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Ungeniert und privilegiert?!

13.12.2021: Das Dilemma einer Debatte um "Klassismus nach oben"

  
 

Forum Wissenschaft 4/2021; Foto: #stadtschmiererei / photocase.de

Gibt es einen "Klassismus nach oben"? Und wenn ja - worin drückt er sich aus? Oder ist es nur eine rhetorische Figur privilegierter Reicher, die sich als diskriminierte Minderheit inszenieren wollen? Felix Gaillinger diskutiert, warum bereits die Frage nach der Existenz von "Klassismus nach oben" unproduktiv ist und entlang anderer Maßstäbe ausbuchstabiert werden müsste.

Im Frühjahr 2021 erschüttert ein - nur vermeintlich - neues Phänomen die antiklassistische Debattenlandschaft. "Die Reichen sind auch nur Opfer. Critical Wealthiness. Eine Burda-Erbin fühlt sich marginalisiert, weil sie reich geboren wurde. Gibt es eine Diskriminierung von Wohlhabenden?"1, schreibt etwa Sebastian Friedrich im Politik-Ressort der Wochenzeitung Der Freitag. Dass die Reichen auch nur Opfer seien, dürfen die Lesenden keineswegs als ein Statement des Publizisten deuten, sondern vielmehr als eine subtile Bitte, zu widersprechen und sich auf die Suche nach den angemessenen Gegenargumenten zu machen.

Dabei zielt Friedrichs provokanter Affront nicht zuletzt auf einen Streitpunkt ab, der bereits einige Jahre zuvor, nämlich 2014, zum offenen Disput zwischen Christian Baron und Andreas Kemper2 geführt hatte: die Frage, ob es "Klassismus nach oben" - und somit auch gegen Reiche - gibt, oder ob nicht. Critical Wealthiness3 wird hier als eine Strategie behauptet, oder aber auch als vermeintlich legitimer Beweis betrachtet, den eigenen eigentlich unsichtbaren "invisible knapsack" der (weißen) Privilegien4 erfolgreich identifiziert und ausgepackt zu haben. Doch werden hieraus auch tatsächliche Handlungskonsequenzen gezogen, wie zum Beispiel das Umverteilen eigener Privilegien in gemeinsamen Ökonomien? Welche strukturellen Folgen hat dieser behauptete Paukenschlag der Einsicht, der jener nur angeblich privilegierten Burda-Erbin beigemessen wird? Wer hat es sich schon ausgesucht reich geboren zu werden und wer möchte es bleiben?

Fragen wie diese führen ihre Diskutant*innen in ein wahres Dilemma, denn sie beruhen zumeist auf einer binären Logik und zwingen zu einer klaren Positionierung in einem epistemologischen Wirrwarr. Ist man privilegiert oder ist man es nicht? Gibt es überhaupt einen "Klassismus nach oben", der im mühsamen Prozess, den eigenen Rucksack auszupacken, dank oder gerade trotz Critical Wealthiness als ein solcher ausgemacht werden kann? Im Rahmen dieses Beitrags möchte ich ausgehend von dieser durchaus ambivalenten Privilegiendiskussion essayistisch aufarbeiten, warum bereits die Frage nach der Existenz von "Klassismus nach oben" unproduktiv ist und entlang anderer Maßstäbe ausbuchstabiert werden müsste.

Männlich dominierte Debattenlandschaft

Upward classism, gewissermaßen ein Klassismus von unten nach oben - oder möglicherweise in einer marxistischen Gesellschaftsperspektive von Ausgebeuteten gegenüber den Kapitalbesitzenden - sei "marginalization directed to those who are perceived to be in a higher social class than the perceiver", so William Liu.5 Das "Unten" ist hier als eine Klassenzugehörigkeit gedacht, mit der wenige bis gar keine Privilegien verbunden sind. "Klassismus nach oben" könne sich zum Beispiel in einem labeling und damit verbundenen symbolischen Abwertungen als elitär manifestieren.6 Zu fragen wäre dabei auch, seit wann der Elitenbegriff denn eigentlich als ein abwertender Begriff (wieder)verwendet und populärer wird, um wirklich verstehen zu können, worin diese labelnde Abwertung bestünde.

