BdWi - Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler

»Wissenschaft ist also ein prinzipielles Gegen-den-Strom-Schwimmen.«

Klaus Holzkamp

Newsletter abonnierenKontaktSuchenSitemapImpressumDatenschutz
BdWi
BdWi-Verlag
Forum Wissenschaft

"Verschwörungstheorien"

21.03.2021: Notizen eines aktivistischen Sozialwissenschaftlers

  
 

Forum Wissenschaft 1/2021; Foto: Alberto Giuliani, CC BY-SA 4.0

In Zeiten der Krise suchen viele Menschen Antworten in Verschwörungstheorien. Auch in den Coronademonstrationen lässt sich ein Sammelsurium an Verschwörungsmythen finden. Zugleich begegnet KritikerInnen des staatlichen Handelns gegenwärtig schnell der Vorwurf der Verschwörungstheorie. Dieses Spannungsfeld zwischen Herrschaft und Kritik beleuchtet Gerhard Hanloser.

Hinter dem Glauben an Verschwörung stecken zuweilen Angst, aber auch Skeptizismus und eine dunkle Variante aufklärerischen Denkens.1 Skeptizismus und Aufklärung erscheinen als untypische Stichworte, wenn es um Verschwörungstheorien geht. Dennoch folgt eine zentrale Frage, die vielen Verschwörungstheorien zu Grunde liegt, einer aufklärerischen Geste, nämlich der Frage: Cui bono? Verschwörungstheoriebewegte stellen die Fragen: Wer hat ein Interesse daran, dass dies geschehen ist und dies geglaubt wird?

Ein Beispiel für diese Art Verschwörungstheoriedenken wäre die Annahme, dass die Nazis selbst den Reichstagsbrand gelegt hätten, um Ermächtigungsgesetz und Verfolgung der Opposition durchzusetzen. Ein weiteres Beispiel ist die Skepsis an der offiziellen Darstellung des 9/11. Hier gibt es sicherlich überdrehte antiamerikanische und auch antisemitische Verschwörungstheorien, allerdings auch Verschwörungshypothesen, die auf die Widersprüche der offiziellen Darstellung hinweisen und diesen nachgehen. Die darin zur Schau gestellte Detailversessenheit ist zuweilen ein Erbe der Aufklärung mit ihrer "instrumentellen Vernunft" (Max Horkheimer). Allerdings unterschlagen diese aufklärerisch gemeinten Verschwörungstheorien historisch Evidentes: Die Passivität der deutschen Arbeiterbewegung angesichts des Durchmarschs der Nationalsozialisten, die im deutlichen Kontrast zum möglicherweise einsamen und verfehlten Spontaneismus des holländischen Rätekommunisten Marinus van der Lubbe steht. Oder die Existenz eines aggressiven terroristischen Islamismus wie Al Quaida, der genau jenen "Krieg gegen den Terror" provozieren wollte, um ihn als "Kreuzzug des Westens gegen Muslime" propagandistisch ausschlachten zu können.

Dass es bewiesene Verschwörungen der Herrschenden gibt und noch offene Geheimnisse bestehen, die auf Vertuschung, Absprachen, Geheimdienstwirken hinweisen, ist ja bekannt. Ein paar Stichworte: Das "Celler Loch", der NSU-Komplex, die CIA-Behauptung, Saddam Hussein verfüge über Giftgas.2

