Tagungsbericht: Identität und Klasse. Debatten um verbindende Klassenpolitik und Intersektionalität
17.12.2021: Herbstakademie (Hybrid) von BdWi, FIB, fzs und RLS, 25.-28.11.2021 in Werftpfuhl
Unter dem Leitthema "Identität und Klasse. Debatten um verbindende Klassenpolitik und Intersektionalität" fand vom 25. November bis 28. November 2021 in Werfpfuhl die gemeinsame Herbstakademie des Bunds demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi), der Forschungs- und Informationsstelle beim BdWi (FIB), dem freien zusammenschluss von student*innenschaften (fzs) und der Rosa Luxemburg Stiftung (RLS) statt. Erstmals in der Geschichte der Herbstakademie wurde ein hybrides Format gewählt: Neben der Teilnahme vor Ort in Werftpfuhl bestand auch die Möglichkeit, sich online zur Tagung zuzuschalten. Über diese beiden Wege nahmen insgesamt 35 Menschen an der Herbstakademie teil.
Im Eröffnungsvortrag "Kontroversen um Identitätspolitiken in Hochschule, Feuilleton und Aktivismus" erläuterten Jens Kastner und Lea Susemichel, dass das Schlagwort der "Identitätspolitik" heute oft verwendet wird, um emanzipatorische Kämpfe zu diskreditieren und zu delegitimieren. Aus Sicht der beiden Referent*innen steht (linke) Identitätspolitik aber keineswegs im Widerspruch zu KIassenpolitiken; vielmehr seien diese immer auch selbst Identitätspolitiken. Abschließend machten sich die beiden für das Konzept einer unbedingten Solidarität stark, die sich nicht in einer Parteinahme für die Gleichen und Ähnlichen erschöpft, sondern Differenz als Voraussetzung für Solidarität anerkennt.
Jette Hausotter und Kathrin Ganz stellten in ihrem Beitrag "Intersektionalität: Eine verbindende Perspektive aus Identitäts- und Klassenpolitik" mit dem intersektionalen Mehrebenansatz ein Analyse-Modell vor, das Fragen der Identität und Repräsentation mit feministisch-materialistischer Gesellschaftstheorie verknüpft. Die beiden widersprachen der oft konstatierten Gegensätzlichkeit von Klassenunterdrückung auf der einen Seite und kultureller Unterdrückung auf der anderen Seite. Stattdessen ist Herrschaftsverhältnissen wie Klassismus, Rassismus, Ableismus und Heteronormativismus immer auch eine ökonomische Dimension eingeschrieben.
Zuzana Kobesova warf mit ihrem Vortrag "Chancen und Grenzen des Klassismus-Konzepts" einen kritischen Blick auf die soziale Zusammensetzung im tertiären Bildungsbereich und analysierte, inwiefern sozialwissenschaftliche Schicht- und Klassentheorien partiell Klassismus reproduzieren. Am Beispiel verschiedener Studien problematisierte Kobesova die Selbstreferentialität und Objektivierung des Forschungsgegenstands "soziale Herkunft" entlang von Kategorisierungen wie Bildungsniveau und Berufspositionen als Indikator für sozioökonomische Verortungen.
Nicole Gohlke zeichnete in ihrem Input zu "Klassenpolitik und Akademisierung" nach, wie sich die Gruppe der lohnabhängigen Beschäftigung in Deutschland in den zurückliegenden Jahrzehnten in Folge der Bildungsexpansion und einer Ausweitung des Dienstleistungssektors akademisiert hat, während deren Arbeitsbedingungen zugleich prekarisiert wurden und akademische Abschlüsse ihre Exklusivität verloren. In Anbetracht dieser Entwicklung plädierte Gohlke für eine differenziertere Analyse der Akademiker*innenschaft, da ein Studienabschluss allein heute keine Führungsposition und sozialen Aufstieg mehr garantiere, und für eine stärkere Solidarität zwischen unterschiedlichen Gruppen der lohnabhängigen Beschäftigten.