Mit ihrer grundlegenden und in Deutschland stark rezipierten wissenschaftlichen Einführung in den Klassismus forderten Andreas Kemper und Heike Weinbach ein umfangreicheres Wissen über Klassismus und dessen Logiken ein, um der Entstehung von Mythen wie denen einer solchen symbolhaft armen, im Sinne von ausgegrenzten Elite vorzubeugen.7 Ideologeme der armen Reichen (oder: der reichen Armen?) dienen "dazu, selbige als Opfer des Systems erscheinen zu lassen"8, obwohl sie strukturell betrachtet eben Machtakteur*innen sind, die über ökonomisches Kapital verfügen und damit in einer gewissen Manier hantieren können oder zumindest könnten. Häufig und insbesondere in den Sphären mächtiger und bemächtigter Klassen verschränkt sich dieses Übermaß an ökonomischen Ressourcen mit weiteren Privilegien-sichernden Linien wie Geschlecht oder auch Weißsein, was allzu oft in Vergessenheit gerät.

Andreas Kemper und Heike Weinbach machen darauf aufmerksam, dass upward classism als eine Form der Diskriminierung nicht hegemonial oder normgebend gemacht werden kann. Sie leiste jedoch "ebenfalls einen Beitrag zu einem politischen Klima der Herabsetzung und Abwertung von Menschen. Und ein solches politisches und kulturelles Klima ist ein entscheidender Faktor für die Stabilisierung von Herrschaftsstrukturen"9.

Trotzdem ist "Klassismus nach oben" letztlich kein Modus der Unterdrückung und nicht gleichzusetzen mit den Logiken einzelner diskriminierender Alltagshandlungen. Unterdrückung, so Iris Marion Young, wird von der Ökonomie, Politik und kulturellen Einrichtungen strukturell produziert und schreibt sich latent in den Alltag von unterdrückten Gruppen ein. Bei "Klassismus nach oben" kann es sich um eine solche Dynamik nicht handeln. Zwar ließe es sich durchaus diskriminierend nennen, dass Reiche für ihren Reichtum angegriffen werden, wenn man unter Diskriminierung "conscious actions and policies" meint, "by which members of a group are excluded from institutions or confined to inferior positions"10. Doch wäre bei "Klassismus nach oben" weniger der Ausschluss von Institutionen der Mächtigen gemeint, als eine Abwertung ihres Reichtumsstatus. Vor allem: Ist es wirklich eine systematische Abwertung oder nicht doch ein stets vorgehaltenes und zu erreichendes Ziel "der Armen"? Auch wenn "die Eliten" verteufelt werden, so bleiben es doch erstrebenswerte Positionen, eben weil sie noch eine so viel größere Macht haben als nur ihr ökonomisches Kapital.

Zu berücksichtigen sei kurzum der "herrschaftskritische Vorbehalt, dass individuelle Vorurteile gegen Reiche und Intellektuelle aufgrund struktureller Formen des Klassismus wenig wirkmächtig"11 sind. Hieran anknüpfend sensibilisiert Torsten Bewernitz:

"Klassismus nach oben ist legitim, er ist sprachlich ein Teil jenes Empowerments […]. Dazu gehört auch die Rede von ›denen da oben‹, die nicht entmächtigt zu einer gemeinsamen Verortung ›im Unten‹ beiträgt, das durchaus positiv aufgeladen werden kann. […] Es gibt keinen Grund, so werden zu wollen, wie sie [›die da oben‹; F.G.] und keinen Grund, sich von ihnen repräsentieren zu lassen."12

Der neoliberale und sich selbst als solcher titulierende Reichtumsforscher Rainer Zitelmann arbeitet regelrecht als konterkarierendes Negativ dazu heraus, dass sich Klassismusforschende in ihrer Verortung selbst häufig auf klassistische Stereotype berufen, wenn sie diese auf Reiche beziehen:

"Und hier unterscheiden sich Reiche […] nicht prinzipiell von anderen Minderheiten: Wenn ein Manager oder Banker sich unethisch verhält oder hohe Boni trotz fragwürdigen Verhaltens erhält, dann sehen viele Menschen und Medien dies ebenfalls nicht nur als individuelles Problem, sondern es bestärkt das Stereotyp des ›gierigen Managers‹ […]."13

Diese Argumentation erkennt zwar auf der einen Seite die Gefahr, homogenisierend von einer "vermeintlich klassenspezifische[n] Kultur"14 auszugehen, doch entspricht dies einer neoliberalen Logik, in der "sozialer Protest […] zu einer identitären Abwehrbewegung degradiert"15 wird. Stereotypisierung aufgrund des ökonomischen Status als Merkmal von Klassismus16 ist bei Zitelmann erkannt. Seine Betonung jedoch, dass sich Reiche prinzipiell nicht von anderen Minderheiten unterscheiden,17 lenkt ab vom strukturellen Kontext und dem Potenzial der Klassismus-Analyse, die zu verändernden Bedingungen gesellschaftspolitischer Auseinandersetzung und Praxis aufzuzeigen. Der Unterschied einer beneideten reichen Minderheit gegenüber anderen prekarisierten und (ressourcen)armen Minderheiten könnte größer nicht sein, haben doch von "Klassismus nach oben" Betroffene die strukturelle Macht, aktiv auf allen Ebenen an den Degradierungen zu arbeiten. Auch zu fragen, wie - rekurrierend auf den sozialpolitischen Status - mithilfe des Rechts strukturelle Räume geschaffen werden können, in denen Differenzkonstruktionen von Geschlecht, Klasse, race und weiteren angefochten und verändert werden können,18 verbleibt als nicht thematisierte Leerstelle.

Unter der fehlenden Berücksichtigung struktureller Privilegien, könnten sich polemisch argumentierende Personen paradoxerweise auch dazu verleitet sehen, zu fragen, ob "Klassismus nach oben" nicht sogar ein Desiderat, ein zu erreichendes Ziel sei; wer aufgrund eigener Privilegien eine symbolische Abwertung erfährt, vielleicht sogar gesamtgesellschaftlich, dürfte unter einen höheren Druck geraten, Handlungsstrategien dagegen zu entwickeln und Privilegien abzugeben. Doch was würde es nutzen, wenn etwa ein Großunternehmer jährlich sein komplettes Gehalt spendete, im Wissen, kurz darauf wieder eine Million oder gar mehr Euro auf seinem Konto zu haben? Hat "Klassismus nach oben", beziehungsweise vielmehr die Arbeit an ihm, strukturelle Folgen, die zur dauerhaften Verbesserung der wirklich gesellschaftlich Ausgeschlossenen und prekarisierten Menschen führt? Wohl kaum.

Definitionsproblem des Klassismusbegriffs

Ein Grund für diese Reibungspunkte, in denen man sich in unproduktiven Legitimitäts- und Deutungsfragen verirrt, ergibt sich nach Bewernitz daraus, dass der Klassenbegriff im Klassismusdiskurs von dem der Arbeit entkoppelt und der ökonomische Blick somit als Erklärungsansatz vernachlässigt wird.19 Ferner kommen nach Torsten Bewernitz die von Klassismus direkt Betroffenen in der Regel nicht selbst zu Wort, sondern werden zumeist von eben jenen repräsentiert, die zwar klassistische Erfahrungen überwinden konnten, aber als "authentische Stimme, die die Logik der Diskriminierung noch verstärkt, indem sie beweist, dass sie individuell überwindbar wäre"20, auftreten. Mitunter läuft auch die Debatte um "Klassismus nach oben" damit Gefahr, von Klassenprivilegierten über Klassenprivilegierte geführt zu werden. Der dadurch entstehende Blick auf eine gemeinsame mutmaßliche Normalität verschleiert den Blick auf die Zwischenräume und Reibungspunkte in den Erfahrungen unterschiedlicher Klassenlagen. Umso dringlicher plädiert Torsten Bewernitz für eine intersektionale Perspektivierung, die auch die Sicht Betroffener berücksichtigen kann.21