Herrschaft und Verschwörung

Im Kern geht ein Denken, das Theorien über Verschwörungen aufstellt, davon aus, dass von einer verschworenen, meist mächtigen Gruppe interessegeleitet eine Wahrheit mit aller Macht verschleiert werde, um etwas anderes zu bewirken und im Modus der Täuschung der Allgemeinheit gewünschte Effekte zu erzielen. Wird dieser Zugang zur Wirklichkeit per se skandalisiert, als unstatthaft ausgewiesen ("antisemitisch"), stellt dies ein Kritikverbot dar.3 Skepsis gegenüber offiziellen Erklärungen und die Vorstellung von machtvollen Gruppierungen mit Sonderinteressen werden als "falsches", sogar moralisch verwerfliches Denken markiert. "Verschwörungstheorien" zu entsagen, heißt dann zu Pandemiezeiten, den offiziellen Verlautbarungen der Bundesregierung zu glauben und von bestimmten divergierenden Stimmen ("Wodarg") Abstand zu nehmen. Die offiziellen Medien bedienen diese Haltung. So erstellte Die Zeit ein Dossier zu Verschwörungstheorien, in dem dissidente, sich irrende Arztstimmen ("Bhakdi") mit fanatisch rechtsradikalen Verschwörungsmythologen wie Attila Hildmann zusammengerührt wurden.4 Die Markierung von "Verschwörungstheorien" erscheint hier als Aufruf zu Akzeptanz staatlichen Handelns und als Kritikverbot. Das ist im liberalen Diskurs nichts Neues: Für den liberalen Denker des Positivismus, Karl Popper, war der Marxismus mit seiner Kritik des Ausbeutungsinteresses einer Klasse eine "Verschwörungstheorie". In seinem Buch Die offene Gesellschaft und ihre Feinde von 1945 setzt er nicht nur Kommunismus und Faschismus gleich. Die marxistische Analyse, dass der Staat jeweils ein Instrument der herrschenden Klasse sei, bezeichnet er als "Verschwörungstheorie der Gesellschaft" und warnte davor hinter Kriegen etwas anderes als unerwünschte Nebenfolgen von Handlungen zu sehen, die auf ganz andere Ziele gerichtet seien. Wer von "Herrschenden" mit klaren Zielen spreche, folge einer "vulgärmarxistische[n] Verschwörungstheorie"5.

Dem offensichtlich folgend war in der oben bereits zitierten Ausgabe der liberalen Wochenzeitung Die Zeit auch Kapitalismuskritik neben antisemitischen Verschwörungstheorien als unstatthaft markiert worden. Dabei wird sich auf den Präsidenten des Thüringer Verfassungsschutzes bezogen, der vor einer "Phalanx aus Verschwörungsideologen, Rechtsextremisten, Kapitalismuskritikern, Antisemiten, Reichsbürgern und Impfgegnern" warnt.6

Eines ist klar: Kritisches Denken unterscheidet sich natürlich von Verschwörungstheorie, ist offensichtlich jedoch davon bedroht von herrschender Seite zur Verschwörungstheorie erklärt zu werden.

"Verschwörung" als Anklage ist ein Begriff, der im Arsenal der herrschenden Ideologie keine Konjunktur mehr hat. McCarthy erhob zur Hochphase des US-Antikommunismus noch die Anklage, linke und liberale Stimmen beteiligten sich an einer "Verschwörung gegen Amerika". Hinter der Markierung und Skandalisierung von "Verschwörung" konnten historisch Interessen wie Gegen-Aufklärung, konterrevolutionäre Bestrebungen und die Verschleierung eigener Macht- und Herrschaftsaspirationen stecken. Mit einer behaupteten Verschwörung kann eine reale Verschwörung kaschiert werden. So war die durch die Nationalsozialisten den Juden unterstellte Kriegslüsternheit eher ihre eigene.

Allerdings gab es auch tatsächliche Verschwörungen gegen die Obrigkeit. Jahrhunderte waren geprägt von der Furcht der Oberen, der Begüterten und bevorrechtigten Herrschaft vor einer Verschwörung der Unteren. Die Angst vor Verschwörungen prägte das 19. Jahrhundert - und diese Angst war in den oberen Herrschaftseliten präsent.7 Diese Angst der Herrschenden trug zuweilen paranoide Züge, dennoch reflektierte sie auf vorherrschende Tendenzen: Liberalisierung, kämpferische Demokratiebewegungen, aber auch der revolutionäre Geist der "Verschwörer für die Gleichheit".

