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Klaus Holzkamp

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Über die Bedeutung einer Pluralen Ökonomik

19.09.2019: Der Blick auf einen neuen Studiengang an der Universität Siegen

  
 

Forum Wissenschaft 3/2019; Foto: Romario Ien / stock.adobe.com

Vermutlich in keinem anderen gesellschaftswissenschaftlichen Bereich lässt der herrschende Mainstream so wenig Raum für alternative Sichtweisen wie an den wirtschaftswissenschaftlichen Instituten. Eine einseitige Kapitalfreundlichkeit und Marktapologetik beherrscht die Szenerie. Dabei sind zahlreiche wissenschaftlich fundierte alternative ökonomische Theorien vorhanden, werden aber von den Verfechter*innen der neoklassischen Lehre belächelt und diskreditiert. Die vielfältigen gesellschaftlichen Krisen erfordern aber mehr Raum für wissenschaftliche Kontroversen, finden Gustav Bergmann, Heinz-J. Bontrup und Jürgen Daub und berichten über plurale Ansätze an der Uni Siegen.

Wir stehen weltweit vor großen Herausforderungen in sozialer, ökologischer, politischer und ökonomischer Hinsicht und sind mit vielen unerwarteten, kontingenten Entwicklungen konfrontiert. Hierzu sollte man eigentlich von der Wirtschaftswissenschaft (VWL und BWL) wissenschaftlich fundierte Antworten und Lösungskonzepte erwarten können. Dies ist aber nicht der Fall. Im Gegenteil: Die Wirtschaftswissenschaft hat sich immer mehr zu einer einseitigen und zudem kapitalfreundlichen Wissenschaft entwickelt. Die Lehre der klassischen Ökonomie (Smith, Riccardo, Marx u.a.) mit ihrer Arbeitswerttheorie ist schlicht aus dem Curriculum der ökonomischen Fakultäten verschwunden und selbst der nach dem Zweiten Weltkrieg vorherrschende Keynesianismus mit seinem kapitalismusstabilisierenden "deficit spending" wird allenfalls noch am Rande behandelt, um ihn dann aber als "überholt" zu diskreditieren. Wer heute beispielsweise als kritischer Ökonom noch auf Staatsverschuldung setzt, den könne man nicht mehr ernst nehmen, so die vorherrschende Meinung. Und dabei hat der "Langfrist-Keynes" in den Lehrbüchern und in der Forschung noch nie einen Stellenwert gehabt.1

Propagiert und für sakrosankt erklärt wird dagegen heute die neoklassische Ökonomie - übrigens auch von den meisten Medien.2 3 Die Neoklassik setzt hier mit ihrer subjektiven Wertlehre und ihrer neoliberalen ideologischen Politikausrichtung auf den "homo oeconomicus" und den "Markt" mit seinen angeblichen Selbstheilungskräften. Demnach könne jedes Wirtschaftssubjekt mit seinen Ressourcen rational umgehen und der von staatlichen Einflüssen und Gängelungen befreite Markt sorge am besten für eine effiziente und allokative Aussteuerung von Knappheiten durch entsprechende Preissignale.

Das dem nicht so ist, ist eigentlich hinlänglich empirisch verifiziert. Die Neoklassik berücksichtigt in ihrem Modelldenken nicht einmal die realiter auftretende einzelwirtschaftliche Rationalitätsfalle. Hier vermag sich der Einzelne rational verhalten. Entlässt beispielweise der Unternehmer in der Krise seine Beschäftigten, so ist dies betriebswirtschaftlich rational. Machen es aber alle Unternehmer*innen, dann wird sich für alle die Krise verschärfen. Zwar benennt die Neoklassik externe Umwelteffekte, die zu keiner Marktpreisinternalisierung führen, negiert aber dennoch staatliche Marktinterventionen für den Umweltschutz. Und auf die marktimmanente Zerstörung der Konkurrenz, das angeblich "genialste Entmachtungsinstrumment" (Franz Böhm), hat die Neoklassik überhaupt keine Antwort, außer dass das Monopol eine "Entartung" des Systems sei. Dabei ist der Monopolgewinn in Wirklichkeit das Ziel allen kapitalistischen Erwerbes selbst. Jeder Unternehmer träumt davon, einmal Monopolist zu sein und Monopolrenten abzuschöpfen.