Eine greifbare Perspektivierung nimmt auch Heike Weinbach ein, nach der es bei Klassismus "immer auch um Aberkennungsprozesse auf kultureller, institutioneller, politischer und individueller Ebene"22 [Hervorhebung des Verf.] geht. Dies spiegelt sich beispielsweise darin, dass "Rechte und Rechtsansprüche verweigert, Lebensweisen und Wertvorstellungen nicht anerkannt und nicht sichtbar werden".23 Daraus resultiert für Weinbach, dass der ökonomische Maßstab zwar als Grundkategorie der Klassismus-Analyse gedacht werden kann, jedoch auch veränder- und erweiterbar ist.24

Heike Weinbach trifft damit den Nagel auf den Kopf. Es ist durchaus legitim, "Klassismus nach oben" zu behaupten, wenn etwa die Lebensweisen und Wertvorstellungen einer reichen Elite nicht honoriert werden. Allerdings sind jene, die eine solche Behauptung aufstellen, es den Neugierigen auf Nachfrage schuldig, auch den ökonomischen Maßstab und damit die Strukturen hinter diesem Phänomen offenzulegen und zu dekonstruieren. Wer Klassismus aufrichtigerweise als eine Diskriminierungskategorie versteht, in der es auch darum geht, strukturelle Klassenscheidelinien und ihre Intersektionen25 durch ideologische und damit auch symbolträchtige Verteidigungsstrategien aufrecht zu erhalten, wird erklärungsbedürftig, wenn "Klassismus nach oben" proklamiert wird.

Fragen, ob es "Klassismus nach oben" gibt?

Mit diesen Überlegungen erreichen wir keineswegs unser Ziel, "Klassismus nach oben" zu bestätigen oder zu widerlegen. Im Gegenteil: Ich halte das Konzept von "Klassismus nach oben" solange für möglich, bis eine überzeugende Stimme ihren Weg ins Feld findet, die die Vereinbarkeit symbolischer Ausschlüsse mit der möglicherweise legitimen Aberkennung struktureller Privilegien zu verbinden weiß.

Doch auch, wenn sich diese Frage klärt, ist das Problem um die Debatte um "Klassismus nach oben" nicht gelöst. Dies hängt mit der Frage zusammen, wo ebenjener in der Debattenlandschaft überhaupt für möglich gehalten wird. Hier lohnt ein Blick auf Pierre Bourdieu und sein Klassenverständnis, das sich in der Debatte um Klassismus als äußert sinnstiftend erwiesen hat. Akteur*innen, so Pierre Bourdieu, seien im sozialen Raum entlang des Gesamtvolumens ihres Kapitals, dessen Zusammensetzung und der zeitlichen Entwicklung dieser Sorten - etwas, das häufig vergessen wird - verortet.26 Die Werte der einzelnen Kapitalsorten sind ständig im Wandel und unterliegen Aushandlungsprozessen, Inflationen und Deflationen.27 Damit ist nicht nur gemeint, dass sich beispielsweise der Wert von Geld und die Ausbeutungsrelationen in einer kapitalistischen Verwertungsmaschinerie ständig verändern; gemeint ist auch, dass kulturelle Codes wie beispielsweise die Art und Weise, wie wir uns kleiden, aber auch soziale Netzwerke und die damit einhergehende Handlungs(ohn)-macht ständig umpolen und in verschiedenen Kontexten und (Zeit-)Räumen unterschiedlich aufwiegbar werden.