Ines Schwerdtner erörterte unter dem Titel "Warum Klassenpolitik feministische Analysen braucht", dass Sorgearbeit als Reproduktionsarbeit gleichwertig und in Verschränkung mit Lohnarbeit zusammengedacht werden muss. Infolge der Corona-Krise sind es vor allem feminisierte Berufe, die von der Pandemie besonders betroffen und durch zusätzliche Sorgearbeit überlastet sind. In der anschließenden Diskussion warnte Schwerdtner vor der Gefahr der Reduzierung des Klassismus-Begriffs auf Antidiskriminierungspolitik und plädierte stattdessen für feministisch-marxistische Analysen, die Klassenkonflikte in den Blick nehmen.
Julia Dück führte in ihrem Referat zu "Sorgekämpfe im Krankenhaus - Oder: Was Kapitalismus und Geschlecht mit Pflegestreiks zu tun haben" aus, wie Ökonomisierungsprozesse im Gesundheitsbereich zu einer Krise der sozialen Reproduktion führten, die sich in einem Mangel an Sorgetätigkeiten und einer Erschöpfung des Pflegepersonals niederschlagen. Während vermeintlich weibliche Tätigkeiten in der Pflege abgewertet wurden, gewannen - unter dem Schlagwort der "Professionalisierung" - männlich konnotierte Tätigkeiten in der Gesundheitsversorgung an Bedeutung. Proteste wie die der Berliner Krankenhausbewegung, welche für bessere Arbeitsbedingungen in einem feminisierten Berufsfeld streiten, müssen daher ebenso als feministische wie als Klassenkämpfe gegen die neoliberale Reorganisation des Gesundheitswesens begriffen werden.
Unter dem Titel "Wissenschaftsfreiheit im Konflikt: Zum Verhältnis von Cancel Culture, Identitätspolitik und intellektueller Redlichkeit" legte Daniel Meyer anhand der beiden "Netzwerke Wissenschaftsfreiheit" die Unterschiede zwischen einem libertären Wissenschaftsverständnis einerseits und einer stärker auf Prinzipien sozialer Gerechtigkeit fußenden Auffassung dar. Unter Verweis auf Aladin El-Mafaalanis "Integrationsparadox" konstatierte er, dass die zunehmende Teilhabe marginalisierter Gruppen zugleich zu stärkeren Abwehrkämpfen gegenüber Antidiskriminierung führen. Meyers Aussage, dass es an deutschen Hochschulen Cancel Culture gebe, die sich nicht auf Einzelfälle beschränke, rief ebenso wie seine Gleichsetzung von Cancel Culture mit Identitätspolitik eine kontroverse Diskussion mit den Zuhörer*innen hervor.
Fabian de Planque stellte in seinem Input "Solidarische Einwanderungsgesellschaft: "Bildungsausländer*innen" im deutschen Hochschulsystem" die Arbeit des Bundesverbands ausländischer Studierender sowie die strukturellen Hürden vor, auf die internationale Studierende an deutschen Universitäten stoßen. Neben Diskriminierungserfahrungen an Hochschulen und sprachlichen wie fachspezifischen Zulassungsvoraussetzungen für das Studium betrifft dies insbesondere Fragen der Studienfinanzierung sowie des Aufenthaltsrechts, wobei sich die Gruppe der Nicht-EU-Studierenden mit deutlich restriktiveren staatlichen Vorgaben als Studierende aus dem EU-Ausland konfrontiert sieht.
In seinem Beitrag "Antisemitismus als Leerstelle" erörterte Sebastian Zachrau den qualitativen Unterschied zwischen Antisemitismus und den Unterdrückungsdimensionen "race", "class" und "gender". Aus diesem Grund sei Antisemitismus schlecht in Intersektionalitätskonzepte integrierbar und werde über einen ideologiekritischen Ansatz besser erfasst.
