Denn nur eine Utopie, die für alle Menschen gemacht ist und damit der Gesamtheit der Menschen weltweit gerecht wird, ist auch eine Eutopie.28

"Utopia" heißt ja - übersetzt - der "Ort nirgendwo". Nur eine Utopie, die für alle Menschen gemacht ist und damit der Gesamtheit der Menschen weltweit gerecht wird, ist auch eine Eutopie - ein "Ort, an dem sich's gut leben lässt".

Menschen aller Länder, vereinigt Euch!

Eine wirkliche Revolution gesellschaftlicher Verhältnisse steht an. Dazu meinte Ernesto "Che" Guevara: "Die Revolution ist kein Apfel, der vom Baum fällt, wenn er reif ist; man muss machen, dass er fällt."

Anmerkungen

1) "Reicher Mann und armer Mann / standen da und sah'n sich an. / Und der Arme sagte bleich: / Wär' ich nicht arm, wärst Du nicht reich." - Bertolt Brecht.

2) www.oxfam.de/presse/pressemitteilungen/2014-07-01-oxfam-kritisiert-ungleiche-vermoegensverteilung-deutschland; www.zeit.de/wirtschaft/2015-01/oxfam-armutsbericht-ein-prozent-der-weltbevoelkerung-reicher-als-der-rest; Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik 2016: Memorandum 2016, Köln: 13;www.oxfam.org/en/pressroom/pressreleases/2015-01-19/richest-1-will-own-more-all-rest-2016.

3) Sophronius Eusebius Hieronymus (um 347-420), katholischer streitbarer Schriftsteller, lateinischer Kirchenvater und Heiliger - www.aphorismen.de/suche?f_ autor=1747_Hieronymus&f_thema=Reichtum.

4) "Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen.", aus: Requiem für eine Nonne (1951), 1. Akt, 3. Szene; auch erster Satz des Romans Kindheitsmuster (1976) von Christa Wolf und einleitendes Zitat im Film Die Liebe zum Imperium von Peter Heller über den Kolonialverbrecher Peters.

5) www.mlwerke.de/me/me23/me23 _741.htm, MEW 23: 779.

6) www.ag-friedensforschung.de/themen/Rassismus/un-konferenz2.html.

7) Amnesty International schätzte im September 1974 die Zahl der Toten/ Ermordeten auf 5.000-30.000; siehe auch de. wikipedia.org/wiki/Putsch_in_Chile_1973.

8) Beispielsweise Erhard Crome: "Neoliberalismus und imperiale Strukturen der internationalen Beziehungen. Probleme und Perspektiven" www.ag-friedensforschung.de/themen/Weltordnung/crome.html; Joachim Hirsch: "Die Krise des neoliberalen Kapitalismus: welche Alternativen?" www.links-netz.de/K_texte/K_hirsch_alternativen.html; Joachim Bischoff & Richard Detje: "Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus" www.linksnet.de/de/artikel/27307 u. v. a. m.

9) "Zunächst ist an die Datengrundlage zu denken, nicht nur hinsichtlich der Genauigkeit der Bewertungen von Vermögen, sondern auch hinsichtlich der Erfassung bzw. Nicht-Erfassung der Reichen in Deutschland. So heißt es bei den EVS von vornherein, dass Haushalte mit monatlichen Nettoeinkommen von 18.000 Euro und mehr erst gar nicht erfasst werden". Siehe kiwifo.de/Darstellungen_der_Vermoegensverteilung.pdf: 7 und "Besonders bei den reichsten Bürgern scheint der Reichtum von Bürger zu Bürger annähernd hyperbelförmig zuzunehmen. Wenn daher von den reichsten 4.000 Bürgern - statistisch gesehen - bestenfalls ein Bürger befragt wird, kann dies gerade in diesem Bereich leicht zu völlig falschen Daten und folglich zu einer völlig falschen Darstellung der Vermögensverteilung führen.", ebd.: 8.

10) www.fairness-stiftung.de/FSBlog. aspx?AID=4-2014.

11) Dieses Buch war vergriffen. Es wird z. Zt. neu aufgelegt. Hans Jürgen Krysmanski 2004: Hirten & Wölfe. Wie Geld- und Machteliten sich die Welt aneignen, Münster. Wer verstehen will, wie "die da oben" ticken, kommt an Krysmanski nicht vorbei.

