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Klaus Holzkamp

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Hochschulen in der "Wissensgesellschaft"

15.03.2005: Vom adäquaten Umgang mit dem Ende der Exklusivität

  
 

Forum Wissenschaft 1/2005; Titelbild: Museum der Arbeit/Reemtsa Fotoarchiv

Die Funktion der Hochschulen und ihr Selbstverständnis waren zwar gesellschaftlich nie homogen definiert. Gesellschaftliche Umbrüche wie die Höherbewertung von Wissen als wirtschaftlicher Standortfaktor produzieren freilich bei den unterschiedlichen Gruppen Beteiligter und Betroffener auch fragwürdige strategische Selbstverständnisse. Robert Erlinghagen lehnt drei ab und schlägt pragmatisch ein viertes vor: gesellschaftliche Nützlichkeit wissenschaftsadäquat zu konzipieren.

Vor gut 130 Jahren haben zwei kluge Köpfe eine Entwicklung beschrieben, die aktuell im Wissenschaftssystem ein neues Stadium erreicht: "Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt."1 Ob man es nun begrüßt oder beklagt: In der Tat wird derzeit so kräftig wie lange nicht mehr am vermeintlichen "Elfenbeinturm" gesägt.

Was Marx und Engels schon zu ihren Lebzeiten bemerkten, wurde durch zwei gegenläufige Strömungen verzögert: Auf der einen Seite durch die Systemlogik der Scientific Community, in der nicht Geld, sondern Reputation das entscheidende Erfolgskriterium ist (Niklas Luhmann). In dieser Scientific Community stehen gewachsene konservative Strukturen der vollständigen Durchdringung der Hochschulen mit Verwertungsinteressen entgegen: z.B. Ordinarien, Lehrstühle, Peer Groups, die Konkurrenz über Exzellenz anstelle von Kapital oder auch elitäres und (männer-) bündisches Denken. Auf der anderen Seite stehen kritische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie studentische Protestbewegungen, die die teilweise undemokratischen, autoritären Strukturen dieser Scientific Community und einer Transformation der Hochschulen nach Verwertungsinteressen gleichermaßen ablehnen - und manchmal schon die Frage nach Effektivität, Effizienz und den Kosten ihrer Arbeit als Anfang vom Ende wissenschaftlicher Freiheit und emanzipatorischer Bestrebungen interpretieren.

Nun scheint sich in Deutschland, gewissermaßen über alle Widerstände hinweg, eine neue Phase abzuzeichnen. Hochschulen haben ihre Exklusivität verloren. Trotz Exzellenzanspruch, Elitediskurs und Benachteiligung bildungsferner Schichten beim Hochschulzugang: Sie sind mitten in der Gesellschaft angekommen. Denn plötzlich stehen sie unter dem ständigen Druck, ihre Effektivität und Effizienz nachweisen zu müssen - und bei schlechtem Abschneiden drohen ernste Konsequenzen.2 Es stellt sich die dringende Frage, wie mit dieser "Säkularisierung" des Hochschulsystems sinnvoll umgegangen werden kann.

Die Situation scheint paradox: Bildung und Forschung werden als hohe Güter moderner "Wissensgesellschaften"3 gefeiert, doch viele Hochschulen befinden sich in einer Identitätskrise und sehen sich erheblichen Verwerfungen bezüglich Umfeldbedingungen und Zielgruppen ausgesetzt. Ulrich Beck unterscheidet für die Universitäten zwei weit verbreitete Ansätze zur Überwindung dieser Situation:4

  • einen neoliberalen, der "die Universität als Weltmarkt-Universität nach dem Vorbild transnational agierender Unternehmen" ummodelt - und damit den vor 130 Jahren erstmals beschriebenen Weg der Kapitalisierung fortsetzt,5
  • einen nostalgischen, der den Status Quo erhalten will und seine "Rechtfertigung aus der Kritik der neoliberalen Agenda" schöpft - die heutzutage konservative Variante des Widerstands.

