BdWi - Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler

»Wissenschaft ist also ein prinzipielles Gegen-den-Strom-Schwimmen.«

Klaus Holzkamp

Newsletter abonnierenKontaktSuchenSitemapImpressumDatenschutz
BdWi
BdWi-Verlag
Forum Wissenschaft

Dialektik im Neoliberalismus

29.09.2006: Bericht zur Herbstakademie 2006

Vom 29. September bis zum 3. Oktober 2006 führten der BdWi, die Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Verein "Helle Panke zur Förderung von Politik, Bildung und Kultur" in Werftpfuhl bei Berlin die vierte Herbstakademie zum Themenfeld "Kritik im Neoliberalismus" durch. Eine Zusammenfassung der Beiträge gibt Torsten Bultmann.

Das Schwerpunktthema der diesjährigen Herbstakademie, an der sich 51 KollegInnen an vier schönen Spätsommertagen in der Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein beteiligten, ist die konsequente Fortsetzung der Vorgängertagungen "Kritische Wissenschaften", "Subjekte" bzw. "Hegemonieverhältnisse im Neoliberalismus". Es ist eine häufige linke Praxis, Kritik am Neoliberalismus und die Forderung nach politischen Alternativen unvermittelt und formal gegenüberzustellen, statt letztere etwa aus den konkreten Widersprüchen der unter neoliberaler Hegemonie durchgesetzten neuen Produktions- und Lebensweise zu entwickeln. Den roten Faden der ganzen Tagung bezeichnet daher die Fragestellung "Operieren können mit Antinomien". In dem Zusammenhang ergab sich das Thema, was dafür noch die philosophiegeschichtliche Tradition heute zu bieten hat, die unter dem Namen Dialektik zusammengefasst wird: Handelt es sich dabei letztendlich um eine scholastische Sammlung von Lehrsätzen oder bietet diese Tradition noch Ressourcen für eine progressive theoretische und politische Praxis?

In seinem theoriegeschichtlichen Aufriss verdeutlichte Wolfgang Fritz Haug die Bedeutungsfacetten, Irrungen, aber auch erkenntnisproduktiven Bedeutsamkeiten, die mit dem Begriff "Dialektik" verbundnen sind: dabei lag ein besonders anschaulicher Schwerpunkt auf philosophiegeschichtlichen Wendepunkten und Weichenstellungen seit der Antike. Ein zweiter Seminarkomplex mit Wolfgang Fritz Haug war "Dialektik des Anti-Rassismus" überschrieben: Der Referent berichtete von seinem Ende der 90er Jahre gescheiterten Versuch, verschiedene anti-rassistische theoretische und politische Ansätze, die sich konfrontativ zueinander verhalten und häufig jeweils auf eindimensionalen "identitätspolitischen" Vereindeutigungen beruhen, miteinander zu vermitteln.

Das Referat von Iris Nowak führte mitten hinein in die Widersprüche neuer Alltagsformen, welche von der Linken häufig viel zu wenige analysiert, geschweige denn politisch beachtet würden. Die Referentin bezog sich dabei kritisch auf empirische Untersuchungen zu den sog. "Solo-Selbständigen" in der Kultur- und Medienindustrie. Gerade in deren Arbeitsverhältnissen lässt sich ein eigentümlicher Zuwachs an formeller Freiheit (etwa in der Gestaltung von Arbeitszeit) in Verbindung mit einer stärkeren Unterordnung unter ökonomische Fremdbestimmungen feststellen. Dabei sei es nicht ausreichend, den Schwund traditioneller Arbeitsstrukturen einfach nur als "Auflösungsprozess" darzustellen. Vielmehr stelle dieser eine "Neuregulierung" dar, welcher durch politische "neue Formen 'Grenzen'" zugunsten der abhängig Beschäftigten gesetzt werden müssten. Mario Candeias näherte sich der gleichen Problematik aus einer anderen Richtung: er verdeutlichte, wie der neoliberale modus operandi linke Kritik am Fordismus und politische Forderungen an diesen in die eigene Deregulierungspraxis integriert (Stichwort: "passive Revolution"). Die Konsequenz kann nicht sein, diese "alten" Positionen einfach zu vergessen, vielmehr gilt es, einen neuen gesellschaftspolitischen Kontext für sie zu entwickeln: Die Balance zwischen solchermaßen "verallgemeinerbaren Projekten" und der "Anerkennung von Differenz" ist vermutliche der prägende Widerspruch für die Entstehung einer "post-neoliberalen" Agenda.

Boris Friele beschäftigte sich kritisch mit der Denkrichtung des Radikalen Konstruktivismus, in welcher es angelegt ist, dass die Welt in plurale, nicht weiter hinterfrag- und kritisierbare "Subjektivitäten" zerfällt ("Jeder hat seine Wahrheit"). Der Referent begründete die relative Stärke dieser Denkrichtung anhand ihrer Konvergenz mit neoliberalen Alltagspraxen und reklamierte demgegenüber das Festhalten an einem philosophischen Wahrheitsbegriff. Daraus entwickelte sich in der Diskussion eine Kontroverse, die nicht vollständig beigelegt werden konnte und uns vermutlich auch auf den Nachfolgetagungen beschäftigen wird.

