Neoliberalismus und Subjekt.
21.09.2004: Gesellschaftliche Anforderungen, subjektwissenschaftliche Perspektiven. Akademie des BdWi, Helle Panke und RLS, 17. bis 21.09.2004, Werftpfuhl bei Berlin
Die neoliberale Ideologieproduktion bezeichnet kein `Überbauphänomen´, so Mario Candeias in seinem Eingangsreferat, sondern fungiert als das organisierende Element einer krisenhaften Transformation aller gesellschaftlichen Verhältnisse. Ihre zentrale Funktion ist das Management des Übergangs zur informationstechnologischen Produktionsweise. Der geschichtliche Block des Neoliberalismus kann sich trotz seiner antisozialen Politik dabei auf aktive und passive Zustimmung stützen, weil er die Interessen subordinierter Gruppen aufnimmt, ihre Ziele allerdings verkehrt. Seine schmalere gesellschaftliche Basis und geringere Kohärenz verleiht zugleich dem Zwang größere Bedeutung. Die Bearbeitung gesellschaftlicher Widersprüche erfolgt dabei durch die Reartikulation des herrschenden Projektes vom konservativ-liberalen über den sozialdemokratischen zum autoritären Neoliberalismus. Doch letztlich produziert die Verdichtung von Widersprüchen Risse in der hegemonialen Apparatur, die angesichts der Verallgemeinerung sozialer Unsicherheit Andeutung eines `Postneoliberalismus´ sichtbar werden lassen könnten. - Klaus Dörre stellte heraus, wie die Neuzusammensetzung der Klassen mit einem neuen Kontrollmodus verbunden ist, der nahe legt, wie die veränderte `soziale Schichtung´ zu begreifen sei. Die marxsche Klassenanalyse ist dabei unverzichtbares Analyseinstrument zur Dekonstruktion des Kontrollmodus; sie leistet vier Dinge: es lassen sich 1. aus den ökonomischen Beziehungen resultierende empirisch fassbare Klassenlagen bestimmen; 2. relationale und dynamische Verhältnisse zwischen Klassen; 3. verweist sie auf außerökonomische politische Herrschaftsformen; und 4. auf eine Perspektive der Aufhebung von Klassen. Besonders im 18. Brumaire wird deutlich, dass deterministische Aussagen aus einem solchen Klassenverständnis nicht abzuleiten sind: aus empirischen Klassenlagen entwickeln sich keineswegs zwangsläufig reale Klassenformierungsprozesse, sofern es bspw. an entsprechenden Kommunikations- und Verkehrsstrukturen mangelt. Die Desartikulation und Spaltung der beherrschten Klassen ist vielmehr der Normalfall, Klassenbewusstsein findet sich eher bei den Herrschenden, die sich zunehmend als transnationale Klassen formieren, während die Prekarisierung der Arbeit die Handlungsfähigkeit der subordinierten Klassen weiter zersetzt, Klassifikationskämpfe innerhalb der Klasse produziert. - Torsten Bultmann widmete sich dem Funktionswandel der Bildung im Zusammenhang mit der Durchsetzung eines neuen Arbeitsregimes, das auf hochqualifizierte Arbeitskräfte angewiesen ist. Dabei werden mit Themen wie dem >selbstorganisierten Lernen<, der Vermittlung von >Lernmethoden< statt kanonisierten Wissens, Früherziehung etc. Forderungen aufgenommen, die im Rahmen kritischer Pädagogik schon seit Jahrzehnten erhoben werden. Jeder Schritt in diese Richtung ist allerdings mit dem Aufbau neuer Hierarchien in der Bildung verbunden und ver-rückt damit die ursprünglichen Intentionen. Eine simple Ablehnung der neoliberalen Bildungsreformen läuft ins Leere, wenn sie die damit verbundenen Widersprüche und Freiräume nicht produktiv machen kann. - Morus Markard zeigte am Beispiel des Eliten-Diskurses, wie