Wie eng und wie weit man den sozialen Raum zeichnet, der in die Argumentation einkehrt, beeinflusst auch, wie weit die Klassen voneinander entfernt sein können.28 Aus einer de-/postkolonialen Perspektive ließe sich beispielsweise absolut klar abstreiten, dass es Klassismus von Adressat*innen der Kolonialherrschaft nach oben, also gegenüber den ausbeutenden Mächten gibt. Eine solche Form von Klassismus kann nicht gedacht werden, weil sie jenseits aller legitimen Deutungsweisen der Machtbeziehungen und strukturellen Verwebungen verläuft. Bedarf es also doch einer gewissen Nähe, um "Klassismus nach oben" überhaupt für möglich zu halten?

Bedarf es eines gemeinsamen Raumes auf gemeinsam objektivierbarem Boden? Wo liegt der gemeinsame Symbolraum im Kampf um die Deutungsmacht? Wer zeichnet den gemeinsamen Nenner, um upward classism überhaupt benennbar zu machen? Wo ist dann das "untere Oben", und wo das "obere Oben", wenn wir eine Elite identifizieren? Wer malt die Schwelle, an der das ausgemacht werden kann? Liegt sie möglicherweise bereits bei der middle class, die nach Beverley Skeggs und Vik Loveday die eigenen Interessen durch "symbolic boundary marking"29, also eben jene Ideologien der Aufrechterhaltung von Klassengrenzen, beschützt?

Möchten wir Klassismus als mehr verstehen als eine reine Begriffsfrage, so führt die Debatte in zahlreiche Sackgassen und verliert ihren wirkungsmächtigen Gehalt. Die Frage, ob es Klassismus nach oben gibt oder ob nicht, kann nur mit ja oder nein beantwortet werden. Sie verhärtet dabei potentiell die Fronten und hat keine analytische Zugkraft, der es gelingen könnte, Impulse für gesellschaftspolitische Interventionen aufzuzeigen.

Gleichzeitig geht es, wenn wir im kritischen Diskurs über "Klassismus nach oben" Privilegien thematisieren, immer auch um Diskriminierung der nicht Privilegierten. Andreas Kemper und Heike Weinbach verstehen in diesen beiden Begriffen Gegenpole.30 Doch sind es vielleicht auch Gegenpole eines Kontinuums. Wenn all jene Kapitalsorten, von denen Bourdieu spricht, in einem Sozialraum unterschiedlich verteilt sind, und sich damit auch die Macht, über ein metaphorisches Spielfeld zu verfügen, unterschiedlich verteilt, so ließe sich legitimerweise auch annehmen, dass es Personen gibt, die ein bisschen privilegiert sind und andere wiederum weniger. Damit wäre etwa die eingangs benannte Burda-Erbin zwar hinsichtlich ihres finanziellen Kapitals privilegiert, jedoch in ihrer Ausstattung mit symbolischem Kapital als "deklassierte" Person diskriminiert gegenüber anderen. Doch ganz so einfach ist es nicht. Denn die Kapitalsorten sind teilweise ineinander überführbar (wer ein hohes Maß an kulturellem Kapital hat, hat einen leichteren Zugang zu Netzwerken und damit sozialem Kapital). Eindrücklich zeigte dies beispielsweise Irene Götz gemeinsam mit Esther Gajek, Alex Rau, Marcia von Rebay, Petra Schweiger und Noémi Sebök-Polyfka in ihrer Studie Kein Ruhestand. Wie Frauen mit Altersarmut umgehen (2019). Sie arbeiteten unter anderem heraus, dass es für manche der portraitierten Frauen zwar im ersten Moment naheliegend wäre, das teure München zu verlassen, um das ökonomische Kapital zu erhöhen. Damit wäre allerdings auch der Verlust des lebensnotwendigen Kontakts zu anderen (unterstützenden) Personen einhergegangen. Andersherum gedacht ermöglichte es teilweise das soziale Kapital in Form von Netzwerken andere fehlende Ressourcen zu kompensieren. Gleichzeitig zeigte sich in dieser Studie, dass die Frauen eher dazu tendierten, eine rückgezogene sparsame Schattenexistenz zu führen, anstatt andere um Hilfe zu bitten.31