Mangelnder Realitätsbezug

In der heutigen Volkswirtschaftslehre herrscht ein unerträglicher und nicht realitätskompatibler "Modell-Platonismus" vor.4 So wundert es nicht, dass sich zunehmend sogar die Praktiker*innen aus der Wirtschaft beklagen, dass Studierende zu formal denken und kaum zu kreativen Problemlösungen imstande sind. Das in den makro-, meso- und mikroökonomischen Theorien implizit immer wieder unterstellte reine Marktmodell einer idealisierten "vollkommenen Konkurrenz", die auf der allgemeinen Gleichgewichtstheorie von Leon Walras basiert, ist dabei nichts als eine Schimäre und hat mit der Wirklichkeit heute hochkonzentrierter und vermachteter Märkte sowie international agierender Großkonzerne, die Einfluss auf die Entscheidungen der demokratisch gewählten Politik ausüben, nichts zu tun.5

In den üblichen wirtschaftswissenschaftlichen Studiengängen dient die Ausbildung den Zielen der Kapitalseite. Gründer*innen gelten als schützenswerte Wesen, Investor*innen dürfen nicht verschreckt werden. Natur heißt Boden und wird als reine Ressourcenquelle betrachtet, die es auszubeuten gilt. Fragen der sozialen Verantwortung und der ökologischen Nachhaltigkeit werden nur am Rande betrachtet und dienen als semantische Dekoration. Alles wird unter Nützlichkeitsgedanken im Sinne wirtschaftlich mächtiger Akteure diskutiert, als wenn es keine anderen Teilnehmer*innen gäbe. So verwundert es auch nicht, dass eine Mitbestimmungslehre und -forschung an den wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten nicht (mehr) vorkommt.

Viele wirtschaftswissenschaftliche Studiengänge und Forschungsbereiche widmen sich zudem vornehmlich und mit geradezu größter Selbstverständlichkeit einer "Reichtumskunde". Die BWL erscheint noch einseitiger ausgerichtet, die gutenbergsche Engführung hat dazu geführt, dass nur noch Chrematistik praktiziert wird - nach Aristoteles die reine Reichtumskunde, die er als Abglanz der oikonomia sah. In der Fakultät III der Universität Siegen ist der Studiengang sozialwissenschaftlicher orientiert. Die Wirtschaftswissenschaften BWL und VWL sind wieder vereint und neben einem pluralen Diskurs über alle Formen und Theorien wird auch die praktische Anwendung ermöglicht.

Die Antworten der heute dominanten neoklassischen Ökonomie bieten hier jedenfalls keine ausreichenden Handlungsgrundlagen für notwendige gesellschaftliche Veränderungen mehr. Sie verbleiben der Problemlogik des "mehr desselben" verhaftet. Die Kritik spricht sogar davon, sie sei "Mathematisch rationalisierte Ideologieproduktion…" (Frank Beckenbach) oder es wird der neoklassischen Ökonomie "der erstarrte Blick" (Silja Graupe) vorgeworfen.6 In der Tat fokussiert sich im Wesentlichen die neoklassisch-neoliberale Ökonomieperspektive darauf, Veränderungen über die reine schon erwähnte sogenannte "Selbstregulierung der Marktkräfte" anzustreben. Dies verbleibt dann natürlich in einer reinen "Marktlogik" des Kaufens und Verkaufens gefangen.

Die herrschende Neoklassik will nichts von dem abhängigen Beschäftigten wissen, von dem einzig wert- und mehrwertschaffenden und vom Kapital ausgebeuteten Menschen. Sie unterstellt in einer unglaublichen Mystifikation und Verdrängung der wirtschaftlichen Realität, dass auch das erst aus menschlicher Arbeit (derivativ) entstandene ("tote") Kapital einen eigenen Wert erzeugt und eine eigene (Grenz-)Produktivität besitzt. Im Gegenteil: Es ist bezeichnend, dass die BWL, die Lehre vom Unternehmen, hier den Menschen vielmehr auf eine Stufe, wenn überhaupt, mit den Produktionsfaktoren "Werkstoffe" und "Betriebsmittel" stellt. Menschen sind in einer "Vergemeinschaftenden Personalpolitik" (Gertraude Krell7) nur das Produktivitätspotential zur Vermehrung des Shareholder Value.8 Entscheidend ist für die BWL letztlich die Rentabilität des eingesetzten Kapitals. Im Standardwerk für BWL-Studierende von Günter Wöhe kommt der Mensch nur in diesem Duktus vor.9

