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Klaus Holzkamp

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Investitionen in das "Humankapital"

15.07.2002: PISA und die Bildungspolitik der OECD

  
 

Forum Wissenschaft 2/2002; Titelbild: B. Froomer

In den Ergebnissen der PISA-Studie sehen Gewerkschaften ihre langjährigen Positionen bestätigt: Zum einen weil die erhobenen Daten ihre pädagogischen und schulpolitischen Überzeugungen untermauern, zum anderen weil "ihr" Thema Chancengleichheit mit PISA auf die bildungspolitische Tagesordnung gerückt wird. Jürgen Klausenitzer hat sich die Zielrichtung der PISA-Studie und die Rolle der OECD-Politik genauer angeschaut. Dabei stellt er eine Verschiebung der Bildungspolitik in Richtung ökonomische Effizienzsteigerung fest. Nur vor diesem Hintergrund, so seine These, ist es möglich, alternative Vorstellungen zu entwickeln und die weitere "Rationalisierung" von Bildung abzuwehren.

Ausgangspunkt der PISA-Untersuchung sind "governments that have taken the initiative and whose policy interests the survey will be designed to serve."1 Diese politischen Interessen bzw. der "context of OECD objectives" stellen den Rahmen der bildungspolitischen Aktivitäten der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklungen) dar, insbesondere für die Entwicklung von "outcome measures", die als notwendig erachtet werden für Ländern "which want to monitor the adequacy of their education systems in a global context."

"PISA ist Teil des Indikatorenprogramms der OECD", stellt das deutsche PISA-Konsortium fest - und verliert kein weiteres Wort über die Ziele der OECD und das Indikatorenprogramm.

Ertragsrechnung

Aufgabe der OECD nach dem 2. Weltkrieg war es, in Europa den Aufbau kapitalistischer Gesellschaften im Rahmen des Marshallplans zu unterstützen. 1998 bestand sie aus 29 Ländern marktwirtschaftlichen Zuschnitts. Sie wird zu 25% von den USA finanziert. Als ihre Aufgabe beschreibt sie: "to build strong economies in its member countries, improve efficiency, home market systems, expand free trade and contribute to development in industrialised and developing countries." Dem Beitrag von Bildung zu Arbeitsproduktivität und wirtschaftlichem Wachstum gilt das besondere Augenmerk der OECD. Wesentliche Instrumente der Analyse von Bildungssystemen und Bedingungen von "Human Resource Development" sind dabei die Humankapital-Theorie und die Ertrags-Rechnung ("rate-of-return"-Rechnung), die in monetären Einheiten den individuellen und sozialen Nutzen von Investitionen in Bildung berechnen soll.

Auf Grund der Krise der Verwertungsbedingungen des Kapitals Mitte der 1970er Jahre und des immer stärker werdenden Gewichts transnationaler Konzerne im Rahmen der Globalisierung und ihrer Interessen an einer mobilen, internationalen Arbeitskräfte-Elite gewannen die "Investitionen in das Humankapital" in den 80er Jahren wieder an Bedeutung.2 Mikro-ökonomische Analysen sollen die ökonomische Bedeutung einzelner Segmente des Arbeitskräftepotenzials auf ihre Verwertbarkeit hin analysieren und der Politik Hinweise für Bildungsinvestitionen mit einem günstigen Kosten-Nutzen-Faktor geben.

In diesen Jahren werden die Grundzüge einer neoliberalen Wirtschaftspolitik formuliert: eine Politik der Strukturanpassung durch Liberalisierung von Güter- und Dienstleistungshandel, der Deregulierung und der Privatisierung. Der Washington Consensus fordert von den Regierungen nicht mehr und nicht weniger als den institutionellen Umbau des öffentlichen Sektors. In einem für die OECD typischen Gemisch aus Trendanalysen und mehr oder weniger versteckten normativen Setzungen kommt die Studie Governance in Transition zu dem Schluss: "A new paradigm for public management has emerged, aimed at fostering a performance-oriented culture in a less centralised public sector." Kernpunkte dieser "neuen Verwaltungssteuerung" sind Kosteneffizienz, Effektivität und Qualität, Dezentralisierung, Wettbewerb, Privatisierung und Senkung der Staatsquote.