Funktion des Antisemitismus

Der Anarchist wurde immer als Verschwörer gezeichnet und war eine präsente, für die Herren der vorherrschenden Ordnung, angstvoll besetzte Sozialfigur.8 Mit dem Revolutionär-Werden des Marxismus durch den Bolschewismus war der russische rote Verschwörer die neue Angstfigur der Herrschenden am Kipppunkt vom 19. ins 20. Jahrhundert. Aus all diesen Bestandteilen setzten sich die prominentesten und gefährlichsten Verschwörungsstrategien des 19. und 20. Jahrhunderts zusammen: Die gefälschten Protokolle der Weisen von Zion aus der zaristischen Giftküche sollten Revolution und Liberalismus abwehren, indem beides einer verschworenen Gruppe von hinterlistigen Juden zugeschrieben wurde. Die "Verschwörung eines internationalen Finanzjudentums" in der NS-Weltanschauung konnte eine ideologische Antwort auf die Krise von 1929 geben und gleichzeitig "den Juden" zum einen in Form des Finanzkapitalisten oder Plutokraten, zum anderen als Revolutionär und Bolschewik als undeutsch und fremd darstellen.

Der moderne Antisemitismus hat in den meisten seiner konkreten Ausprägungen eine starke verschwörungsmythologische Fixierung ("Der Jude ist an allem schuld"). Sowohl der Pogrom-Antisemitismus des Zarismus, als auch der rassistische Antisemitismus der Nazis wie die Verschwörungstheorien des Stalinismus - worin die Ärzteverschwörung ja nur eine Verschwörungsideologie darstellte - sind Staatsaktionen. Sie wurden von den Herrschenden, von Staatsseite ventiliert, um ihre Herrschaft zu zementieren.9

Antisemitismus und Verschwörungsdenken überschneiden sich, weil beide stark personalisierend sind und komplexe gesellschaftliche Verhältnisse, Dynamiken und Machtkonstellationen in das Bild eines getäuschten Volkes auf der einen und einer kleinen verschworenen Elite mit bösen Absichten auf der anderen Seite packen. Der Antisemitismus hat einen konkreten Inhalt, der Feind ist "der Jude". Es ist völlig klar, dass Krisenzeiten Verschwörungsdenken evozieren. Der bisherige Gang der Dinge ist nicht mehr aufrecht zu halten - wie aktuell dank der Seuche. Es entsteht Angst, die sich auf die allgemeine Angst im Kapitalismus vor Überflüssigkeit und im Konkurrenzgeschehen draufsattelt.10 Menschen wollen sich einen Reim auf die neuen Verhältnisse machen. Besonders Menschen, die das Bisherige nicht in Frage gestellt haben, fangen nun an, auf die sie drangsalierende Irritation Antworten zu geben, um Sicherheit zu gewinnen und das Ich in der Welt zu stabilisieren. Aktuell wollen einige, die VerschwörungsmythologInnen, der hegemonialen wissenschaftlichen und der staatsoffiziellen Erzählung nicht glauben. Sie wollen ihr Leben nicht ändern und keine Einschränkung in Kauf nehmen. Sie kramen nach alternativen Erzählungen; das könnte man als eine pervertierte Form aufklärerischen Denkens bezeichnen. Ihren eigenen Kopf benutzen sie ja nicht, sondern sie befinden sich dank der Filterblasenbildung in den sozialen Netzwerken in hermetisch abgedichteten Wahrheitskammern. Es wird gepostet und gerepostet. Die Digitalisierung, aber auch eine Hermetik der "Lückenpresse" (Albrecht Müller) hat die habermasianische Vorstellung einer bürgerlichen Öffentlichkeit mit gleichberechtigten Kommunikationschancen und -möglichkeiten und der Wahrheitsfindung durch die Kraft des besseren Arguments untergraben - und von einer "proletarischen Öffentlichkeit" (Kluge/Negt) kann keine Rede sein. Es gibt sie nicht.

