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Klaus Holzkamp

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"Öffentlich vor privat - Die Zukunft der gesellschaftlichen Daseinsvorsorge"

08.10.2015: Tagungsbericht

Am 19. September 2015 fand in Berlin die gemeinsame (ganztägige) Arbeitstagung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik und des Bundes demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi) sowie des DGB Berlin-Brandenburg zum oben genannten Thema statt.

Es war bereits die fünfte Tagung dieses Veranstalterkreises und in diesem Format. 75 Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren erschienen: überwiegend aus dem Spektrum der Gewerkschaften und Hochschulangehörige. Zielsetzung war es, die gegenwärtige Auseinandersetzung um die soziale Infrastruktur und die Zukunft des öffentlichen Sektors theoretisch und historisch zu fundieren. Die Tagung wurde von Torsten Bultmann (BdWi) und Gunter Quaißer (Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik) vorbereitet und moderiert.

Doro Zinke (Vorsitzende DGB Berlin-Brandenburg) begrüßte die Teilnehmerinnen und Teilnehmer und stellte ihre Sicht auf das Thema dar.

Lutz Brangsch (Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa Luxemburg Stiftung) führte historisch (und mit aktuellen Bezügen) in das Thema ein. Bereits bei Adam Smith finde sich der Gedanke, dass öffentlicher und privater Sektor sich gemeinsam entwickeln - und gegenseitig bedingen; folglich handelt es sich nicht um ein schlichtes Gegensatzpaar. Die Entwicklung des Industriekapitalismus im 19. Jahrhundert ginge gar mit einem Ausbau des Staatseigentums (Beispiel Eisenbahnwesen) als "materielles Moment des Wirtschaftskreislaufes" einher. "Der öffentliche Sektor verwandelt so wenigstens zum Teil seinen Charakter auf widersprüchliche Weise. Er wird zu einem der Hebel der Stabilisierung der privaten Aneignung gesellschaftlicher Produktivität, gleichzeitig aber auch Träger, Beschleuniger und Repräsentant des fortschreitenden Vergesellschaftungsprozesses, der über den Kapitalismus hinausweist."

Wolfgang Lieb (Mitherausgeber der Nachdenkseiten und früherer Wissenschaftsstaatssekretär in Nordrhein-Westfalen) verdeutlichte in seinem Beitrag, dass sich Kritik an Privatisierung nicht nur am Phänomen eines tatsächlichen materiellen Eigentümerwechsels orientieren kann, wofür gerade die öffentlichen Hochschulen ein plastisches Beispiel sind und wofür sich der Begriff der funktionalen Privatisierung eingebürgert hat. Hochschulen sind (und bleiben vermutlich) zu 95 Prozent staatlich finanziert. Die Deregulierung der Entscheidungsstrukturen nach dem Leitbild der unternehmerischen Hochschule sowie eine Verwettbewerblichung der Verteilung öffentlicher Finanzströme begünstigen dabei eine stärkere Orientierung der Arbeitsabläufe an privaten Interessen in der Gesellschaft. Ein öffentlicher - und gemeinwohlorientierter - Bildungsauftrag werde so zunehmend untergraben.

Mechthild Schrooten (Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Hochschullehrerin an der Hochschule Bremen) kennzeichnete ausführlich das Spannungsfeld, in dem die politischen Debatten über die Zukunft des öffentlichen Sektors stattfinden. Eine renditeorientierte Marktwirtschaft setze auf gesamtwirtschaftliches Wachstum und Umverteilung von unten nach oben. Eine gute öffentliche Infrastruktur wird dabei durchaus als wachstumsbegünstigend anerkannt. De facto entwickelt sich diese im Spannungsfeld zwischen Ökonomie und Marktversagen, wodurch auch die Entfaltung einer eigenen gemeinwohlorientierten Logik des öffentlichen Sektors eingeschränkt ist. Zugleich wird auf diesen Druck ausgeübt, seine Effizienz zu steigern, wobei der Effizienzbegriff der privaten Ökonomie in diesen gänzlich anderen Bereich übertragen wird, d. h. Effizienz wird in Geld (etwa Input-Output-Relationen) gemessen. Dies widerspiegelt sich dann auch in einer Erhöhung von Leistungsdruck und Arbeitsintensität bei den dort Beschäftigten. Als ein Hauptargument ist dabei in den letzten Jahren die Finanzierungskrise der öffentlichen Haushalte in den Vordergrund gerückt. Die Schuldenbremse verstärkt diesen Druck. Der öffentliche Dienst sei daher ein Spiegel des vorherrschenden Staats- und Gesellschaftsverständnisses. Eine politische Bewegung gegen die vorherrschenden Tendenzen müsse daher auch ein alternatives "soziales Leitbild des öffentlichen Dienstes" entwickeln.

Günter Sölken (attac Berlin) unterzog die Freihandelsverträge der letzten Jahrzehnte in ihrer Auswirkung auf Umwelt und Lebensverhältnisse einer grundlegenden Kritik. Sie schränken die politische Beeinflussbarkeit wirtschaftlicher Vorgänge und damit sozialer Bedingungen grundlegend ein. Ihren Höhepunkt erreicht die Freihandelspolitik in den gegenwärtigen Geheimverhandlungen um die TISA-, TTIP- und (zu Ende verhandelten) CETA-Verträge. Diesen wohnt die Tendenz inne, den öffentlichen Dienst in Konkurrenz zu privaten Anbietern zu betrachten und diesen damit entsprechende Gleichbehandlung einzuräumen, d. h. öffentliche Güter zurück zu drängen. Gleichzeitig war der Referent optimistisch, was die Entwicklung der breiten kritischen öffentlichen Aufmerksamkeit sowie der politischen Bündnisse nie gekannten Ausmaßes gegen die TTIP-Verhandlungen betrifft.

