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Klaus Holzkamp

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Hochschulreform und "Bologna-Prozess"

19.09.2003: Politische Forderungen des Bundes demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi) anlässlich des europäischen BildungsministerInnentreffens in Berlin

Kurzfassung

Die Langfassung als PDF-Datei (99kb).

  1. Die Entstehung eines europäischen Bildungsraumes ist als Konsequenz der EUIntegration
  2. ein wünschenswerter und irreversibler Vorgang. Dabei handelt es sich jedoch um einen ergebnisoffenen politischen Prozess, der verschiedene Optionen und Alternativen beinhaltet. Im Widerspruch dazu wird dieser Prozess von der offiziellen deutschen Bildungspolitik in der Regel auf einen Set technokratischer "Sachzwänge" reduziert, bei denen die Einführung von "Kurzstudiengängen" (BA) den größten gemeinsamen Nenner darstellt.
  3. Das Label "Europäisierung" wird in Deutschland benutzt, um Politiken durchzusetzen,
  4. die mit der Entstehung eines europäischen Bildungsraumes nicht unmittelbar zusammen hängen. So werden etwa notwendige Reformen der Studiengänge auf die administrative (kostensparende) Verkürzung des "Massenstudiums" und eine Verstärkung von Kontroll- und Auslesemechanismen gegenüber StudentInnen konzentriert. Dies entspringt nationalen Sonderinteressen einer konservativ-technokratischen deutschen Bildungstradition, welche folglich von den Erfordernissen der europäischen Ebene strikt zu trennen ist.
  5. Im Zentrum des Bologna-Prozesses steht die Studienreform. Der europäische Hochschulraum,
  6. welcher auf diese Weise gemäß Bologna-Deklaration (1999) bis zum Jahre 2010 abgeschlossen werden soll, erfordert mehr als nur eine isolierte Betrachtung von Studienstrukturen. Er benötigt einen stärkeren Vergleich der Hochschulsysteme. Dieser kann deutlich machen, wie verkürzt die deutsche Debatte ist. In die Bewertung einzubeziehen sind etwa die Finanzausstattung, die Personalstrukturen bzw. wissenschaftlichen Beschäftigungs- und Laufbahnverhältnisse ebenso wie die sozialen Bedingungen des Studiums, vor allem die Systeme der Bildungsberechtigungen und der Regelung des Hochschulzugangs.
  7. Der Bologna-Prozess bedeutet weder eine formale Angleichung ("Harmonisierung
  8. ") von Studienangeboten noch die Übernahme eines auswärtigen "Studiensystems " als Blaupause. Abgesehen davon, dass ein "angelsächsisches Modell" nicht existiert und auch eine rein quantitative Angleichung regulärer Studienzeiten "nach unten" in der Bologna-Deklaration gar nicht gefordert wird, geht es vor allem darum, eine Vielfalt von Bildungsangeboten unterschiedlichster wissenschaftskultureller Traditionen vergleichbar und gegenseitig transparent und anschlussfähig zu machen. Dies ist eine logische Konsequenz des Binnenmarktes, durch welchen der Qualifikationstransfer intensiviert wird. Die so zu fördernde Mobilität setzt jedoch gerade Vielfalt voraus. Im entgegen gesetzten Fall, d.h. im Falle einer formalen und qualitativen Nivellierung des Studiums, würden im gleichen Umfang die Motive für Mobilität abnehmen.
  9. Maßnahmen der Studienreform, die durch das Ziel der "Europäisierung" angestoßen
  10. werden, müssen sich am langfristigen gesellschaftlichen Qualifikations- und Wissenschaftsbedarf orientieren. Ihr Ansatzpunkt ist der gesellschaftliche Problemlösungsbezug wissenschaftlicher Bildungsprozesse. In diesem Sinne ist interdisziplinäre Orientierung integraler Bestandteil von Studienreform. Angesichts der Komplexität und Interdependenz von sozialen, ökologischen, ökonomischen und technischen Problemkonstellationen ist ein Denken in abgegrenzten Fächern zunehmend in Frage gestellt. Eine solche Vorstellung von Praxisrelevanz schließt die Möglichkeit von beruflicher Beschäftigung in sich ein, jedoch eine Reduktion von Verberuflichung auf kurzfristige "Marktsituationen", d.h. auf das neoliberale Employability- Konzept, aus. Studienreform ist diesem gegenüber ein genuin politischer Vorgang des ständigen und ergebnisoffenen Abwägens zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Interessen sowohl an der Hochschule als auch in gesellschaftlichen Praxisfeldern, auf welche die jeweiligen Fachrichtungen zielen. Daher kann Studienreform nur in politischen- möglichst demokratischen - Strukturen erfolgen, in denen folgerichtig verschiedene Interessen politisch repräsentiert sind.