Beck stellt beiden einen eigenen dritten Ansatz entgegen: Humboldt 2, die Neubegründung der Universität als "Schule der Weltbürgerlichkeit", seine Variante einer emanzipatorischen Gegenströmung.

Ein allgemein gültiger visionärer Anspruch an Universitäten oder gar an alle Hochschulen lässt sich kaum noch durchhalten; Skepsis ist daher gegenüber allen drei Entwürfen geboten. Ich schließe mich deshalb Ulrich Teichlers Aufforderung an: "Die Hochschulen schaffen sich selbst größere Gestaltungschancen, wenn sie, statt zwischen Anpassungs- und Freiheitspostulaten fruchtlose Grundsatzdiskussionen zu führen, den wachsenden Anspruch auf gesellschaftliche Nützlichkeit im Prinzip aufnehmen, aber die Folgerungen daraus wissenschaftsadäquat ‚ausbuchstabieren’".6

Im Folgenden skizziere ich einige Überlegungen aus der Sicht eines Organisationsberaters. Die zentrale These lautet: Erst durch die Verwerfungen in ihrem Umfeld sind die Hochschulen als Systeme stark irritiert worden. Sie haben es bislang aber nur in den seltensten Fällen vermocht, sich als Ganzes auf die Veränderungen einzustellen. Der wissenschaftsadäquate Weg könnte die Transformation in lernende Organisationen7 sein, in denen die Irritation gewissermaßen als ständiger Begleiter in das System eingebaut ist. Am Ende stünden dann Hochschulen, die sich als lernende Kompetenz- und Service-Netzwerke teil-autonomer Institutionen begreifen.

Veränderungsgründe

Zur Verdeutlichung der Trends und Umbrüche, von denen Hochschulen derzeit durchgerüttelt werden, sollen einige allgemeine und wissenschaftsimmanente Veränderungstreiber dargestellt werden. Der oft beklagte Mangel öffentlicher Finanzmittel für Bildung und Forschung ist dabei lediglich als ein Symptom, nicht als Ursache des Wandels zu begreifen.

Wichtigste allgemeine Veränderungstreiber sind die Effekte der Globalisierung. Erstens führt die Verschärfung des wirtschaftlichen Wettbewerbs in hoch industrialisierten Staaten dazu, dass noch stärker als bisher die Wissensintensität der Wirtschaftsprozesse und gesellschaftliche Innovationsfähigkeit die Voraussetzungen für einen hohen Lebensstandard darstellen. Produkte, Verfahren und Dienstleistungen müssen nicht nur qualitativ hochwertig, sondern auch neuartig bzw. innovativ sein, um sich gegen preisgünstige Konkurrenz durchzusetzen. Dies erfordert wiederum eine entsprechende Aufnahmefähigkeit der Gesellschaft für Innovationen. Mit anderen Worten: Innovative Produkte und Dienstleistungen verlangen nicht nur innovative Produzenten, sondern auch kompetente Nutzer, wie das Beispiel der Informationstechnologien zeigt. Die Funktion der Hochschulen liegt hier in der Ausbildung hochqualifizierter Arbeitskräften und der Informationsverbreitung über neue Technologien und wissenschaftliche Erkenntnisse ("Public Understanding of Science").

Zweitens geht die zunehmende Globalisierung der Märkte einher mit einer Globalisierung der Wertschöpfungsketten. Forschung, Entwicklung, Produktion, Vertrieb und Management werden weltweit auf verschiedene Standorte verteilt. Zwischen den verschiedenen Stufen der Wertschöpfungskette gibt es zahlreiche Rückkopplungsschleifen. Ein lineares Verständnis vom Ablauf dieses Prozesses, bei dem Hochschulen sich auf Forschungsinputs beschränken, wird dem nicht gerecht. Hochschulen spielen in unterschiedlichen Phasen der Wertschöpfungsketten eine Rolle. Sie werden selbst vom Standortwettbewerb erfasst und können bei ihrer Internationalisierung nur erfolgreich sein, wenn sie sich ihrer Wettbewerbssituation bewusst sind.