Christina Kaindl umriss am Beispiel der Kritischen Psychologie die aktuellen Anforderungen an subjektwissenschaftliche Theorien menschlichen Handelns. Ihr Schwerpunkt lag darauf, wie die Gleichzeitigkeit von Fremd- und Selbstbestimmung auf der Ebene der Erfahrungen und des Handelns der jeweils Einzelnen denk- und politisch bearbeitbar gemacht werden können.

Für Catharina Schmalstieg sind Gewerkschaften die wichtigsten "zivilgesellschaftlichen Akteure in den kapitalistischen Demokratien". Warum jedoch dieser Anspruch ständig scheitert und immer wieder in neuen Anläufen probiert werden muss, verdeutlichte sie anhand ihrer eigenen Untersuchung zu aktuellen Organizing-Kontroversen in den USA in Verbindung mit einem tiefen Blick in die Geschichte der US-Gewerkschaften: Der prinzipiell universalistische Anspruch gerät immer wieder in Konflikt mit einer Beschränkung der Repräsentation auf jeweils dominante Beschäftigtengruppen, wodurch u.a. Rassismus und ungleiche Geschlechterverhältnisse gestützt würden.

Jörg Nowak beschäftigte sich mit der Frage, wie sich die "Vervielfältigung oppositioneller politischer Identitäten" neuer sozialer Bewegungen in post-modernen und post-marxistischen Theorieansätzen widerspiegelt. Anhand der Ansätze von Negri/Hardt, Slavoj Zizek und Laclau/Mouffe verdeutlichte er die Spannung zwischen demokratischen und antikapitalistischen ("antagonistischen") Kämpfen und Denkansätzen.

Am vorletzten Seminartag kamen Alex Demirovic und Frieder-Otto Wolf noch einmal explizit auf das Thema "Dialektik in der Philosophie" als eine Art Reprise zu sprechen. Demirovic verdeutlichte insbesondere den Unsinn, welcher in der marxistischen Tradition häufig mit dem Begriff "Dialektik" getrieben wurde: Etwa in Form unvermittelten Bezugs von Ex-Kathedra-Formeln ("Gesetze") auf soziale Phänomene, deren Widersprüche auf diese Weise gerade nicht begriffen würden. Umgekehrt mache aber gerade die Analyse solcher Phänomene dialektische Denkformen unverzichtbar. Frieder-Otto Wolf insistierte auf der Notwendigkeit einer materialistischen Dialektik, die sich aber "ihrer Grenzen bewusst ist", d.h. auch: keinen weltanschaulichen Charakter annehmen darf. Das verdeutlichte der Referent anhand einer exemplarischen Kritik der Erkenntnisgrenzen des sog. "postmodernen Materialismus" (Callari/Ruccio). "Radikale philosophische Intervention" im Sinne des Referenten ist auch künftig als "wahrheitspolitischer Kampf mit Argumenten" zu verstehen.

Thomas Weber widmete sich den "Elementen einer 'dekonstruktiven' Dialektik bei B. Brecht". Es wurde deutlich, dass das Konzept des epischen (= dialektischen) Theaters, welches auf die Denk- und Widerspruchsfähigkeit des Zuschauers ausgerichtet ist - und dem traditionellen Theater, welches auf die Identifikation des Zuschauers orientiert, entgegen gesetzt wird - auch eine Form politischer Praxis ist.

Am letzten Tag beschäftigte sich Uwe Hirschfeld mit den Widersprüchen Sozialer Arbeit im heutigen Kapitalismus. Diese bewegt sich seit je zwischen den Polen Anpassung/Verwaltung und Handlungsermächtigung/Widerstandsbefähigung der von ihr "betreuten" Subjekte. Diese Widersprüche nehmen aber unter neoliberaler Hegemonie noch mal eine besondere Gestalt an, weil etwa neoliberale Ansätze beanspruchen, dass in ihnen die "Interessen" der Betreuten ("Kunden") noch einmal stärker gewichtet würden. Das widerspiegelt sich auch in kontroversen theoretischen Ansätzen zur Zukunft der Sozialen Arbeit.

Die Auswertungsdiskussion zwischen den TeilnehmerInnen ergab, dass es entgegen zwischenzeitlicher Zweifel gelungen war, zwischen der Vielfalt der präsentierten Annäherungen an das Thema "Dialektik" dennoch den roten Faden der Fragestellungen sichtbar zu machen. So bleiben auch genügend zielgerichtetere Fragen und Kontroversen für weitere Veranstaltungen offen.

Zugehörige Dateien:
Präsentation von Frieder Otto Wolf zu seinem Beitrag "Materialistische Dialektik nach der Postmoderne"Download (111 kb)

Personen:
>Torsten Bultmann

Zum Seitenanfang | Druckversion | Versenden | Textversion