Coronademonstrationen: Ein Sammelsurium an Verschwörungsdenken

Beim Betrachten des Demonstrationsgeschehens der CoronaquerdenkerInnen ist auffallend, wie divers das dort anwesende Verschwörungsdenken sich gestaltet11: Nicht nur Bill Gates und Drosten und Merkel gelten als verschworene Impf- und Lockdownclique, sondern es herrscht auch Angst vor der Macht des Vatikan vor, der Morgenthau-Plan wird als nach wie vor wirksamer Plan zur Zerstörung Deutschlands attackiert, Angst vor machtvollen Elite-Ringen wie in der QAnon-Verschwörungsphantasie, wonach einflussreiche, weltweit agierende, satanistische Eliten Kinder entführen, sie foltern und ermorden würden, um aus ihrem Blut eine Verjüngungsdroge zu gewinnen. Diese "Theorien" sind nicht nur beleglos, sondern auch vollständig wahnhaft und sie schöpfen mit dem Bild der blutsaugenden Elite tief aus dem Arsenal vampiristisch-antisemitischer und auch sexualneurotischer Lustangstphantasien. Unter Umständen folgen sie der Logik der Projektion: Eigene Absichten und Wünsche, die mit den eigenen oder gesellschaftlichen Normen nicht übereinstimmen, werden auf ein feindliches Anderes projiziert als klassische Form eines psychischen Abwehrvorgangs.

In dieser projektiv-wahnhaften Vorstellung darf dann auch der Hinweis auf die jüdische Familie Rothschild nie fehlen, die angeblich Anführer eines satanistischen Kults sei und mit vielen Hollywoodstars unter einer Decke stecken würde. Die Nicht-Juden würden durch Rothschild ihres Eigentums beraubt. Hier sind wir im Kern antisemitisch-wahnhafter Verschwörungsmythen, allerdings werden und wurden auf den deutschen Coronademonstrationen etliche Anklagen erhoben, auch verschwörungstheoretisch unterfütterte, darunter wiederum welche, die keinen antisemitischen Gehalt aufweisen. Auch die Zeitung der Corona- und HygienedemonstrantInnen Demokratischer Widerstand präsentiert eine Vielzahl widersinniger, irriger und falscher Wirklichkeitswahrnehmungen, aber lässt einen dezidierten Antisemitismus bislang vermissen, auch wenn seit jüngstem Rechte eingeladen sind, dort zu schreiben. Und auch die Mehrzahl der CoronademonstrantInnen wird von allem Möglichen angetrieben, aber nicht von einer einheitlichen antisemitischen Verschwörungsmythologie, wie sie im 20. Jahrhundert in Form des rassistisch unterfütterten antisemitischen Verschwörungsdenkens vorlag, wonach machtvolle "jüdische Bankiers", eine "jüdische Presse" und die jüdischen osteuropäischen Armen und russischen "Bolschewiki" gleichermaßen Teil einer Gesamtverschwörung gegen eine wünschenswerte heile deutsche Volksgemeinschaft darstellten.12

Dabei soll nicht bestritten werden, dass solche aggressiven und barbarische Taten zeitigende Weltverschwörungsphantasien nicht existieren würden. Weitreichendere Verschwörungsideologien, die besonders in den USA zirkulieren, gehen davon aus, dass es eine neue grüne Elite von Globalisten gäbe, rund um den Kopf des Davoser World Economic Forum (WEF), Klaus Schwab, der "the great reset" ansteuern würde, um nun im Verbund mit Bill Gates und anderen machtvollen Akteuren eine "brave new world" des administrativen Ökoneustarts umzusetzen.13 Im deutschen Milieu rund um den Demokratischen Widerstand wird Schwab derart kritisiert: "Schwab befürwortet […] eine Abkehr vom Neoliberalismus, hin zu einer Art kommunistischem Super-nanny-Staat, im grünen Mäntelchen als Köder für Gutbürger."14 Umfassende Digitalisierung und Automatisierung sei der Fluchtpunkt seiner technokratischen Phantasie. "Zu den Partnern dieses Projektes gehören Großbanken, Big Pharma, die Impfallianz GAVI, Versicherungen, Öl-Konzerne, Beratungsunternehmen wie McKinsey, Digitalkonzerne wie Microsoft, Facebook und Netflix - und last but not least, der chinesische Technologiegigant Huawei. Klaus Schwab, Jahrgang 1938, träumt von einem ›Neuen Normal‹ nach chinesischem Vorbild - ein totalitäres ›Systemmanagement menschlicher Existenz‹."15 Besonders im Lager der US-amerikanischen Klimawandelleugner, die eine erhebliche Schnittmenge mit Rechten und CoronaleugnerInnen aufweisen, ranken sich um Schwabs technokratische Phantasien einige Verschwörungsmythen, wonach er im Verbund mit allerhand Bündnispartnern eine schöne neue grüne Elitewelt anstrebe.