Parallel wächst drittens die Bedeutung regionaler Netzwerke. Akteure aus Wirtschaft und Wissenschaft schließen sich zusammen, um gemeinsam dem globalen Druck mit einer ausreichenden Masse an konkurrenzfähigen Produktionsfaktoren zu begegnen: Kapital, Arbeit und vor allem Information. Gerade Information ist stark an den direkten Austausch zwischen Menschen gebunden. Trotz Internet und ausgefeilten Methoden des Wissensmanagements: Information lässt sich nun mal nicht störungsfrei von A nach B transferieren, der Sinn einer Information entsteht erst in der Interaktion. In der direkten Beteiligung von Hochschulen als Wissensproduzenten an regionalen Kompetenznetzen liegt daher ein großes Potenzial.

Viertens führt das Ausspielen von Wirtschaftsstandorten nach ihren komparativen Vorteilen dazu, dass die jeweils vorhandenen Vorzüge noch größeres Gewicht bekommen. Das Prinzip heißt "Stärken stärken". Dies bedeutet z.B. auf der Ebene der EU, dass mit dem Konzept eines Europäischen Forschungsraums nur in denjenigen Themenfeldern und Forschungsstrukturen die Förderung ausgebaut wird, wo bereits Wettbewerbsvorteile identifiziert wurden. Der "Rest" muss darauf achten, nicht den Anschluss zu verlieren. In Deutschland wird dies u.a. unter dem Schlagwort "regionale Wachstumskerne" diskutiert.

Diese allgemeinen Transformationsprozesse werden zusätzlich durch wissenschaftsimmanente Veränderungstreiber ergänzt oder verstärkt. Es lässt sich eine Verwissenschaftlichung aller gesellschaftlichen Bereiche beobachten. Wissenschaftliches Know-how und wissenschaftliche Arbeitsmethoden spielen in immer mehr Arbeits- und Entscheidungsprozessen eine wesentliche Rolle. Politische Beschlüsse werden durch Expertenkommissionen vorbereitet. Kein Zahnbürstenschwingkopf, der nicht durch Feldstudien erprobt wäre. Mit dieser Expansion "der Wissenschaft" in andere Gesellschaftsbereiche ist auch ein Legitimationsverlust verbunden.8 Zu jedem Gutachten gibt es potenziell ein Gegengutachten. Wissenschaftliche Expertise bietet keine letzten Wahrheiten, so dass sie stets Gefahr läuft, in den Rang einer Meinung neben anderen abzurutschen. Dieser zweischneidige Siegeszug der Wissenschaften quer durch die Gesellschaft führt zu einer Auflösung von Systemgrenzen. Hochschulen und öffentliche Forschungseinrichtungen haben kein Monopol auf Wissenschaftlichkeit. Auch andernorts, in Unternehmen oder privaten Instituten, werden Forschungsstandards gesetzt, von den höchst heterogenen weltweiten Forschungsstrukturen ganz zu schweigen.

Modifizierte Funktionsbeziehungen

Zusätzlich werden die Funktionsbeziehungen zwischen Staat, Hochschulen und ihren Leistungsempfängern modifiziert. Die Art und Weise der Hochschulsteuerung ändert sich dramatisch. Der Paradigmenwechsel lautet: Von der Input- zur Outputsteuerung. Nicht Bedarfsanmeldungen (Inputs), sondern Quantität und Qualität der Leistungen (Outputs) werden zum entscheidenden Steuerungs- und Finanzierungskriterium. In der Konsequenz kann daraus sowohl eine größere Hochschulautonomie als auch ein höherer Grad an Verbindlichkeit zwischen dem Staat als Leistungsfinanzierer, den Hochschulen als Leistungserbringern sowie den Studierenden und anderen Leistungsempfängern erwachsen. Und nichts prägt zahlreiche Hochschulen heute so negativ wie die von einigen Hochschulangehörigen gelebte Kultur der Unverbindlichkeit.9 Die Entscheidungsprozesse an Hochschulen sind aufgrund von Demokratisierungserfolgen und dem gleichzeitigen Erhalt von Autonomie in Forschung und Lehre nicht nur stark bürokratisiert worden, sondern haben in unterschiedlichsten Ausprägungen zu einem Zustand der Verantwortungslosigkeit geführt.10