Mit solch einer einseitigen und nicht-holistischen Ökonomie sind jedoch politische und ökologische Notwendigkeiten nicht annähernd begründbar und schon gar nicht wirklich umsetzbar. Und trotzdem gilt: Die aktuelle Sprechweise der Ökonomie ist diejenige der neoklassisch-neoliberalen Ökonomie, sie gilt als einzig mögliche Ausdrucksweise von ökonomischen Problemstellungen und hat sich politisch mittlerweile weltweit durchgesetzt. Es hat sozusagen eine eindimensionale Entwicklung stattgefunden, die nur bestimmte Problemdefinitionen und ganz bestimmte Antworten zu ökonomischen Problemstellungen zulässt. Wir sehen es daher als dringend geboten, dass in der hochschuladäquaten Ökonomielehre und Forschung das Repertoire der ökonomischen Perspektiven erweitert wird und eine kritische Reflexion unterschiedlicher Ansätze stattzufinden hat.

Alternative Sichtweisen in Siegen

All dies war Motivation dazu, dass an der Universität Siegen ein neuer Studiengang "Plurale Ökonomik" entwickelt wurde, in dem Studierende der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften, Wirtschaftsinformatik und Wirtschaftsrecht differente Sichtweisen und notwendige Handlungsalternativen für aktuelle ökonomische Problemlagen erlernen. In vielen Studiengängen zu Management, Organisation und Ökonomik (BWL/VWL) wird noch häufig das Gegenteil betrieben. In den Köpfen von Studierenden wächst mit den konventionellen Studiengängen der Wirtschaftswissenschaft der Gedanke an Überschaubarkeit, Machbarkeit und Einfachheit heran, der in einer hoch entwickelten Einfältigkeit zu enden droht. Die wirklich wichtigen Fragen sind unentscheidbare Fragen, also Fragen, auf die es keine eindeutigen Antworten gibt. Entscheidbare Fragen sind längst entschieden. Die Studierenden sollen dabei eine Vorgehensweise verwenden, die sie vorher für diese trivialen, wenn auch oft vertrackten, Problemstellungen eingeübt haben. So können Investitionsentscheidungen beileibe nicht nur mittels der richtigen Anwendung von vollständigen Finanzplänen, Businessplänen oder Kapitalwertberechnungen getroffen werden. Alle in diesen Berechnungen eingefügten Parameter und Daten sind soziale Erfindungen, ihre Richtigkeit zeigt sich erst im realen Erlebnis. Oft kommt es vollkommen anders als erwartet, weil man sich vorher täuschen ließ oder eben nur einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit berücksichtigt hat, den man als kohärent empfindet.

In allen Modellen verbergen sich ideologische Prämissen, implizite Werturteile, denn sie sind Vereinfachungen der Realität. Nur ist es wichtig, die impliziten Prämissen und Wertsetzungen zu thematisieren. Viele Studierende (z.B. aus dem Netzwerk Plurale Ökonomik) kritisieren, dass normative Setzungen kaum hinterfragt und Alternativen grundsätzlich ausgeschlossen werden. Wir brauchen fundierte Sichtweisen auf die Realität, die in Dialogen und Diskursen ausgetauscht werden. Wissenschaftlichkeit zeigt sich nicht nur in der Aufsummierung von Daten oder der Anwendung komplizierter mathematischer Berechnungen, sondern auch in der Beschreibung unterschiedlicher Sichtweisen und Interessen sowie dem kritischen Diskurs über soziale Macht, über Wirksamkeit und Sinn.