Die folgende Referentin, Cornelia Heintze, referierte bereits auf vergangenen Tagungen des Veranstalterkreises zu verschiedenen Aspekten des skandinavischen Wohlfahrtsstaates. Gerade für das aktuelle Thema lässt sich recht gut die Bedeutung einer großzügig ausgestatteten öffentlichen Infrastruktur verdeutlichen, wenn etwa die Bereiche Erziehung, Betreuung und Pflege ins Auge gefasst werden. Dabei geht es nicht nur um unterschiedlich hohe Investitionen in diese Sektoren, entschieden ist vor allem das zugrundeliegende Gesellschaftsbild (›Philosophie‹). Im skandinavischen Modell sind Erziehung, Betreuung und Umsorgung (Care) grundsätzlich eine Gemeinschaftsaufgabe (i. d. R. kommunal organisiert), zu der alle Einwohnerinnen und Einwohner einen einkommensunabhängigen Zugang haben. Die Kooperation mit Eltern und Angehörigen ist ebenso Bestandteil des Modells wie die akademische Professionalisierung der entsprechenden Berufe. Mehrere politische Ziele werden so - zumindest annäherungsweise - erreicht: Gleichstellung, Vereinbarkeit von Familie, Beruf und privaten Interessen, soziale Mobilität und Armutsprävention. Daher lässt sich auch sagen, dass sich die vergleichsweise hohen öffentlichen Investitionen in diese Aufgaben in einer volkswirtschaftlichen Perspektive ›rechnen‹. Ungeachtet dessen erzwang auch seit den 1990er Jahren neoliberale Politik in einigen skandinavischen Ländern eine stärkere Vermarktlichung auch dieser Leistungserbringungen. Dennoch ist bis heute das Investitionsniveau in öffentliche Güter wesentlich höher als in Deutschland. Das hat auch den Grund, dass hierzulande hartnäckig nach wie vor ein familienzentriertes Leitbild, d. h. eines der Familienerziehung und -pflege mit ergänzenden (subsidiären) staatlichen - oder eben privat finanzierten - Leistungen vorherrscht. So sind nicht nur die staatlichen Investitionen in diese Aufgaben geringer, es wird zusätzlich soziale Ungleichheit verstetigt.

Roman Jaich (Bildungsökonom) referierte abschließend zu den Tendenzen aktueller Bildungsfinanzierung in Deutschland: Ab den 1990er Jahren nehme das Thema Bildungsfinanzierung hierzulande einen gewissen Stellenwert ein, seit die OECD in ihrer regelmäßigen Veröffentlichung "Bildung auf einen Blick" aufzeigt, dass die öffentlichen Bildungsausgaben in Deutschland im internationalen Vergleich reichlich unterdurchschnittlich ausfallen. Seitdem werden diese zwar regelmäßig angehoben, bezogen auf das BIP seien sie lange Zeit aber nur unterproportional gestiegen. In regelmäßigen Abständen werden auch die zusätzlichen Aufwendungen für Bildung errechnet, die nötig wären, um das Bildungssystem Deutschlands international anschlussfähig zu machen. So z. B. Jaich 2008 "Gesellschaftliche Kosten eines zukunftsfähigen Bildungssystems" oder Piltz 2011 "Bildungsfinanzierung für das 21. Jahrhundert". Aktuell wird eine Neuauflage bearbeitet, gefördert von der Max-Träger-Stiftung. Auch wenn die abschließenden Zahlen noch nicht vorliegen, wird deutlich, dass weiterhin ein beträchtlicher zusätzlicher Finanzierungsbedarf besteht. Zwar ist in einzelnen Bereichen durchaus etwas passiert, so sind die Ressourcen für den Bereich Kindertagesstätten im Zeitraum von 2008 bis 2013 mit 13 Milliarden Euro mehr als verdoppelt, über alle Bildungsbereiche hinweg habe sich jedoch wenig an der Wertschätzung für eine gute Bildung geändert.

Zwischen den einzelnen Vorträgen, die sich gegenseitig recht gut ergänzten, wurde unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern lebhaft diskutiert. Am Ende der Veranstaltung wurde nachdrücklich der Wunsch nach einer Nachfolgeveranstaltung im folgenden Jahr geäußert.

Torsten Bultmann (BdWi)

Mittlerweile liegen einige Beiträge der Referent_innen zum Download vor und sind hier abrufbar: www.alternative-wirtschaftspolitik.de/termine/event_28015.html

Materialien zur Tagung:

  • Wolfgang Lieb: Funktionale Privatisierung staatlicher Aufgaben - am Beispiel öffentlicher Hochschulen
  • Lutz Brangsch: Entstehung des öffentlichen Sektors im Kapitalismus - und aktuelle Konfliktlinien um seine Zukunft
  • Cornelia Heintze: Zur Bedeutung egalitärer öffentlicher Versorgungsstrukturen bei der formalen Kinderbetreuung. Deutschland im Skandinavienspiegel
  • Mechthild Schrooten: Zukunft des öffentlichen Dienstes

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