Die Frage nach der Verantwortung für einzelne Leistungen wird über kurz oder lang auf allen Ebenen der Hochschule gestellt und an Leistungskriterien gekoppelt werden: leistungsorientierte Mittelverteilung, leistungsorientierte Bezahlung usw. Dies erhöht den sozialen Druck: Innere Emigration einzelner Kolleginnen oder Kollegen, hohe Studienabbrecherquoten oder mangelhafte Betreuung von Anfragen aus der Wirtschaft verhageln die gemeinsame Leistungsbilanz.

Es wäre fahrlässig, in der Outputsteuerung nur ein neoliberales Konzept zu sehen. In der Diskussion über Effektivität, Effizienz, Verantwortlichkeit und die richtigen Bewertungsmaßstäbe ist prinzipiell auch Platz für emanzipatorische Ziele. Der Unterschied liegt darin, dass diese Ziele mehr sein müssen als Schlagworte; sie müssen nachvollziehbar, konkret und an klare Verantwortlichkeiten und Anreiz- ebenso wie Sanktionsmechanismen gebunden sein.

Weitere Reformanstöße gehen auf die erheblichen Veränderungen in den Zielgruppen der Kernprozesse Lehre und Forschung zurück. Wer heute einen akademischen Abschluss erwirbt, zählt zwar nach wie vor zu einer privilegierten Minderheit, kann aber mitnichten automatisch von einer langfristig gesicherten beruflichen Karriere ausgehen. Auch hier haben wir einen Effekt der Expansion wissenschaftlicher Expertise und ihrer gleichzeitigen Entwertung festzustellen. Die Halbwertzeit akademischen Wissens nimmt ab. Eine Berufskarriere, ob akademisch oder nicht, wird zunehmend von Lern- und Neuorientierungsphasen geprägt: lebenslanges Lernen statt Ausruhen auf Lorbeeren. Der Erwerb von möglichst passgenauen und der jeweiligen Lebenssituation entsprechenden Kompetenzen wird zur notwendigen Ergänzung formaler Abschlüsse. Die Hochschulen müssen sich auf veränderte, heterogene Anforderungen der Studierenden an Studienangebot, Inhalte und Lehrformen einstellen. Es müssen berufsfeldorientierte Vorstellungen davon entwickelt werden, mit welchem Qualifikationsprofil Studierende ein Studium aufnehmen und mit welchem Profil sie es in einer Minimal- und verschiedenen Maximalvarianten beenden sollen. Neben grundständige Studiengänge sind deshalb längst wissenschaftliche Weiterbildungsmodule, berufsbegleitende Fernstudiengänge und virtuelle Angebote getreten.

Im Bereich des Forschungstransfers haben sich die Anforderungen ebenfalls geändert. Gerade die oben erwähnten innovativen Produkte und Dienstleistungen lassen sich in den seltensten Fällen auf einen geradlinigen Entstehungsprozess zurückführen. Erfolgversprechend sind Verfahren, in denen wissenschaftliches Wissens mit Alltags- und Erfahrungswissen zur Lösung von konkreten Problemen kombiniert wird11. Ein gleichberechtigtes Nebeneinander beider Typen der Wissensproduktion ist aber eine Herausforderung für das Selbstverständnis mancher Akademikerinnen und Akademiker.

Die größten Probleme beim Aufbau von Netzwerken und Kooperationen liegt in der Überwindung unterschiedlicher Arbeitskulturen. Die größten Chancen liegen in einem frühzeitigen und gar nicht immer zielgerichteten Informationsaustausch, der auch das nicht Planbare ermöglicht. Wenn insbesondere die kleineren Hochschulen sich nicht als wichtige Komponenten regionaler Innovationssysteme verstehen, werden sie über kurz oder lang von vielen relevanten Forschungsprozessen abgekoppelt.