Fehlen einer demokratischen Öffentlichkeit

Naomi Klein hat zu der Attraktion solcher Verschwörungstheorien für vom Lockdown und der neoliberalen Politik Betroffene Folgendes geschrieben:

"This messaging is gaining traction not because people are suckers but because they are mad — and they have every right to be. Lockdown policies have demanded months of individual sacrifice for the collective good without providing the most basic collective protections to keep families from slipping into starvation and homelessness, or to keep small businesses afloat. Meanwhile, trillions have been spent to backstop markets and bail out multinationals, and pandemic profiteering is rampant. Is it any wonder that so many find it entirely plausible that the same elites who expect them to swallow all the coronavirus-related sacrifices while they party in the Hamptons and on private islands would also be willing to exaggerate the risks of the disease to get them to the accept more bitter ›green‹ medicine, for the common good?"16

Dass "Antipluralismus und Verschwörungstheorien die demokratische politische Kultur" unterhöhlen, ist ein Allgemeinplatz, der von der Leipziger Autoritarismus-Studie 2020 bestätigt wurde.17 Dass die politische Kultur selbst bereits erheblich früher durch den Umbau der BRD zu einer "marktkonformen Demokratie" (Angela Merkel) gelitten hat, ist dann auch eher Thema kritischer Theorien und Gegenöffentlichkeit. So verweist auch Wilhelm Heitmeyer auf den "autoritären Kapitalismus" und die "Demokratieentleerung", die erst dem autoritären "Nationalradikalismus" zum Aufschwung verholfen haben.18 Gegen die, solch autoritären Bewegungen und Haltungen eingeschriebenen Verschwörungsmythen fehlen offensichtlich nicht nur eine glaubhafte bürgerliche Öffentlichkeit, sondern auch eine moderne Entsprechung dessen, was Oskar Negt und Alexander Kluge "proletarische Öffentlichkeit" nannten.19 Dort müsste dann auch die reale Tragweite und die ideologischen Offensiven eines Klaus Schwab dementsprechend gewürdigt werden. Georg Auernheimer hat nachgezeichnet, dass in den Entwürfen der WEF-Initiatoren wie Schwab und Malleret tatsächlich antidemokratische und technokratische Weltlenkungsphantasien aufscheinen:

"Nachverfolgung und Ortung von Infektionen sind für Schwab/Malleret wesentliche Komponenten der gesundheitspolitischen Antwort auf Covid-19. Dabei könne man sich nicht mit freiwilliger Beteiligung zufriedengeben. […] Ein neues Herrschaftssystem zeichnet sich da ab, das sich noch nicht recht einordnen lässt. Wohin würde das führen, wenn Schwab von Gates, Fink, Bezos und Co. die Macht gegeben würde, die er offenbar gerne hätte? ›Wohlfahrtsstaat‹ und Umweltpolitik werden kombiniert mit einer Eliten- oder Oligarchenherrschaft, die Zwang nicht scheuen dürfe. Schwab und Malleret wollen mit Rücksicht auf die Systemstabilität soziale Sicherheit bieten, stellen aber zugleich den Schutz des menschlichen Lebens als absolute Norm in Frage. Sie schrecken vor dem Tabubruch nicht zurück. Beim Kampf gegen das Virus halten sie manchmal ein ›grausames utilitaristisches Kalkül‹ für unvermeidlich, wenn ein ›delikater Kompromiss‹ zu schließen ist zwischen der Rettung möglichst vieler Leben und dem Funktionieren der Wirtschaft."20