Die Öffnung zur Pluralität hat noch einen weiteren Vorteil, den der Abschätzung von nichtintendierten Folgewirkungen ökonomischen Handelns - jenseits des reinen Kalküls der Profitmaximierung. Jede nichttriviale, also wesentliche und wichtige Entscheidung hat Folgen, insbesondere auch auf andere Personen und die sonstige Welt. Die Nichtüberschaubarkeit möglicher Folgen ökonomischen Handelns erzeugt zunehmend mehr Probleme. Der Zugang zur Welt ist in einer reinen Marktgesellschaft nur noch über Geld möglich. Alles wird zur Ware. Die reine Marktlogik einer neoklassischen Ökonomie blendet alle nichtmarktlichen Voraussetzungen einer Marktgesellschaft (Rechtssystem, öffentliches Ordnungssystem, Bildungssystem usw.) konsequent aus, ohne sich über die Konsequenzen dieser ökonomischen Teilblindheit Rechenschaft abzulegen. Eine Gesellschaft funktioniert als Ganzes (holistisch) nicht nur nach einer neoklassischen primitiven Marktlogik.10 Eine Gesellschaft von Konsument*innen und Unternehmer*innen löst sich auf, da alle nur noch gegeneinander konkurrieren und die Ungleichheit radikal zunimmt.11 Die Ökonomie soll verträglich gestaltet werden, das heißt als Werkzeug und Mittel dienen, statt als Zweck vorzuherrschen.

Die Wirtschaftswissenschaften haben weitgehend vergessen, dass sie eine Sozialwissenschaft sind. Insbesondere die neoklassische Volkswirtschaftslehre ahmt das Wissenschaftsmodell der "exakten" Naturwissenschaften nach, ohne dessen wissenschaftstheoretischen Hintergrund zu beachten. Modelle und mathematische Beweisführungen können eben nur im Laborexperiment zweifelsfrei überprüft werden, eine Sozialwissenschaft bezieht sich auf die gesellschaftliche Realität - und die ist nicht alleine in mathematischen Modellen abzubilden und auch nicht durch solche überprüfbar. Die Wirklichkeit ist komplexer, ungewisser und nicht-rationaler, als dies jede noch so komplizierte mathematische Modellbildung darstellen könnte - das komplette wissenschaftliche Versagen der Volkswirtschaftslehre bei einem möglicherweise frühzeitigen Erkennen der Entwicklungen zur weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007 mag ein Beispiel dafür sein. Hier geht es aber nicht nur um das frühzeitige Erkennen von Krisen, sondern auch um die Beeinflussung der Politik durch Ökonomen und ihre krisenmachenden und/oder verschärfenden Theorien. Dies bestätigt in ihrer Forschungsarbeit Katrin Hirte von der Universität Linz, wenn sie feststellt: Ökonomen "haben durch ihre Modelle z.B. Finanzprodukte aktiv mitgestaltet bzw. deren Durchsetzung im wirtschaftspolitischen Prozess direkt mitgefördert" und weiter stellt sie fest: "Neben ihrer Rolle als Analytiker und Initiatoren dominierte vor allem der Versuch, Wirtschaftspolitik aktiv über Diskurse, Netzwerke und Initiativen zu gestalten - durchaus im Widerspruch zu ihrem eigenen Selbstverständnis."12

Ziele pluraler Ökonomik

Ziel der pluralen Ökonomik ist ein diskriminierungsfreier Zugang zu ökonomischem, sozialem und symbolischem Kapital, denn hieran entscheidet sich, wer im wissenschaftlichen Betrieb akzeptiert oder abgelehnt wird.13 Weiter fordert sie eine Reflexion der Methodologie, da sie in den meisten gängigen Lehrbüchern keinerlei oder nur eine sehr geringe Rolle spielt und die Studierenden eine völlig unkritische Einführung in den Positivismus erhalten.14 Das Streben nach einer "erklärenden" Ökonomik, nach naturwissenschaftlichem Vorbild, bei gleichzeitiger Zurückweisung verstehender Elemente, wie in den Politik- und Sozialwissenschaften, lässt die Wirtschaftswissenschaften ihre normativen Grundlagen vergessen und sie wird zur Scheinwissenschaft. Es erscheint notwendig und sinnvoll sehr unterschiedliche und vielfältige Methoden der Forschung zu verwenden und zu lehren. Die Dominanz quantitativer Forschung ist unverständlich, weil sie häufig auf problematischen Prämissen beruht oder eine sehr fragwürdige Datenbasis verwendet. In der Marketingforschung werden beispielsweise Probleme des Zustandekommens von Datensätzen kaum diskutiert. Dann wird jedoch von objektiven Daten geredet, die auf subjektiven Antworten in häufig standardisierten (einfacher auszuwertenden) Fragebögen basieren. Aus pragmatischen Gründen wird von einem methodologischen Individualismus ausgegangen, demnach wird jeder Mensch als nutzenoptimierendes Einzelwesen betrachtet, der ohne Beeinflussung seines sozialen Umfeldes entscheide.