Darüber hinaus ist zu beobachten, dass die stärksten Entwicklungsschübe meist von den Rändern etablierter Disziplinen ausgehen. Dies gilt sowohl für die Forschung wie für die Lehre. Für die Hochschulen ergibt sich daraus die Notwendigkeit einer Organisationsform mit einer funktionalen Mischung aus Zentralisierung/Universalität und Dezentralisierung/Disziplinarität.

Lernende Systeme

Das Hochschulsystem ist hochgradig ausdifferenziert. "Die" Universität gibt es ebenso wenig wie "die" Fachhochschule. Deshalb beschränkt sich das Konzept von Hochschulen als lernenden Kompetenz- und Service-Netzwerken auf einen organisatorischen Rahmen, in dem sich Hochschulen in verschiedene Richtungen entwickeln können. Hochschulen als lernende Organisationen - im Vergleich zu Becks Postulat einer "Schule der Weltbürgerlichkeit" ein scheinbar bescheidenes und inhaltlich beliebiges Ziel. Lernprozesse zum Ausgangspunkt von Entwicklungen zu machen, ist aber weder bescheiden noch beliebig, denn Lernen ist per se ein emanzipatorischer Prozess. Jenseits politischer Rhetorik ist es eine echte Herausforderung.

Lehren, Lernen, das ständige Infragestellen erworbenen Wissens gehören zwar zum Wesen der wissenschaftlichen Arbeit. Dennoch ist manche Hochschule weit davon entfernt, sich selbst als Organisation zu begreifen, deren Ziele, Funktionsweisen und Strukturen einer steten Überprüfung bedürfen. Die tiefgreifenden gesellschaftlichen und wissenschaftsimmanenten Veränderungen haben mancherorts noch wenig Niederschlag in der Hochschulorganisation gefunden. Erst wenn Hochschulen als Systeme in der Lage sind, Veränderungen zu antizipieren und zu verarbeiten, können sie regionale, weltmarktorientierte, nostalgische, weltbürgerliche oder andere Identitäten ausprägen und mit Leben füllen.

Hochschulen lassen sich ebenso wenig wie andere Systeme von außen oder durch politische Proklamationen steuern. Sie verarbeiten lediglich im Rahmen ihrer Selbstorganisation äußere Irritationen. Die Reformwelle an den deutschen Hochschulen zeigt insofern, wie hochgradig irritiert das Hochschulsystem durch die oben genannten Veränderungen ist. Diese Irritationen lösen Abwehrreflexe aus12, deren Sinn darin liegt, die jeweils bestehende Systemlogik zu erhalten. Es wird ein hohes Maß an Energie darauf verwendet, den Verlust vertrauter Strukturen zu vermeiden. Nicht selten, exemplarisch bei der Einführung von Qualitätsmanagement und Zielvereinbarungen, wird dieser Vertrauensverlust durch formelhafte Beschwörung von Vertrauen kompensiert - obwohl die Einführung von Qualitätssicherungsverfahren oder Kontraktmanagement natürlich eine Ausweitung der Kontrolle bedeutet und prinzipiell ein Indiz für Misstrauen ist.

Im Wesentlichen sieht das Konzept von Hochschulen als lernenden Kompetenz- und Service-Netzwerken deshalb die eingebaute Irritation vor, die durch verschiedene institutionalisierte Kommunikationsprozesse verarbeitet werden kann. Damit wird die Idee der lernenden Organisation13 für die Hochschulen spezifiziert.

Kompetenz: Wissenschaftliche Kompetenz ist die Grundbedingung für die Erfüllung der Kernaufgaben von Hochschulen. Die Definition dessen, was wissenschaftliche Kompetenz bedeutet und welche zusätzlichen Kompetenzen erforderlich sind, entwickelt sich allerdings sehr dynamisch, einerseits durch den wissenschaftlichen Fortschritt selbst, andererseits aber auch durch wissenschaftsexterne Anforderungen. Dies erfordert die Einführung von Qualitätsmanagementsystemen. Als Irritation können in das Qualitätsmanagement Vergleiche mit den Standards anderer Institutionen (Benchmarks) eingebaut werden.