Ich schlage daher vor, sich entgegen eines bipolaren Unterscheidens von gänzlich diskriminiert und gänzlich privilegiert im Diskurs um "Klassismus nach oben" an einem Privilegienverständnis zu orientieren, wie es Clara Capello vorschlägt. Sie verbindet das Privileg mit Möglichkeiten und Gestaltungsautonomien. Privilegiert zu werden meint bei Capello in anderen Worten eine Teilnahmelizenz:

"Die Idee des ›Privilegs‹ ruft jene von Luxus, von einer Bandbreite an Möglichkeiten nicht nur ökonomischer Art hervor: Die Möglichkeit, über die eigene Zeit zu verfügen, ohne von zu vielen Einschränkungen limitiert zu werden. Letztlich ruft sie vielleicht die Idee hervor, mehr Selbstbestimmung und Freiheit genießen zu können.32

Fragen, warum "Klassismus nach oben" behauptet wird!

Ich möchte abschließend dafür plädieren, den Fokus in der Debatte um "Klassismus nach oben" anzupassen. Zwar ist es gerade in einem (im deutschsprachigen Raum) jungen Forschungsfeld wie der Klassismusanalyse wichtig, grundsätzliche und definitorische Begriffsfragen zu stellen, weil es immer auch darum geht, ein gemeinsames Vokabular und eine gemeinsame Art und Weise zu finden, Klassenverhältnisse zu denken. Gleichzeitig brauchen die verhärteten Fronten im epistemologischen Wissenschaftsstreit ein Ventil. Statt sich die Frage zu stellen, ob es "Klassismus nach oben" gibt, wäre es weiterführender, danach zu fragen, wie es dazu kommt, dass sich ein Begriff wie Critical Wealthiness den Weg freigemacht hat, Aufmerksamkeit zu erregen. Warum gibt es offensichtlich strukturell privilegierte Personen, die darauf aufmerksam machen, kritisch über die Privilegien zu reflektieren, aber gleichzeitig nicht die entsprechenden Handlungskonsequenzen wie reelle Umverteilung daraus ziehen? Welche gesellschaftlichen Narrative verleiten dazu, sich als Opfer von Abwertungen aufgrund ungleicher Kapitalsorten zu inszenieren, wobei doch gerade strukturell Privilegierte über handlungsermächtigendes ökonomisches Kapital verfügen, das sie in andere Kapitalformen investieren können? Oder - um das Ganze noch ein wenig zuzuspitzen und auf das marxistische Erbe des Klassenbegriffs zu verweisen - welche Ideologien treiben eine besitzende Klasse dazu, nicht nur stillschweigend zur Kenntnis zu nehmen, dass ausgebeutete Klassenvertreter*innen zurecht neiden, sondern sich sogar mit der Behauptung eines "Klassismus nach oben" diesen Neid anzueignen und zu pervertieren?

Anmerkungen

1) Vgl. Sebastian Friedrich 2021, online: www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-reichen-sind-auch-nur-opfer-fieser-stereotype.

2) Christian Baron 2014: "Klasse und Klassismus. Eine kritische Bestandsaufnahme", in: PROKLA 175: 225-235; Andreas Kemper 2014: "Klassismus: Theorie-Missverständnisse als Folge fehlender anti-klassistischer Selbstorganisation? Replik zu Christian Baron: Klasse und Klassismus in: PROKLA 175", in: PROKLA 176: 425-429.

3) Der Begriff "Critical Wealthiness" ist mir erstmals auf dem öffentlichen Instagram-Account des Aktivisten Sergej Prokopkin begegnet. Es handelt sich um kein wissenschaftlich etabliertes Konzept, auch wenn die semantische Nähe zum Konzept der Critical Whiteness anderes vermuten ließe. Gerade hierin liegt auch die Gefahr: eine antirassistische Analysekategorie mit Critical Whealthiness auf eine Ebene zu setzen.