Es mutet skurril an, dass "Pluralität" in den Wirtschaftswissenschaften umstritten ist. Wissenschaft zeichnet sich durch Offenheit und Kritikfähigkeit aus - "jenen Ressourcen, die die Progressivität einer Wissenschaft bestimmen"15. Die klassische Mainstream-Ökonomie hingegen betreibt Machtkonzentration, schließt Wettbewerber vom Markt aus und festigt ihr Monopol. Wichtige heterodoxe Grundlagen werden aufgrund ihrer nicht-formalen Ansätze diskriminiert oder pervertiert in die neoklassischen Modelle integriert. Man spaltet sich von der Realität ab, weil es nicht möglich ist, die komplexe Wirklichkeit in mathematische Modelle zu integrieren.16 Die zunehmende Hermetisierung führt zum Legitimationsverlust der Wirtschaftswissenschaften. Der Grund hierfür ist, ironischerweise, Marktversagen; was aber nicht bedeutet, dass es in der gesellschaftlichen Realität auch zu Staats- bzw. Politikversagen kommt. In der Managementlehre führt das zu untauglichen Methoden und Erkenntnissen, die sich in praxi nicht bewähren.

Des Weiteren erscheint es uns sinnvoll über die Ziele und Inhalte der Forschung grundsätzlich zu diskutieren. Ökonomische Forschung sollte (insbesondere, wenn sie öffentlich über Steuergelder finanziert wird) Macht- und Informationsasymmetrien ausgleichen, statt sie zu steigern. In der Betriebswirtschaftslehre wird über und für Unternehmen geforscht. Im Marketing zum Beispiel wird allzu häufig einseitig Forschung für die Anbieterseite getätigt. Es wird kaum Verbraucherforschung betrieben und die Stimulierung von Bedürfnissen erforscht. Dies führt zu einem konsumistischen "Wohlstandsmodell" mit tragischen Folgen für die soziale und ökologische Mitwelt. Dies passiert mit öffentlichen Geldern, allein zum Nutzen von Kapitaleigner*innen. Öffentliche Forschung schafft die Basis für zahlreiche Innovationen, die dann später privatwirtschaftlich abgeschöpft werden.17 Mazzucato zeigt in ihrem Buch auf, dass der Staat durch seine Förderung häufig der größte Wagniskapitalgeber ist. So betrug der Finanzierungsbeitrag der US-Regierung 2008 für Grundlagenforschung 57 Prozent. Die Basisinnovationen für Computer, Düsenflugzeuge, das Internet, Biotechnologie und mehr wurden vom Staat finanziert.

Sinn und Ziel ökonomischen Handelns

Die Krisen der Welt stellen große Herausforderungen dar: Finanzkrise, Ressourcenerschöpfung und Klimawandel, Terror und Krieg, soziales Elend. In der Pluralen Ökonomik wollen wir an der Universität Siegen diskutieren, was der Sinn und das Ziel des ökonomischen Handelns sind. Wie wir gemeinsam zu guten Entscheidungen kommen, welche Möglichkeiten wir haben, Herausforderungen anzunehmen. Wie wir wirksam verändern können und wie sich unser Leben und Wirtschaften auf andere auswirkt, wie wir Verantwortung organisieren können. Machen wir alles, was technisch möglich ist, und wenden es an? Streben wir nach Profit auch dann, wenn wir massiv Einfluss auf die Nahrungsmittelversorgung anderer Menschen, ganzer Länder nehmen? Kann man mitten im Kapitalismus überhaupt anders entscheiden? Können wir uns in diesem Modell überhaupt menschlich weiterentwickeln oder evoziert die Konkurrenzgesellschaft das allseits sich konkurrenzhaft verhaltende Subjekt? Diese Fragestellungen spielen im Studiengang "Plurale Ökonomik" eine zentrale Rolle.