Service: Kompetenz allein ist sich allerdings trotzdem selbst genug. Erst bei einem Selbstverständnis als Service-Einrichtung, d.h. wenn die Kompetenzen zielgerichtet genutzt werden müssen, fahren Hochschulen Antennen aus, um veränderte Signale ihrer Zielgruppen wahrnehmen zu können. Konkret kann dies durch Mechanismen zur regelmäßigen Marktanalyse und -beobachtung geschehen: Befragungen von Studieninteressierten, Alumni, Wirtschaftspartnern etc.

Netzwerk: Faktisch sind Hochschulen ohnehin Netzwerke, in der Regel von Fachbereichen oder Instituten. Anders als beispielsweise in Unternehmensnetzwerken wird allerdings das Motiv der Vernetzung von den einzelnen Institutionen kaum reflektiert. Der Netzwerkgedanke schließt die irritierende Möglichkeit ein, sich aus einem Netzwerk zurückzuziehen oder in neuen Kooperationen zusammen zu schließen. Solche Prozesse erleben wir im Hochschulsystem derzeit exemplarisch bei den Fusionen, oft allerdings von außen verordnet.

Teil-Autonomie: Ein zu hoher Grad an Autonomie der einzelnen Institutionen könnte allerdings insbesondere kleineren Hochschulen schnell an die Substanz gehen, so dass diese z.B. vor "zu starken" Fachbereichen gewissermaßen geschützt werden müssen; deshalb Teil-Autonomie.

Institution: Institutionen sind spezifische Organisationen, die für das Individuum und die Gesellschaft elementare Bereiche regeln, wie Reproduktion, Erziehung, Bildung, Ausbildung. Während Organisationen formell Ziele, Mitgliedschaften, interne Abläufe usw. definieren, stellen Institutionen handlungsleitende Regeln zur Verfügung. Niklas Luhmann stellt fest, dass die Hochschulen sich offenbar dafür entschieden hätten, Organisationen und keine Institutionen zu sein.14 Dies hängt bis zu einem gewissen Grad damit zusammen, dass die Hochschulen als Ganze hinter den Partikularismen ihrer Organisationseinheiten verschwinden. Nur wenige haben als Ganze eine Identität, einen "Markennamen". Als Institutionen fungieren meist die Institute oder Fachbereiche mit ihren deutlich klarer umrissenen Identitäten.

In der Konsequenz müssen lernende Hochschulen Strategien für das jeweils angemessene Verhältnis von Kooperation und Konkurrenz erarbeiten, sowohl intern als auch mit Externen. Sie müssen neue Mechanismen entwickeln, um Interessenkonflikte um Ziele, Macht, Einfluss, Reputation und Geld austragen zu können.15 Solche Konflikte dürfen weder mit dem Schlagwort "Neoliberalismus" tabuisiert noch ökonomistisch auf finanzielle Aspekte reduziert werden. Ihr irritierendes Potenzial muss für individuelle wie organisationale Lernprozesse nutzbar gemacht werden. Wichtigstes Instrument dafür ist eine intensive, offene Kommunikation.

Das Konzept der lernenden Kompetenz- und Service-Netzwerke ist primär kein gesellschaftspolitisch motivierter Entwurf. Natürlich ist es erstrebenswert, dass Hochschulen es sich auch weiterhin zur Aufgabe machen, gesellschaftliche Entwicklungen kritisch zu begleiten, demokratische Prinzipien zu pflegen und eine möglichst breite Teilhabe an Bildung und Wissenschaft zu gewährleisten.