  11. Studienreform im Bologna-Prozess muss zu dauerhafter Berufsfähigkeit führen und
  12. lebensbegleitendes Lernen als Kulturauftrag und Rechtsanspruch verwirklichen. Dem widerspricht ein vorherrschender technokratisch reduzierter Ansatz, ein verkürztes Erststudium auf "Grundkenntnisse" und "Schlüsselqualifikationen" zu beschränken und die Verantwortung für darüber hinaus gehende Qualifikationen unter dem Etikett "Life Long Learning" auf die Einzelnen abzuwälzen (Employability-Konzept). Die Befähigung zum lebensbegleitenden Lernen steht hingegen in direkter Relation zum wissenschaftlichen Niveau einer Erstausbildung, welche in dieser Qualität mehr Menschen als bisher zugänglich sein muss. Zweitens muss der Zugang zum Weiterbildungssektor politisch gestaltet, d.h. rechtlich und institutionell abgesichert werden. Drittens schließlich müssen verschiedene Qualifikationsformen, insbesondere berufliche und akademische Bildungswege, lebensbegleitend gegenseitig durchlässig und anschlussfähig gemacht werden. Der Bologna-Prozess kann in diesem Sinne zum europaweiten Abbau von Chancenungleichheit durch Herausbildung eines landesübergreifenden integrierten Tertiären Bildungsbereiches genutzt werden.
  13. Der Bologna-Prozess fordert ein modularisiertes Konsekutiv-Studiums mit einer
  14. transparenten Unterscheidung zwischen graduate- und undergraduate-Abschnitten. Diese Konzeption kann sinnvoll genutzt werden, um a) das Studium stärker interdisziplinär und problemorientiert zu strukturieren und b) die individuelle Entscheidungsfreiheit über den eigenen Bildungsweg gesellschaftlich zu stärken. Das Studium sollte daher künftig durch schwerpunktorientierte zertifizierte Arbeitsabschnitte ("Module") bzw. Praxisphasen gegliedert sein, wodurch auch Unterbrechungen bzw. Wechsel zwischen Berufstätigkeit und Studienphasen während des gesamten Lebens möglich sind. Die Voraussetzung ist allerdings, dass diese jeweiligen Bildungsabschnitte erstens thematisch kombinierbar sind, d.h. in politisch ausgewiesenen übergreifenden wissenschaftsdidaktischen Konzepten wurzeln und zweitens allgemein zugänglich bzw. individuell durchlässig sind. Eine solche Zielsetzung ist unvereinbar mit einem Bachelor-Master-System, welches von Anfang an dem Ziel zusätzlicher "Auslese " und Hierarchiebildungsprozesse untergeordnet ist.
  15. Eine europaorientierte Studienreform ist unter Bedingungen der "Kostenneutralität
  16. " oder gar der Senkung staatlicher Bildungsausgaben nicht möglich! Da der Bologna- Prozess zentral auf eine Verbesserung der Studienbedingungen zielt, ist er personalintensiv. Auch alle offiziellen Bologna-Konzepte der führenden deutschen Wissenschaftsverbände orientieren sich an einem Mehraufwand, der sich insbesondere aus einer deutlichen Verbesserung der Lehr-, Betreuungs- und Beratungsqualität in der ersten Studienphase ergibt. Dieser Mehraufwand kann gerade angesichts einer politisch gewollten Erhöhung der Studierendenquote nicht durch Einsparungen "an anderer Stelle" erwirtschaftet werden, da dies unter dem Strich zu einer Qualitätsabsenkung führen würde. Unter Bedingungen der Knappheit und ständig neu inszenierter "Sparrunden" erstickt jeder politische Reformwille seitens derjenigen, die in den Hochschulen die Reformprozesse tragen sollen. Umgekehrt gilt: Zusätzliche Aufgaben erfordern zusätzliche Mittel.
  17. Im europäischen Hochschulraum muß durch zielgerichtete Maßnahmen sozialer
  18. Absicherung gewährleistet werden, dass unabhängig von gesellschaftlicher Stellung und kultureller Herkunft die Möglichkeiten des Bildungssystems und der Bildungsmobilität von einer wachsenden Zahl von Menschen in Anspruch genommen werden können.

Die Langfassung als PDF-Datei (99kb).

Zugehörige Dateien:
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