Anmerkungen

1) Vgl. Norbert Reuter 2000: Ökonomik der "Langen Frist", Zur Evolution der Wachstumsgrundlagen in Industriegesellschaften, (Habil.), Marburg; Karl Georg Zinn 2013: "Keynes‘ Wachstumsskepsis auf lange Sicht", in: Jürgen Kromphardt: Weiterentwicklung der Keynes’schen Theorie und empirische Analysen, Marburg: 75ff.

2) Till van Treek, Janina Urban 2016: Wirtschaft neu denken. Blinde Flecken der Lehrbuchökonomie, Berlin.

3) Vgl. Philipp Wolter 2016: Neoliberale Denkfiguren in der Presse. Wie ein Wirtschaftskonzept die Meinungshoheit eroberte, (Diss.), Marburg.

4) Jakob Kapeller 2012: Modell-Platonismus in der Ökonomie. Zur Aktualität einer klassischen epistemologischen Kritik, Frankfurt am Main: 69ff.

5) Vgl. u.a. Thilo Bode 2018: Die Diktatur der Konzerne. Wie globale Unternehmen uns schaden und die Demokratie zerstören, Frankfurt a.M.

6) Vgl. Till van Treek, Janina Urban 2016 (siehe Fn. 2).

7) Vgl. Gertraude Krell 1994: Vergemeinschaftende Personalpolitik, (Habil.), München.

8) Vgl. Alfred Rappaport 1986: Creating Shareholder Value, New York, in deutscher Übersetzung: Shareholder Value, 2. Aufl., München 1999.

9) Vgl. Thomas Breisig, Manfred Schweres 2015: "Über 50 Jahre ›Wöhe‹ - von Arbeit nur Spurenelemente - Das Fach im Spiegel des Lehrbuchs ›Allgemeine Betriebswirtschaftslehre‹ von Günter Wöhe", in: Zeitschrift für Arbeitswissenschaft, 69. Jg., Heft 4/2015.

10) Jens Beckert 1997: Grenzen des Marktes. Die sozialen Grundlagen wirtschaftlicher Effizienz, Frankfurt am Main.

11) Richard Wilkinson, Kate Pickett 2009: Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, Hamburg; Oliver Nachtwey 2016: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Berlin; Thomas Piketty 2014: Das Kapital im 21. Jahrhundert, München.

12) Vgl. dazu ausführlich: Katrin Hirte 2013: ÖkonomInnen in der Finanzkrise, Diskurse, Netzwerke, Initiativen, (Diss.), Marburg: 15.

13) Pierre Bourdieu 1992: Homo Academicus, Frankfurt a.M.

14) Arne Heise 2016: Pluralismus in den Wirtschaftswissenschaften - Klärungen eines umstrittenen Konzepts. Expertise für die Hans-Böckler-Stiftung, IMK Studies, Nr. 47.

15) Ebd.: 31.

16) Claus P. Ortlieb 2015: "Wesen der Wirklichkeit" oder "Mathematikwahn"? Beitrag zur Tagung "Allgemeine Mathematik: Mathematik und Gesellschaft. Philosophische, historische und didaktische Perspektiven", Schloss Rauischholzhausen, 18.-20. Juni 2015.

17) Mariana Mazzucato 2013: Das Kapital des Staates. Eine andere Geschichte von Innovation und Wachstum, München.

Prof. Dr. Gustav Bergmann ist Lehrstuhlinhaber (Innovations- u. Kompetenzmanagement) an der Fakultät III der Universität Siegen und Mitbegründer des Studiengangs Plurale Ökonomik. Prof. Dr. Heinz-J. Bontrup ist VWL-Gastprofessor an der Fakultät III der Universität Siegen. Dr. phil. Jürgen Daub ist Senior Researcher am Lehrstuhl für Innovations- und Kompetenzmanagement.

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