im Neoliberalismus neue Hierarchien durch Individualisierung und Naturalisierung von Leistungen begründet und soziale Ungleichheiten legitimiert werden. Der zweite Block widmete sich den neuen Subjektanforderungen in der Arbeit. Für Candeias ist die Durchsetzung eines informationstechnologischen Paradigmas der Produktion im Anschluss an Gramsci verbunden mit der Schaffung eines "neuen Arbeiter- und Menschentypus". Zentral ist die dabei die Repositionierung und Aufwertung des Wissens der unmittelbaren Produzenten in Verbindung mit erweiterten Räumen der Autonomie. Zugleich erreicht die reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapitalverhältnis eine historisch qualitativ neue Stufe: Die Ausbeutung abhängiger Arbeit durch das Kapital wird durch Delegation auf das arbeitende Subjekt in Richtung `Selbstausbeutung´ verschoben. Zwang und Konsens spannen die Subjekte aktiv in die Etablierung neuer Arbeitsformen ein. Zugleich erfolgt eine Neuzusammensetzung des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters: jenseits des alten Proletariats entstehen zwei neue Klassenfraktionen, das Kybertariat und das Prekariat. Die Polarisierung der Klassen soll dabei einen funktionierenden Dienstleistungsmarkt hervorbringen, auf dem ein billiges Angebot ungesicherter Arbeitskräfte auf eine kaufkräftige Nachfrage der `Arbeitskraftunternehmer´ trifft. Die Hartz-Gesetze sorgen mit der Regulation der Niedriglohnarbeit für die Erziehung der Arbeitskräfte an die neuen Anforderungen. - Sven Opitz versuchte mit dem Ansatz Gouvernamentalitätsstudien (GS) die Techniken der Menschenführung im "postfordistischen" Unternehmen zu beschreiben. Tilman Reitz nahm dies zum Anlass, das methodische Vorgehen der GS-Studien in Frage zu stellen: verkürzt würde aus der Analyse von Managementliteratur auf reale Prozesse der Vergesellschaftung in der Arbeit geschlossen. Solche Texte, als Diskurs verstanden, werden mit unmittelbarer gesellschaftlicher Praxis gleichgesetzt. Auch Jan Rehmann schloss sich der Kritik an. Zunächst arbeitete er heraus, was Foucault mit Gouvernamentalität meint, nämlich eine Form, die "Selbstführung der Menschen zu führen", was dem gramscianischen Begriff der Führung nahe komme. Geleistet werde jedoch keine Analyse derselben als vielmehr, wie Manager sich eine solche Führung vorstellen. Außen vor bleibt, wie solche Anrufungen bei den Subjekten auftreffen. Rehmann unterscheidet zwei unterschiedliche Fälle: Sofern die Form der Anrufung in den spezifischen Produktionsverhältnissen möglich ist, Räume eröffnet, haben sie eine organische Bedeutung für die Konstitution und Selbstführung der Subjekte. Sofern die Bedingungen dafür nicht gegeben sind, wirken sie eher subjekt-zerstörend. Ohne Blick für reale Subjekte verfehlen die GS die Widersprüchlichkeit der Verhältnisse und bleiben bei einer oberflächlichen Beschreibung der Phänomene stehen. Sie stützen sich dabei unkritisch auf einen `produktiven´ und `positiven´ Machtbegriff Foucaults, übersehen aber, dass dieser vom Zusammenhang ideologischer Vergesellschaftung abgetrennt und - gestützt auf Nietzsche - essentialistisch "hinter" den gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsstrukturen angesiedelt ist. Insofern sind die GS auch unfähig, Kritik zu formulieren und progressive Elemente aus dem neoliberalen Herrschaftsmodell heraus zu brechen und emanzipativ zu reartikulieren.