Die OECD wird mit dieser Politik der Strukturanpassung und einem inter- und supranationalen Netzwerk zu ihrer Durchsetzung (WTO, IWF, Weltbank, EU, NAFTA, Mercosur, Asean, u.a.) zur Akteurin der globalen Politik. Ende der 1980er Jahre sogar zum aktiven Träger eines "new consensus in educational policy", dessen Kern die Dominanz "of a singular global model of good education […] centred on the American models" ist.3 PISA-Koordinator Andreas Schleicher weist den internationalen Vergleichstudien "bei der Suche nach einer effektiven Bildungspolitik […] eine besondere Rolle zu."4

Seit Mitte der 90er Jahre steht das Indikatoren-Projekt INES (International Indicators and Evaluation of Educational Systems) im Zentrum der bildungspolitischen Arbeit der OECD. Jährlich erscheinen seitdem die Sammlung Education at a Glance mit statistischen Daten aus den Mitgliedsländern auf der Grundlage von 36 Indikatoren, und die Aufsatzsammlung Education Policy Analysis mit Beiträgen zu zentralen bildungspolitischen Fragen. Der länderübergreifenden Analyse mit Hilfe der Indikatoren liegt die zentrale Annahme zu Grunde, dass "national, provinces, school systems and educational institutions "share" some concerns and goals, so they can be meaningfully compared."

Weil der OECD ihre bis dahin verwendeten Indikatoren zur Messung der Investitionen in "Humankapital" (Jahre formaler Bildung, erreichter Bildungsstand) Mitte der 1990er Jahre zu unspezifisch erschienen, entwickelte sie drei weitergehende Ansätze, um mit Hilfe direkter Befragungen die Messungen im Rahmen von internationalen Vergleichsstudien zu verbessern:

  • "Student achievement in particular areas of knowledge and competence at different stages of school education,
  • Competences of school-aged children that cross the boundaries defined by subject curricula,
  • Adult skills and competences relevant to everyday life and work."5

Die AutorInnen des deutschen PISA-Konsortiums setzen sich mit diesem bildungspolitischen Kontext der OECD-Tätigkeiten und dem INES-Projekt nicht auseinander, obwohl der internationale OECD-Text die Absprachen der OECD-Regierungen über PISA ausdrücklich in den Kontext der OECD-Ziele stellt. Gehen die deutschen AutorInnen davon aus, diese seien irrelevant? Das ist kaum anzunehmen, stellt doch die OECD selbst den Zusammenhang von PISA mit dem Indikatorenprogramm zur Messung der Effizienz des Bildungssystems und zur Entwicklung des Humankapitals klar: "Beurteilungen der Qualifikationsbasis des Humankapitalstocks tendierten bestenfalls dazu, aus "Stellvertreterindikatoren" wie "Schulabschluss" gewonnen zu werden. Sobald das Interesse an Humankapital ausgeweitet wird auf Eigenschaften, die es den Menschen erlauben, "lebenslang Lernende" zu werden, wird die Unangemessenheit deutlich. Durch die direkte Befragung von Wissen und Fertigkeiten überprüft OECD/PISA das Ausmaß der Fähigkeiten junger Menschen, sich dem Erwachsenenleben zu stellen, und zum anderen (bis zu einem gewissen Grad) die Effektivität von Bildungssystemen."6

"best value for money"

Nun lässt sich mit Recht fragen: Ja und? Was ändert sich denn, wenn der Fokus von Input und Bildungsprozess hin zu Output- und Ergebnis-Indikatoren verschoben wird? Warum sollte es nicht möglich sein, die Indikatoren inhaltlich so zu bestimmen, dass im Zentrum nicht "best value for money" (OECD) und die Erfordernisse des Marktes stehen, sondern die Bedürfnisse der Lernenden, Selbst- und Welterkenntnis und gesellschaftliches Interesse an Gleichheit?

Am deutlichsten formuliert die Weltbank in ihrem Papier "Priorities and Strategies for Education" den Zusammenhang von Umbau des (Sozial-) Staats mit ökonomisch-technizistischer Effizienz-Orientierung: "An orientation toward outcomes means that priorities in education are determined through economic analysis, standard setting, and measurement of the attainment of standards." Die ökonomische Analyse von Bildung ist für die Weltbank ein Diagnosewerkzeug, um bildungs- und gesellschaftspolitische Prioritäten zu setzen.7 Das traditionelle Verfahren, Bildungsziele zu formulieren, wird auf den Kopf gestellt: an die Stelle einer gesellschaftlichen Debatte über Ziele tritt die ökonomische Analyse. Um den individuellen (und sozialen) Nutzen von Bildungsinvestitionen (zum Beispiel in Form erhöhten Einkommens) messen zu können, müssen messbare Ergebnisse zur Verfügung stehen. Diesem Zweck dienen die oben erwähnten 36 Indikatoren sowie die neuen Indikatoren für einzelne Schulfächer/Domänen (TIMSS, PISA) und fächerübergreifende Kompetenzen. Darüber hinaus sind sie zentrale Voraussetzung für das Kontraktmanagement im Rahmen einer Privatisierung, die sich im Kontext der EU und GATS absehbar verschärfen wird.