12) Hans-Jürgen Krysmanski 2012: 0,1% - Das Imperium der Milliardäre, Frankfurt/Main.

13) www.nachhaltige-entwicklungsziele.de/.

14) "Völlig veraltete Klassenkampftheorie", in: Erich Fried: Wem gehört die Zeit, Hamburg.

15) Georg Schramm zitiert dies in seinem Programm "Meister Yodas Ende - Über die Zweckentfremdung der Demenz",de.wikiquote.org/wiki/Diskussion:Gregor_I.,_der_Gro%C3%9Fe.

16) utopia.de/0/magazin/jean-ziegler-ungehaltene-salzburg-rede-hunger-welt-afrika-reiche.

17) www.sueddeutsche.de/kultur/jean-ziegler-im-gespraech-empoert-euch-1.1124101.

18) www.sueddeutsche.de/politik/panama-papers-diese-offshore-laender-gehoeren-ausgetrocknet-1.2935896.

19) Joachim Zeller, geboren 1958 in Swakopmund/Namibia, ist Historiker und Herausgeber des Bandes Völkermord in Südwestafrika.

20) derstandard.at/905917/US-Konzerne-wegen-Sklaverei-auf-Milliarden-Schadensersatz-verklagt.

21) www.ag-friedensforschung.de/themen/Rassismus/un-konferenz2.html.

22) Thomas Piketty: Das Kapital im 21. Jahrhundert - eine Anspielung auf das Standardwerk von Karl Marx.

23) de.wikipedia.org/wiki/Einkommensteuer_%28Deutschland%29

24) www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/kapitalismus-und-reichtum-pikettys-das-kapital-im-21-jahrhundert-a-965664. html.

25) Im Netzwerk Steuergerechtigkeit Deutschland sind Gewerkschaften, kirchliche und entwicklungspolitische Organisationen, soziale Bewegungen, Umwelt- und Menschenrechtsverbände, wissenschaftliche Institutionen und weitere zivilgesellschaftliche Organisationen.

26) Eine solche Diskussion erfordert einen neuen Artikel. Ich verweise jedoch vorab schon mal auf Arghiri Emmanuel 1969: L'échange inégal. Essai sur les antagonismes dans les rapport économiques internationaux, Paris.

27) Ich benutze bewusst den Begriff "Dritte Welt". Er wurde von Alfred Sauvy in seinem Artikel "Trois mondes, une planète" 1952 geprägt (frz. Tiers Monde) und sollte, in Analogie zum Dritten Stand (frz. Tiers État) vor der Französischen Revolution, jene Länder bezeichnen, welche zwar die Mehrheit der Weltbevölkerung darstellten, aber in der Weltpolitik dennoch rechtlos waren. Weltweit popularisiert wurde "le tiers-monde" vom antikolonialen Theoretiker Frantz Fanon. Er setzte in seinem Hauptwerk Die Verdammten dieser Erde die Dritte Welt mit den Kolonisierten und Unterdrückten dieser Welt gleich:www.iz3w.org/wir_ueber_uns/der-begriff-201edritte-welt201c.

28) Siehe hierzu: Looking Backward or Life in the Year 2000 (deutsch: Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887) von Edward Bellamy, veröffentlicht 1887 als sozialistische Perspektive; Michael Albert 2006: Parecon. Ein Leben nach dem Kapitalismus, Grafenau, Frankfurt/Main; Alex Callinicos 2004: Ein antikapitalistisches Manifest, Hamburg; Lateinamerika und der "Sozialismus des 21.Jahrhunderts": lateinamerika-nachrichten.de/?artikel=solidaritaet-des-21-jahrhunderts; Internet, freie Software und Utopiedebatte; Feministische Utopien revisited (Caring Labour, Vier-in-Einem, "Subsistenzperspektive"; "Freie Kooperationen", "Anders leben und wirtschaften im Alltag"); Solidarische Ökonomie u. v. a. m.


Andreas Schüßler (* 1949) ist Diplom-Pädagoge und hat als politischer Referent und Berater bei verschiedenen Organisationen gearbeitet. Er ist Mitbegründer der "Bundeskoordination Internationalismus" (BUKO), der Aktion Selbstbesteuerung (asb) und von "ReichtumsKritik.de". Er ist Rentner und arbeitet als "BewegungsArbeiter" in diesen Bewegungen weiter mit. Er bittet um rege inhaltliche Mitarbeit auf reichtumskritik.de/.

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