Thomas Seibert machte sich an ein "Denken von Subjektivität aus der Dekonstruktion des Subjekts heraus". Er versucht drei zentrale "Problematiken" zu unterscheiden, die zusammen hängen, aber nicht aufeinander reduzierbar sind: das Eingelassensein in Produktionsweisen/Klassenantagonismen (Marx), in die "Produktivität des Lebens" (Nietzsche) und in ein Verhältnis zum eigenen Sich-Verhalten (Kierkegaard). Empire und Multitude begreift er anders als gemeinhin dargestellt nicht als antagonistischen Gegensatz, die Multitude ist vielmehr Teil des Empires im "korrumptiven Zustand". Das Empire setzt die produktiven Potenziale der Multitude ins Werk und korrumpiert letztere durch Spaltungen entlang Klasse, Rasse und Nation. Es geht also um die Dekonstruktion solcher Subjekte und die Rekonstruktion von Subjektivität in der Multitude. Eine solche stehe in einer bestimmten politischen Konstellation, in der keine Klassenfraktion dominant ist, für plurale Kämpfe, die sich auch nicht davor scheuen, die Machtfrage zu stellen. Seibert vergleicht die Multitude mit dem marxschen Begriff des "Proletariats", wie er im Manifest formuliert wurde: als diffuses Milieu, das sich freigesetzt und eigentumslos aus allen Klassen der Bevölkerung rekrutiert. Eine solche "Klasse der Klassenlosen" (Nomaden) versteht er mit Deleuze als gesellschaftliche "Minderheit" auf der Flucht vor der "Konstante der Mehrheit". Mehrheit meint kein quantitatives Maß, sondern ein normalisierendes Dispositiv von symbolischen und Repräsentationsformen. Es gelte, nicht selbst Mehrheit zu werden, sondern diese zu dekonstruieren. Der damit verbundene Exodus, der Ausbruch aus der Welt, symbolisiert auch die Freisetzung des "kommunistischen Militanten" als "Entbundenen", als "Subjektives ohne Subjekt". Ohne es zu wollen, formuliert Seibert damit eine Gegenposition zum gramscianischen organischen Intellektuellen. Der folgende Disput mit Rehmann ging über das Verständnis des Autors, war jedoch an glanzvollen Schlagabtäuschen kaum zu überbieten. - Ironie hält das Subjekt zum Glück auch unter schwierigen Bedingungen in Bewegung. Sie verhindert, so Thomas Barfuss, dass es sich ganz an eine Sache verliert, und sie verleiht dem Konsum eine subversive Note. Sie trägt mitunter aber auch dazu bei, sich einer Konsumweise zu unterwerfen, ohne dies eingestehen zu müssen. In jedem Fall gilt es Bornierungen und moralisierende Gegenbewegungen zu analysieren, um das subversive Potenzial der Ironie freizulegen - amüsant vorgeführt an einigen musikalischen Beispielen und Zitaten.
Der Neoliberalismus hebt Alltagsprobleme und Bedürfnisse sensitiv auf und stärkt Eigenaktivität. Darauf, betont Iris Nowak, kann von links nicht mit der Forderung nach besserer staatlicher Versorgung geantwortet werden. Appellationspolitik macht tendenziell handlungsunfähig. Die neoliberale "Terminkalenderlösungen" alles miteinander zu "vereinbaren", verbleibt wiederum auf der individuellen Ebene. "Vereinbarkeit" bleibt in beiden Perspektiven eine Floskel, weil die Grenzen von Produktion und Reproduktion nicht in Frage gestellt, obwohl sie real durch Prekarisierung der Arbeit und Verunsicherung und Flexibilisierung der Arbeitskraftreproduktion längst aufgelöst werden. Es kann also nicht darum gehen, einfach die Grenzen wieder zu verfestigen (auch wenn dies taktisch u.U. hilfreich sein könnte), sondern die Frage nach der Lebensweise in die Gesellschaft zu tragen: "Wie wollen wir leben und arbeiten?" - Nancy Wagenknecht