4) Peggy McIntosh 1989: White Privilege. Unpacking the Invisible Knapsack and Some Notes for Facilitators. National SEED Project, online: nationalseedproject.org/Key-SEED-Texts/white-privilege-unpacking-the-invisible-knapsack/.

5) William Liu 2018: "Introduction to Social Class and Classism in Counseling Psychology", in: ders. (Hg.): The Oxford Handbook of Social Class in Counseling, online: www.oxfordhand-books.com/view/10.1093/oxfordhb/9780195398250.001.0001/oxfordhb-9780195398250-e-001.

6) Vgl. ebd.

7) Andreas Kemper / Heike Weinbach 2009: Klassismus. Eine Einführung, Münster: 30f.

8) Ebd.: 31.

9) Ebd.: 51.

10) Iris Marion Young 1988: "The five faces of oppression", in: The Philosophical Forum XIX / 4: 272.

11) Andreas Kemper 2014 (s. Anm. 2): 426.

12) Torsten Bewernitz 2017: "Das Fehlen der Fabriken. Kritik des Klassismus-Begriffs", in: Stephan Lessenich (Hg.): Geschlossene Gesellschaften. Verhandlungen des 38. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bamberg 2016: 8.

13) Rainer Zitelmann 2019: Die Gesellschaft und ihre Reichen. Vorurteile über eine beneidete Minderheit, München: 46.

14) Torsten Bewernitz 2017 (s. Anm. 12): 3.

15) Ebd.: 4.

16) Vgl. Andreas Kemper / Heike Weinbach 2009 (s. Anm. 7).

17) Vgl. Rainer Zitelmann 2019 (s. Anm. 13).

18) Quaestio [= Nico Berger / Sabine Hark / Antke Engel / Corinna Genschel / Eva Schäfer] 2000: "Sexuelle Politiken. Politische Rechte und gesellschaftliche Teilhabe", in: dies. (Hg.): Queering Demokratie. Sexuelle Politiken, Berlin: 9-27.

19) Vgl. Torsten Bewernitz 2017 (s. Anm. 12).

20) Ebd.: 5.

21) Vgl. ebd.

22) Heike Weinbach 2014: "Kultur der Respektlosigkeit", in: Migrazine. Online magazin von Migrantinnen für alle 2014/2, online: www.migrazine.at/artikel/kultur-der-respektlosigkeit. Hervorhebung des Verfassers.

23) Ebd.

24) Vgl. ebd.

25) Vgl. Anja Meulenbelt 1988: Scheidelinien. Über Sexismus, Rassismus und Klassismus, Reinbek bei Hamburg.

26) Vgl. Pierre Bourdieu 1987: "What Makes a Social Class? On the Theoretical and Practical Existence of Groups", in: Berkeley Journal of Sociology 32: 1-17.

27) Vgl. ebd.

28) Vgl. ebd.

29) Beverley Skeggs / Vik Loveday 2012: "Struggles for value: value practices, injustice, judgement, affect and the idea of class", in: The British Journal of Sociology 63, S.475.

30) Vgl. Andreas Kemper / Heike Weinbach 2009 (s. Anm. 7).

31) Irene Götz (Hg.) 2019: Kein Ruhestand. Wie Frauen mit Altersarmut umgehen, München.

32) Eigene Übersetzung aus dem Italienischen; Clara Capello 2012: "Volontariato: un difficile privilegio. Considerazioni psicologiche", in: Rivista di Psicologia dell‘Emergenza e dell‘Assistenza Umanitaria 7: 7.

Felix Gaillinger (M.A.) lehrt und forscht am Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der LMU München, ist politischer Bildner und Kinderzirkuspädagoge. Im Studium gründete er das Anti-Klassismus-Referat München. Seine Schwerpunkte sind Rechtsanthropologie sowie Biographie-, Prekarisierungs- und Klassismusforschung.

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