Statistische Daten, auch internationale, können sehr wohl von Bedeutung sein. Problematisch ist es jedoch, wenn sie qua Priorisierung für das Ganze genommen werden und Grundlage beziehungsweise Teil eines (globalen) Rationalisierungskonzepts sind. Diese Funktion erfüllen die Indikatoren im Kontext der Humankapital-Theorie und der Ertrags-Rechnung: welches Arbeitskräftepotenzial lohnt ertragreiche Bildungsinvestitionen, welche öffentlichen Leistungen können gestrichen oder - beispielsweise wegen des angeblich hohen individuellen Nutzens - privatisiert werden.

Diese Verschiebung wesentlicher Beurteilungskriterien bleibt nicht ohne Folgen. Da die Finanzierung (teil-)autonomer (Bildungs-)Institutionen von dem Grad der Zielerreichung nach diesen Indikatoren abhängig gemacht wird, orientiert sich das praktische Handeln der EntscheidungsträgerInnen in den einzelnen Bildungsinstitutionen zunehmend an den für die Finanzierung zentralen Indikatoren, am pädagogischen "Kerngeschäft". Die Kosten der nicht in die Indikatoren eingegangenen Aspekte von Bildung, der als weniger wichtig eingestuften Fächer und anderer pädagogischer Tätigkeiten, bleiben außen vor. Chancengleichheit, die Bedürfnisse der "costly and disabled", der Beitrag des Bildungssystems zur Reduzierung gesellschaftlicher Ungleichheit werden zu Marginalien. Weniger die internationalen Vergleichstudien und das Indikatoren-Projekt sind das Problem, sondern der politische und ökonomische Kontext der Verbetriebswirtschaftlichung des Bildungswesens und der bestimmende Stellenwert der Effizienz-Indikatoren im Rahmen der Rekonstruktion des Bildungswesens.

Chancen, Bündnisse und Alternativen

Die PISA-Studie gibt zwar Anlass, Mängel des deutschen Schulwesens - so auch das Problem der Chancengleichheit - zu thematisieren. Gleichzeitig muss jedoch die bildungspolitische Agenda der OECD thematisiert und einer kritischen Analyse unterzogen werden. Obwohl die OECD immer wieder darauf hinweist, dass die quantitativen Ergebnisse der PISA-Studie keine kausalen Zusammenhänge begründen, werden weitreichende bildungspolitische Schlussfolgerungen gezogen, die an einer neoliberalen Restrukturierung orientiert sind: Privatisierung, Dezentralisierung, Output-Orientierung mit entsprechenden quantitativen Indikatoren. Dass diese Schlussfolgerungen kaum mit den Ergebnissen der Studie in Zusammenhang zu bringen sind, machen z.B. die Aussagen zu Studiengebühren oder auch zum Beitrag teil-autonomer Schulen zur Leistungserbringung deutlich. Auch die AutorInnen des deutschen PISA-Konsortiums zitieren vorsichtig eine Feststellung aus Knowledge and skills der OECD: "It is hard to link levels of autonomy with performance."8

Wie könnte unter den Bedingungen einer Politik der Rationalisierung, Kosteneinsparung und Effizienz als Qualitätskritierien eine gewerkschaftliche Perspektive aussehen, die sich nicht nur gegen Rationalisierung, Verbetriebswirtschaftlichung und Privatisierung von Bildung stellt, sondern die Bedürfnisse der Lernenden an "Selbst- und Welterkenntnis" oder an gesellschaftlichen Schlüsselqualifikationen ins Zentrum rückt?