Vorliegendes Konzept kann mit all diesen und auch weiteren inhaltlichen Zielen kombiniert werden. Es geht jedoch davon aus, dass Hochschulen als Institutionen zunächst einmal zu sich selbst finden und ihre spezifische Rolle als wirtschaftlicher, politischer, gesellschaftlicher und kultureller Faktor definieren müssen. Hochschulen haben ihre Exklusivität verloren. Damit müssen sie umgehen lernen, und dazu gehört vor allem ein qualitativer Sprung im Verständnis der Bedeutung und zweckmäßigen Organisation von Wissensproduktion und Wissensverbreitung in modernen Gesellschaften. Manche Hochschulen sind schon recht weit gesprungen, andere nehmen gerade erst Anlauf.


Anmerkungen

1) Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, Reclam, Stuttgart 1993, S.22

2) Wie stark sich die aktuellen Veränderungen auf die wichtigste Berufsgruppe im Hochschulsystem, die Professorinnen und Professoren auswirken, zeigt bspw. Jürgen Enders: Von der Ordinarienuniversität zum kognitiven Dienstleister: Die Veränderung der Rahmenbedingungen wissenschaftlicher Arbeit an den Hochschulen, in: Frauke Gützkow/Gunter Quaißer (Hg.): Hochschule gestalten, Bielefeld 2004, S. 53-66.

3) Der Begriff der Wissensgesellschaft ist ausgesprochen schillernd. Ich beziehe mich auf die Definition von Willke, wonach von einer Wissensgesellschaft bzw. einer wissensbasierten Gesellschaft dann zu sprechen ist, wenn "die Strukturen und Prozesse der materiellen und symbolischen Reproduktion einer Gesellschaft so von wissensabhängigen Operationen durchdrungen sind, dass Informationsverarbeitung, symbolische Analyse und Expertensysteme gegenüber anderen Faktoren der Reproduktion vorrangig werden". H. Willke, »Organisierte Wissensarbeit«, in: Zeitschrift für Soziologie 27, 3 (1998), S. 161-177, hier S. 162

4) Ulrich Beck: Vorwärts zu "Humboldt 2", in: DIE ZEIT, 11. November 2004, S. 15

5) Vgl. auch Sheila Slaugther/Larry L. Leslie: Academic Capitalism, Baltimor 1997

6) Ulrich Teichler: Hochschulwesen in Deutschland - Diskussionen und Reformen, in: Frauke Gützkow/Gunter Quaißer (Hg.): Hochschule gestalten, Bielefeld 2004, S. 93-104, hier S. 103

7) In diese Richtung argumentiert auch Doris Carstensen: Lernen in Veränderungsprozessen. Organisationales Lernen und defensive Routinen an Universitäten, in: die hochschule 1 (2004) S. 49-62

8) Peter Weingart: Die Stunde der Wahrheit?, Weilerswist 2001

9) An der Universität Oslo sind Zielvereinbarungen nicht nur zwischen Hochschulleitung, Fachbereichen und einzelnen Lehrenden üblich, sondern auch mit den Studierenden.

10) Vgl. Niklas Luhmann: Zwei Quellen der Bürokratisierung in Hochschulen, in: Ders.: Universität als Milieu, Bielefeld 1992, S. 74-79

11) Vgl. Martin Heidenreich: Zwischen Innovation und Institutionalisierung. Die soziale Strukturierung technischen Wissens, in: B. Blättel-Mink; O. Renn (Hg.): Zwischen Akteur und System. Die Organisierung von Innovation. Opladen 1997, S. 177-206

12) Vgl. Doris Carstensen, a.a.O.

13) Auch dieser Begriff ist schillernd. Das Konzept geht u.a. zurück auf die Publikationen von Chris Argyris, z.B. On Organizational Learning, 2. Aufl., Cambridge 1996

14) Vgl. Niklas Luhmann: Zwei Quellen der Bürokratisierung in Hochschulen, in: Ders.: Universität als Milieu, Bielefeld 1992, S. 74-79

15) Hier könnte sich ein neues Aufgabenfeld für Hochschulräte, Kuratorien und Beiräte als Schiedsstelle gegenüber dem zentralen Netzwerkmanagement (Rektorat/Präsidium) und Netzwerkpartnern (Fachbereiche, Institute) entwickeln.


Robert Erlinghagen ist Partner der mundi consulting GmbH, Siegen

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