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Klaus Holzkamp

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Tagungsbericht: Nach der Krise - Vor der Krise? Die Coronapandemie und ihre Folgen für Gesellschaft und Hochschule

09.12.2020: Digitale Herbstakademie von BdWi, FIB, fzs und RLS, 27.-29.11.2020

Unter dem Titel "Nach der Krise - Vor der Krise? Die Coronapandemie und ihre Folgen für Gesellschaft und Hochschule" fand vom 27. November bis 29. November 2020 die gemeinsame Herbstakademie des Bunds demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi), der Forschungs- und Informationsstelle beim BdWi (FIB), dem freien zusammenschluss von student*innenschaften (fzs) und der Rosa Luxemburg Stiftung (RLS) statt.

In unserer gemeinsamen Herbstakademie wollten wir aktuelle Entwicklungen analysieren und gemeinsam Strategien zur Verteidigung und Weiterentwicklung einer demokratischen Gesellschaft entwickeln. Dazu trugen insgesamt neun Inputs bei, die aus verschiedenen Perspektiven Verlauf und Folgen der Coronakrise nachzeichneten und zur Diskussion anregten. Leider blieb die Teilnahme an den Debatten begrenzt - insgesamt nahmen 40 Kolleg*innen an der Herbstakademie teil (obwohl erheblich mehr Anmeldungen vorlagen), eine relativ hohe Fluktuation führte aber zu recht unterschiedlichen Teilnahmezahlen der einzelnen Parts.

Einleitend erörterte Thomas Sablowski (RLS, BdWi) mit seinem Vortrag "Corona und die Vertiefung der Europa-Krise", dass der Corona-bedingte Wirtschaftseinbruch in Europa auf das bereits seit langem bestehende Nord-Süd-Gefälle in der EU trifft, das nicht zuletzt auch aus den spezifischen staatlichen Widersprüchen der Integration im europäischen Binnenmarkt resultiert. Die noch immer fortwirkenden Spuren der Eurokrise werden nun überlagert durch eine Pandemie-bedingte Finanzkrise, die insbesondere diejenigen EU-Staaten überdurchschnittlich hart trifft, welche bereits durch die Eurokrise schwer belastet wurden. Kontrovers wurde dann diskutiert, ob mit der Krisenregulation ein Ende des Neoliberalismus verbunden sei oder nicht.

Katharina Schramm (FU Berlin, Die Linke.SDS) ging in ihrem Input "Ende der Austerität? Corona und die ‚Schwarze Null‘" der Frage nach, ob die gegenwärtige Finanzpolitik in Deutschland zur Abmilderung der Corona-Folgen ein Ende der Austeritätspolitik markiert. Die Auflage kreditfinanzierter Corona-Hilfspakete durch die Bundesregierung bedeuten ihrer Ansicht nach aber keine Abkehr von der Politik der "schwarzen Null", sondern sind über eine entsprechende Ausnahmeregelung in der grundgesetzlich verankerten Schuldenbremse abgedeckt. Schramm resümierte mit Verweis auf die Wirtschaftskrise 2007ff., dass massive Staatseingriffe zur konjunkturellen Stabilisierung keine Neuheit und daher auch keinen Bruch mit neoliberaler Wirtschaftspolitik darstellen.

Mit seinem Vortrag "Die Dynamisierung der Vielfachkrise durch Corona" erläuterte Alex Demirović (Uni Frankfurt, BdWi, RLS) anhand seines Konzepts der (ökonomischen, sozialen, ökologischen) Vielfachkrise, wie sich die bereits bestehenden teils reziproken, teils unabhängig zueinanderstehenden Krisendynamiken im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie weiter vertiefen. Diese Verstärkungskreisläufe gelte es zu durchbrechen. Mit Blick auf die Rolle der Wissenschaften im Umgang mit der Pandemie plädierte Demirović für den Erhalt einer wissenschaftlichen Infrastruktur, die kritische wissenschaftliche Kontroversen und Suchbewegungen zulässt, und forderte eine gesellschaftliche Debatte zur Frage der "Systemrelevanz".

Andreas Fisahn (Uni Bielefeld) beleuchtete in seinem Beitrag "Bedrohung von Grundrechten und Demokratie?", in welchem Ausmaß und auf welcher juristischen Grundlage Grundrechte im Zuge der Pandemie-Bekämpfung eingeschränkt wurden. Die Gefahr eines Abrutschens in ein autoritäres Regime infolge der temporären Grundrechtseinschnitte sah Fisahn nicht. Aber er monierte die mangelnde Einbindung der Parlamente beim Beschluss von Corona-Maßnahmen und warnte vor einem Gewöhnungseffekt an ein entparlamentarisiertes "Regieren im Ausnahmezustand" mit einem Machtzuwachs für die Exekutive über Sonderregelungen und kurzfristige Rechtsanpassungen.