Keine Illusionen sollte man sich über Reichweite und Bündnispartner einer solchen Diskussion machen. Wer das deutsche Schulwesen in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten kritisch verfolgt hat, dem und der dürften die Schwächen nicht verborgen geblieben sein, nicht nur im Hinblick auf die Schwierigkeiten, Mathematik zu unterrichten und Lesefähigkeit zu vermitteln. Über Jahre hinweg hat sich kaum jemand für den hoch selektiven Charakter des deutschen Schulwesens interessiert, obwohl dazu genügend Untersuchungen vorgelegen haben. Die OECD sieht in integrierten Systemen bessere Bedingungen zur "Ausnutzung des Leistungspotentials" gegeben und versteht die extreme soziale Selektivität und Chancenungleichheit als Modernitätsrückstand Deutschlands. Damit zeichnen sich im Rahmen einer umfassenden Rationalisierung des Bildungswesens möglicherweise Perspektiven für eine stärkere Integration gewährleistende "modernere" Schulstruktur ab. Ein solches Bündnis der "Modernisierer" dürfte aber nicht von der Vorstellung einer breiten Bildung für alle bestimmt sein, sondern - unter den Schlagworten "Vielfalt" und "Wettbewerb" - von zielgenauerer Orientierung für die besonders leistungsstarken und besonders leistungsschwachen Lernenden.9 Und in der Tat: Die OECD thematisiert unter dem Stichwort der "sozialen Kohäsion" Probleme der gesellschaftlichen Polarisierung. Dies hat jedoch nichts mit sozialer Gerechtigkeit und dem Recht auf gleiche Teilhabe zu tun, sondern mit der Eingrenzung gesellschaftlicher Krisenpotenziale bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung oder Verschärfung gesellschaftlicher Widersprüche.

Mit einer kritischen Rezeption der PISA-Studie und ihrer Funktion, gesellschaftlichen Druck für einen rigoroseren Umbau des deutschen Schulwesens im Sinne des von der OECD forcierten globalen Paradigmenwechsels zu organisieren, wäre ein erster Schritt getan. Der zweite, wesentlich schwierigere, bestünde darin, sich zum einen gegen eine Rationalisierung auf Kosten von Lernenden und Lehrenden zu wehren und zum anderen, über die Kritik an dem Paradigma von Markt und Management sowie an den herkömmlichen, staatsbürokratischen Formen von Bildung hinaus, Alternativen zu entwickeln. Diese können sich nicht in der bloßen Verteidigung von Errungenschaften des öffentlichen Schulwesens in seiner staatsbürokratischen Form erschöpfen. Gefragt sind konkrete Gegenentwürfe zu den gegenwärtig ökonomistisch und technizistisch definierten Begriffen von Effizienz, Rechenschaftspflicht und Qualität. Damit stellt sich auch das Problem partizipativer Formen einer Bildung in öffentlicher Verantwortung. Diese Fragen stellen sich nicht nur für den Bildungsbereich, sondern in ähnlicher Weise ebenso für andere Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge und gäben genügend Anlass für eine gemeinsame Perspektive aller öffentlichen Dienste. Eine solche gemeinsame Perspektive ist notwendig, sollen Strategien gegen eine umfassende Rationalisierung und für verbesserte Lebens- und Arbeitsbedingungen der in den (noch) öffentlichen Diensten Beschäftigten Aussicht auf Erfolg haben.


Anmerkungen

1) Die nicht ausgewiesenen Zitate sind Texten der OECD entnommen: OECD (1999): Measuring Student Knowledge and Skills - A New Framework for Assessment, Paris; OECD (1992): The OECD International Education Indicators - A Framework for Analysis, Paris; OECD (1995): Governance in Transition, Public Management Reforms in OECD Countries, Paris; OECD (1998): Human Capital Investment, Paris. Als Lektüre empfohlen: Miriam Henry et al., The OECD, Globalisation and Education Policy, Amsterdam 2001

2) Vgl. George Papadopoulos: Die Entwicklung des Bildungswesens von 1960 bis 1990 - Der Beitrag der OECD, Frankfurt/Main 1996, S.201

3) Marginson, Simon: After globalization: emerging politics of education, In: Journal of Education Policy, Vol.14, No.1, 1999, S.19-31

4) Schleicher, Andreas: Erfolgreiche Länder haben integrierte Systeme, Erziehung&Wissenschaft 1/2002

5) OECD 1998, S.85

6) OECD 1999, S.1, Übersetzung ins Deutsche vom Autoren

7) World Bank: Priorities and Strategies for Education - A World Bank Review, Washington, 1995, S.94

8) Baumert, J. et al.: PISA 2000, Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich, Opladen 2001, S.429

9) Reiffers, Jean-Louis: Accomplir l’Europe par l’education et la formation, 1996. Zitiert nach: Johsua, Samuel: The neoliberal orientation of the education policy of the Jospin government. In: Education and Social Justice, Vol.3, No.3, 2001, S.56


Jürgen Klausenitzer ist Diplom-Pädagoge und arbeitet als Gutachter für Bildungsplanung in der Entwicklungszusammenarbeit in Frankfurt/Main

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