machte sich an eine Analyse von Sexualitäten im Neoliberalismus und formulierte eine Kritik der "Heteronormativität" in einer Verbindung von Marxismus, Poststrukturalismus und Psychoanalyse. - Andreas Merkens erinnert, dass Gramsci Hegemonie als wesentlich pädagogisches Wechselverhältnis von Führenden und Geführten, Lehrenden und Lernenden begreift, so dass unmittelbarer Zwang in den Hintergrund treten kann. Auch die Umbrüche gegenwärtiger Herrschafts- und Produktionsformen sind maßgeblich durch pädagogische Semantiken und Lebensentwürfe ("Wissensgesellschaft", "lebenslanges Lernen") überformt. Dabei bewirken solche neoliberalen Anrufungen die marktkonforme Zurichtung der Subjekte, eröffnen aber auch neue Praxisfelder des Widerspruchs und der kritischen Bewusstseinsbildung. Christina Kaindl rückte das Verhältnis von subjektiver Bestimmung und objektiver Bestimmtheit ins Zentrum subjektwissenschaftlicher kritischer Theorie. Sie kritisiert eine Analyseanordnung, die Prozesse der Subjektivation von "außen" erforscht, zielt vielmehr im Sinne einer eingreifender Forschung auf eine Einbeziehung der "Beforschten" in den Forschungsprozess. Es geht darum Widersprüche zu benennen, alternative Deutungsmöglichkeiten zu eröffnen, von einem "Denken in den Formen" zum "Denken über die Form" zu gelangen, um von Formen restriktiver Handlungsfähigkeit zu Formen verallgemeinerter Handlungsfähigkeit zu gelangen und damit die gesellschaftliche Anordnung selbst als verfügbare begreifbar zu machen. Die Frage nach Widerstandsbedingungen zog sich wie ein roter Faden durch die Diskussionen. Jörg Nowak schließlich griff zwei Strategien gegen Prekarisierung und Sozialabbau auf: zum einen das Konzept einer sozialen Infrastruktur von Hirsch, das durch eine allgemeine und kostenlose Bereitstellung von öffentlichen Gütern und finanzielle Grundsicherung den Existenzdruck von den Subjekten nehmen soll. Allerdings bleibt unklar, wer die Subjekte zur Durchsetzung einer solchen Politik sein sollen (vermutlich die globalisierungskritische Bewegung). Das Konzept reagiert zwar auf die Umbrüche der Produktionsweise, deren Produktivkraftentwicklung zugleich Millionen Arbeitskräfte freisetzt, die Arbeitsverhältnisse selbst werden als Kampffeld für die Zukunft jedoch dethematisiert. Zum anderen diskutiert Nowak die Strategie einer Autonomie der Gewerkschaften von Deppe, die sich stärker von alten Bindungen an sozialdemokratische/ sozialistische Parteien lösen und die Interessen von Prekarisierten, Bewegungen etc aufnehmen sollen. Wie selbstverständlich werden dabei die existierenden Gewerkschaften als strategisches Subjekt gesetzt, ohne die Grundlagen einer solchen Politik angesichts wachsender Spaltungen zwischen verschiedenen Fraktionen der Arbeitenden zu berücksichtigen. Beide Ansätze gelte es daher nicht gegeneinander zu diskutieren, sondern sie müssten vermittelt werden, um über marginalisierte Opposition hinaus zu kommen.
Die ca. 60 Teilnehmer wurden durch ein enges Programm getrieben. Die Struktur der Akademie ermöglichte jedoch, dass sich die einzelnen Ansätze und Positionen aufeinander beziehen, die Teilnehmer immer wieder Anknüpfungspunkte entdecken konnten. Zugleich wurde darauf verzichtet, Dissenz und Kritik politisch korrekt zu ummanteln. Unterschiede heraus zu arbeiten ist letztlich die produktive Voraussetzung zur Formulierung von Gemeinsamkeiten jenseits einer unverbindlichen Pluralität. Eine mehr als gelungene Tagung.
Mario Candeias (Berlin)