Paula-Irene Villa Braslavsky (LMU München) referierte über "Gender und Politik: Krisenpolitik der starken Männer?" mit einem gendertheoretischen Zugang zur Corona-Krisenpolitik. Die gegenwärtige Corona-Politik sei keine "Politik der starken Männer", sondern vielmehr geprägt durch einen vergeschlechtlichten Dezisionismus und ein Prekär-Werden der Trennung von Natur und Gesellschaft. Villa plädierte zudem für einen sehr weit gefassten Care-Begriff, der nicht begrenzt ist auf den Menschen, sondern alles Lebendige in seiner Vernetztheit und seinen nicht autonom zu befriedigenden Bedürfnissen umfasse.

Gudrun Hentges (Uni Köln) und Gerd Wiegel (Referent für Rechtsextremismus/Antifaschismus der Bundestagsfraktion DIE LINKE) zeichneten in ihrem Vortrag "Geländegewinne in der Krise? Instrumentalisierung der Corona-Pandemie durch die extreme Rechte" den wechselhaften Umgang der AfD als parlamentarischer Arm der extremen Rechten mit der Corona-Pandemie nach. Die Beiden arbeiteten den Positionswechsel der Partei heraus, die zu Beginn der Pandemie deutlich restriktivere Maßnahmen von der Bundesregierung forderte und sich dabei als "Kümmererpartei" und als Teil einer "Allparteienkoalition" zu inszenieren versuchte, während die Partei mit fortschreitendem Pandemiegeschehen zunehmend den verschwörungsideologischen Argumentationsmustern der Querdenken-Bewegung folgt.

Der Sozialwissenschaftler und Publizist Gerhard Hanloser skizzierte unter dem Titel "Coronaleugner? Verschwörungstheoretiker*innen? Querfront? Wer demonstriert gegen die Lockdown-Maßnahmen der Bundesregierung?" die Entstehung und die politischen und personellen Hintergründe der Querdenken-Bewegung nach. Hanloser zufolge greife es zu kurz, die Bewegung ausschließlich als Tummelplatz der politischen Rechten und von Verschwörungsideolog*innen zu begreifen. Vielmehr bestehe derzeit eine Leerstelle linker, gesellschaftskritischer Stimmen in der Debatte um den politischen Umgang mit der Pandemie, welche die (extreme) Rechte für ihre Mobilisation nutzen könne. Umstritten blieb seine These, dass von einer "Querfront" keine Rede sein könne.

Francis Seeck (Hochschule Neubrandenburg) stellte mit dem Referat "Auswirkungen der Coronapandemie auf trans, nicht-binäre und queere Personen und Räume" die Ergebnisse einer ethnografischen Studie zur Sorgearbeit queerer Personen vor. Während die Debatten um die Folgen der Corona-Krise auf Care-Arbeit häufig cis- und heteronormativ geprägt sind, ist queere Infrastruktur infolge der Krise stark gefährdet. Für trans, nicht-binäre und queere Personen, die bereits vor der Pandemie überproportional in prekären Verhältnissen lebten, verschärfen sich Isolation und Prekarität durch die Krise noch weiter. Seeck thematisierte zudem, dass es zum Teil auch innerhalb linker und schwul-lesbischer (Care-)Strukturen zu ableistischen, klassistischen und transfeindlichen Ausschlüssen kommt.

Abschließend erläuterte Mirko Broll (LMU München) unter dem Titel"‚...das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce‘ - Solidarität in Europa"die Auswirkungen der europäischen Finanzpolitik infolge der Eurokrise auf das griechische Gesundheitswesen. Broll kritisierte die diskursive Verknüpfung von Austeritätspolitik mit (vermeintlicher) Solidarität. Infolge der Corona-Pandemie profitiert der private Gesundheitssektor in Griechenland, wohingegen das öffentliche Gesundheitswesen massiv unterfinanziert ist und überlastet ist, sodass ein Teil der Gesundheitsversorgung nur noch über ehrenamtlich organisierte Solidarische Apotheken und Praxen abgedeckt werden kann.

In der Abschluss-Debatte zur Herbstakademie wurde zum einen diskutiert, wie die Vielfachkrisen-Dynamiken durchbrochen werden könnten. Zum anderen wurde auch noch einmal der Bereich der Hochschulen unter Corona-Bedingungen in den Blick genommen und kontrovers diskutiert, ob und wie Gesundschutz in Pandemie-Zeiten für Hochschulangehörige mit dem Bedürfnis nach Präsenzbetrieb an Hochschulen als Voraussetzung für die demokratische Erfahr- und Gestaltbarkeit von Hochschule und Wissenschaft in Einklang zu bringen sind.

Die Fragestellungen der Herbstakademie werden auch im Themenschwerpunkt von "Forum Wissenschaft" 1/2021 aufgegriffen und dort in schriftlicher Form nachzulesen seien. Einige Inputs der Veranstaltung werden demnächst als Aufzeichnung in audiovisueller Form online nachzuschauen bzw. -hören sein. Nähere Infos werden wir zeitnah mitteilen.

Zugehörige Dateien:
Forum Wissenschaft 1/2021: Nach der Krise. Vor der Krise? Die Coronapandemie und ihre FolgenDownload (3483 kb)

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