Aufklärerische Praxis

Diesen in der Tat "megalomanen Fieberträumen" (Aya Velázquez) muss mit einer partizipatorischen, lokalen und kapitalismuskritischen linken Theorie begegnet werden. Inferiore Angstträume von einer unerreichbaren Weltherrschaft, die wiederum als "Verschwörungstheorien" abgehandelt werden können, helfen kaum weiter. Denn sie können kaum zur aufklärerischen Praxis werden und scheitern als Erzählungen, die materialistisch Interessen benennen und diese Kritik am Vorherrschenden mit einer erreichbaren Utopie einer besseren, sozialeren, gesünderen, ökologischeren Gesellschaft verbinden. Die aktuellen, den Lockdown kritisch begleitenden Internetfilme von Sarah Wagenknecht (fast 300.000 Betrachter*innen)21, aber auch von der Initiative "wer hat, der gibt" (ca. 1.300 Betrachter*innen)22 weisen in eine aufklärerische Richtung: In einem Film über Bernard Grosse Broermann, Eigentümer der Asklepios Kliniken und auf Platz 66 der reichsten Deutschen im Jahre 2020 wird dieser als Profiteur einer markt- und profitausgerichteten Gesundheitsversorgung ausgemacht. In dem dreiminütigen Agitationsfilm wird auf die hohe Infektionsrate der Klinikangestellten hingewiesen wie auch auf das Sparen an den Personalkosten (inklusive Umgehen des Mindestlohns). An diesem Beispiel wird deutlich: Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen in den Händen gewinnorientierter Eigentümer, die auch einen Namen und ein Gesicht tragen, gehen planvoll ihrem Profit- und Ausbeutungsinteresse nach und sind Hindernisse auf dem Weg zu einer gerechten und glücklichen Gesellschaft. Ob solche YouTube-Interventionen auch kritische Geister unter den CoronaquerdenkerInnen erreichen, mag dahingestellt sein.

Anmerkungen

1) Ich folge darin Karl Hepfer 2015: Verschwörungstheorien. Eine philosophische Kritik der Unvernunft, Bielefeld.

2) Einiges davon wurde ausführlich diskutiert bei Hepfer, ebenda.

3) So wurde auf der Pressekonferenz am 24.11.2020 in Berlin durch Felix Klein, Antisemitismus-Beauftragter der Bundesregierung, Anetta Kahane, Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung und SPD-Vize Kevin Kühnert über die wachsende Radikalisierung und die Gefahr durch Antisemitismus und die Corona-Leugner-Szene zuweilen suggeriert, jede Verschwörungstheorie sei antisemitisch, vgl. online: www.youtube.com/watch?v=fCUVSvKvDl0.

4) Sebastian Kempkens 2020: "Das große Komplott, Dossier: Verschwörungstheorien", in: Die Zeit (Nr. 21), 14. Mai 2020: 11-13, online: www.zeit.de/2020/21/verschwoerungstheorien-corona-angst-kontollverlust-misstrauen?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F.

5) Karl R. Popper 1992: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band II: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen, Tübingen: 119.

6) Mariam Lau u.a. 2020: "Anti-Corona-Proteste: Zurück auf der Straße", in: Die Zeit (Nr. 21), 14. Mai 2020: 22, online: www.zeit.de/2020/21/anti-corona-proteste-bundesregierung-jens-spahn-angela-merkel.

7) Vgl.: Adam Zamoyski 2016: Phantome des Terrors. Die Angst vor der Revolution und die Unterdrückung der Freiheit 1789- 1848, München.