Zoe* Steinsberger erläuterte in dem Vortrag "Prekarisierende Transitionen, privatisierende Einschlüsse und ambivalente Praktiken kollektiver Sorge. Überlegungen zu Trans und Klasse" verschiedene Phänomene von trans Prekarität. Insbesondere transfeminine Personen sind häufiger von Erwerbslosigkeit, instabilen Erwerbsbiografien und Einkommensverlusten im Zuge der Transition betroffen und zusätzlich stärker durch Reproduktionsverhältnisse belastet als cis Personen. Neben diesen sozioökonomischen Aspekten leiden trans Personen auch unter verweigerter bzw. prekärer Anerkennung. Steinsberger entwarf in Anbetracht dessen einen transfeministischen Klassenbegriff, der kulturelle und ökonomische Unterdrückungsdimensionen miteinander verschränkt.
In der Abschluss-Debatte unter der Leitfrage "Was tun? Antidiskriminierung als Herausforderung für Hochschulpolitik" diskutierten die Tagungsteilnehmer*innen die nötigen Voraussetzungen und möglichen Fallstricke für eine breitere Partizipation marginalisierter Gruppen. Einigkeit bestand darin, dass der Abbau verschiedener Diskriminierungs- und Unterdrückungsdimensionen immer auch einhergehen muss mit verbindenden Klassenkämpfen. Außerdem wurde erneut die Frage aufgegriffen und kontrovers debattiert, inwiefern Antisemitismus Bestandteil von intersektionalen Modellen und Praxen sein kann bzw. bereits ist.
Tagungsübersicht:
Donnerstag. 25.11.
14:00 - 14:30 Uhr: Begrüßung, Vorstellung, Einstieg in die Thematik
14:30 - 16:00 Uhr: Eröffnungsvortrag: PD Dr. Jens Kastner (Akademie der bildenden Künste Wien) & Lea Susemichel (an.schäge. Das feministische Magazin): Kontroversen um Identitätspolitiken in Hochschule, Feuilleton und Aktivismus
16:00 - 18:00 Uhr: Jette Hausotter (HTW Berlin) & Kathrin Ganz (Universität Hamburg): Intersektionalität: Eine verbindende Perspektive aus Identitäts- und Klassenpolitik
Freitag, 26.11.
09:00 - 10:30 Uhr: Mag.a Zuzana Kobesova (Universität Wien): Chancen und Grenzen des Klassismus-Konzepts
11:00 - 12:30 Uhr: Nicole Gohlke (MdB, hochschul- und wissenschaftspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE im Bundestag): Klassenpolitik und Akademisierung
14:00 - 15:30 Uhr: Ines Schwerdtner (Jacobin Magazin): Warum Klassenpolitik feministische Analysen braucht
16:00 - 18:00 Uhr: Julia Dück (Rosa Luxemburg Stiftung): Sorgekämpfe im Krankenhaus - Oder: Was Kapitalismus und Geschlecht mit Pflegestreiks zu tun haben
Samstag, 27.11.
09:00 - 10:30 Uhr: Daniel Meyer (Universität Köln): Wissenschaftsfreiheit im Konflikt: Zum Verhältnis von Cancel Culture, Identitätspolitik und intellektueller Redlichkeit
11:00 - 12:30 Uhr: Fabian de Planque (Bundesverband ausländischer Studierender): Solidarische Einwanderungsgesellschaft: "Bildungsausländer*innen" im deutschen Hochschulsystem
15:00 - 16:00 Uhr: Sebastian Zachrau (freier zusammenschluss von student*innenschaften): Antisemitismus als Leerstelle intersektionaler Theorie und Praxis
16:00 - 18:00 Uhr: Zoe* Steinsberger (Universität Innsbruck): Prekarisierende Transitionen, privatisierende Einschlüsse und ambivalente Praktiken kollektiver Sorge. Überlegungen zu Trans und Klasse
Sonntag, 28.11.
9:00 - 12:00 Uhr: Abschluss-Debatte: Was tun? Antidiskriminierung als Herausforderung für Hochschulpolitik