8) Hartmut Rübner 2015: "Kampf gegen die Attentäter und Verschwörer. Anarchismus in den ›Terrorist Studies‹ - ein Forschungsüberblick", in: Sozial.Geschichte Online 16: 9-51, online: duepublico2.uni-due.de/servlets/MCRFileNodeServlet/duepublico_derivate_00039734/03_Ruebner_Anarchismus.pdf.

9) Vgl.: Wolfgang Benz 2007: Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Legende von der jüdischen Weltverschwörung, München.

10) Zum Begriff "Angst im Kapitalismus" vgl.: Dieter Duhm 1972: Angst im Kapitalismus. Zweiter Versuch der gesellschaftlichen Begründung zwischenmenschlicher Angst in der kapitalistischen Warengesellschaft, Lampertheim.

11) Demonstrationsberichte sind hier nachzulesen: Gerhard Hanloser: Budjonnys unhygienische Reiterarmee. Beobachtungen während der letzten "Hygiene-Demos" vor der Volksbühne in Berlin, 2.5.2020, auf: wolfwetzel.de/index.php/2020/05/02/budjonnys-unhygienische-reiterfarmee-beobachtungen-waehrend-der-letzten-hygiene-demos-vor-der-volksbuehne/ und Gerhard Hanloser: "Ressentiment und Souveränismus", in: Telepolis, 1.9.2020, online: www.heise.de/tp/features/Ressentiment-und-Souveraenismus-4882805.html.

12) Zum Abdanken solch einheitlicher Ideologien in Zeiten der Postmoderne, vgl.: Zygmunt Baumann 1995: "Große Gärten, kleine Gärten. Allosemitismus: Vormoderne, Moderne, Postmoderne", in: Michael Werz (Hg.): Antisemitismus und Gesellschaft. Zur Diskussion um Auschwitz, Kulturindustrie und Gewalt, Frankfurt am Main: 44-61.

13) Dabei beziehen sie sich auf diese Schrift: Klaus Schwab, Thierry Malleret 2020: Covid-19. The Great Reset , hg. v. Forum Publishing, Genf.

14) So in einem Artikel der liberalen Journalistin Aya Velázquez 2020: "China und der Great Reset", in: Demokratischer Widerstand, Nr. 18, 28.11.2020: 13.

15) Ebd.: 14.

16) Naomi Klein 2020: The Great Reset Conspiracy Smoothie, 8.12.2020, in: The Intercept_, online: theintercept.com/2020/12/08/great-reset-conspiracy/.

17) Gerd Pickel, Susanne Pickel und Alexander Yendell 2020: "Zersetzungspotentiale einer demokratischen politischen Kultur: Verschwörungstheorien und erodierender gesellschaftlicher Zusammenhalt?", in: Oliver Decker, Elmar Brähler (Hg.): Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments - neue Radikalität. Leipziger Autoritarismus Studie 2020, Gießen: 89-118; hier: 115.

18) Wilhelm Heitmeyer 2018: Autoritäre Versuchungen, Berlin: 30-77.

19) Alexander Kluge, Oskar Negt 1990: Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt am Main.

20) Georg Auernheimer 2020: "Neues Herrschaftssystem. Eine Frage der Hegemoniefähigkeit: Klaus Schwab und Thierry Malleret über Covid-19 und den ›großen Reset‹", in: Junge Welt , 7. Dezember 2020: 15.

21) "Wagenknechts Bessere Zeiten", Neuer Lockdown? Blinder Aktionismus hilft nicht, online: www.sahra-wagenknecht.de/de/article/2989.n%C3%A4chster-lockdown-blinder-aktionismus-hilft-nicht.html.

22) "Wer hat, der gibt", Asklepios. Klinik macht krank, online: www.youtube.com/watch?v=rFc1m3J5JCA.

Gerhard Hanloser ist Sozialwissenschaftler, Pädagoge und Publizist; letzte Veröffentlichung als Herausgeber beim Wiener Mandelbaum Verlag: "Linker Antisemitismus?"

Zum Seitenanfang | Druckversion | Versenden | Textversion