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Das Geschlecht des Misstrauens

15.03.2006: NS-Verfolgung der Sinti und Roma, geschlechterhistorisch

  
 

Forum Wissenschaft 1/2006; Titelbild: Hermine Oberück

In letzter Zeit häufen sich die Forschungen zum Thema Geschlecht und Holocaust im Allgemeinen. Dabei handelt es sich zum größten Teil um Studien zum Genozid an den Juden und zu dessen Folgen: Sie untersuchen Alltagserfahrungen der Opfer, ihre Überlebenschancen in Lagern, Widerstand und Untergrund sowie Handlungen und Darstellungen von Tätern und Täterinnen unter geschlechterhistorischem Aspekt. Eve Rosenhaft beleuchtet bisher Un-bekanntes.

Die NS-Verfolgung von Sinti und Roma ist bisher kaum aus der geschlechterhistorischen Perspektive betrachtet worden. Diese „Verspätung“ ist symptomatisch für die verspätete Kenntnisnahme der Verfolgung dieser Gruppen in der deutschen und internationalen Öffentlichkeit, die auch zur Folge hatte, dass sich HistorikerInnen erst seit den 1980er Jahren intensiver der Erforschung dieses Aspekts der NS-Vernichtungspolitik widmeten. In der Tat kamen wesentliche Impulse für die historische Forschung direkt aus der Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma, die zu einem großen Teil im Umgang mit der Schwierigkeit entstand, moralische und materielle Anerkennung für ihren Opferstatus (und damit Wiedergutmachung) zu erlangen. Diese Situation hatte paradoxe Folgen für die historische Forschung. Einerseits waren es in erster Linie einzelne Sinti sowie Vertreter ihrer Interessenverbände selber, die in den 50er und 60er Jahren durch Gerichtsklagen gegen die Verfolger und seit den 70ern auch durch direkte Aktionen dafür sorgten, dass Quellenmaterial – vor allem Unterlagen und Zeugenaussagen, die Charakter und Aktivitäten der Täter beleuchten – zusammengetragen, aufgehoben und in öffentlichen Archiven zugänglich gemacht werden konnte. Selbstzeugnisse der Opfer entstanden seit den 80er Jahren in der Zusammenarbeit zwischen Überlebenden (bzw. ihren Nachkommen) und HistorikerInnen. Interviewprojekte, die Material für eine oral history der Verfolgung hätten liefern können, wurden durch die Interessenverbände unterstützt, ja angeregt. In den 90er Jahren erschienen die ersten gedruckten Erinnerungen von Sinti und Roma, Männern und Frauen, die meisten in der Form episodischer Erzählungen, die von einem oder mehreren Nicht-Sinti protokolliert und redigiert wurden.

Forschung und Traumata

Diese Zusammenarbeit ging nicht ohne Spannungen vor sich. Die zweite Traumatisierung, die Holocaust-Überlebende durch die Verneinung ihrer Erfahrung als Verfolgte erlitten, gründete nachweislich in rassistischen Vorurteilen seitens der Mehrheitsbevölkerung, was nicht anders zu verstehen war denn als eine Fortsetzung derjenigen gesellschaftlichen Verhältnisse und Denkstrukturen, die den Genozid erst ermöglicht und strukturiert hatten. Unter Sinti und Roma paarte sich die ohnehin vorhandene Zurückhaltung in der Erzählung über Trauma und Demütigung, zumal Fremden gegenüber, oft mit Misstrauen gegen Vertreter der Mehrheitskultur und speziell gegen WissenschaftlerInnen, nicht zuletzt bei den Sinti (auch aus der Nachkriegsgeneration), für die die Fixierung einer politisch brauchbaren Repräsentation des Genozids unter eigener Kontrolle den Eckstein des Projekts ethnischer Selbstbehauptung bildete. Wenigstens ein Interviewprojekt scheiterte an diesen Spannungen. In seinen Memoiren beschreibt der Wissenschaftler Micha Brumlik das Ende eines solchen Projekts. Dabei habe er mit ansehen müssen, wie der Rechtsvertreter des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma „die Tonbänder, auf denen wir die Erzählungen der alten, leidenden, den Interviewern gegenüber ganz offen sprechenden Sinti, von durch Sterilisation erniedrigten und um das Ziel ihres Lebens gebrachten Menschen festgehalten hatten, sämtlich mit einer Metallsäge zerstörte.“1 Besonderen Anstoß hatten Sinti-Männer aus der Nachkriegsgeneration an Aufnahmen genommen, in denen Sintizzas (Sinti-Frauen) von Forscherinnen über mögliche Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch befragt wurden. Nicht nur für politische Zwecke unbrauchbar, wurden solche Zeugnisse als direkt entehrend empfunden, unabhängig davon, wie die Interviewsubjekte selber auf die Fragen reagierten. Sowohl die Anspielung Brumliks auf Sterilisation als prägendes Holocausterlebnis als auch seine Schilderung des Eklats als einer Auseinandersetzung (nur vordergründig unter Männern) darüber, wer mit wem über welche Holocausterfahrung reden dürfe (und wer letztendlich für die Pflege der Erinnerung an den Genozid zuständig sei), sind bezeichnend für die Rolle, die Geschlechterbeziehungen in der Verfolgung der Sinti und Roma spielen. Die Selbstzeugnisse von Sinti und Roma sind durch Erzählmuster geprägt, die ausdrücklich gruppenspezifische Zusammenhänge zwischen ethnischer und Geschlechteridentität und damit verbundene Traumata thematisieren. Gleichzeitig bleibt vieles verschwiegen. Geschieht dies bei veröffentlichten, nicht anonymisierten Memoiren oft in Absprache mit den InterviewerInnen, also auf Grund eines Vertrauensverhältnisses, so trägt die Überlieferung immer noch Spuren des Misstrauens: des Bewusstseins, zwischen 1933 und 1945 von der Mehrheit der Deutschen preisgegeben und speziell von deutschen WissenschaftlerInnen betrogen worden zu sein, aber auch der Angst vor einem Solidaritätsbruch in den Reihen der Verfolgten selbst, der gerade durch die besonderen Umstände der Verfolgung ermöglicht wurde.

Das Misstrauen, das Sinti und Roma VertreterInnen der Wissenschaft lange entgegenbrachten, reflektiert die Rolle, die WissenschaftlerInnen in der Verfolgung spielten. Bei deutschen Sinti und Roma hat die Erinnerung an diesen Umstand einen geschlechtsspezifischen Aspekt, der mit dem Bewusstsein eng zusammenhängt, betrogen worden zu sein. Die Rassenhygienische und Bevölkerungsbiologische Forschungsstelle (RHF) im Reichsgesundheitsamt war richtungweisend in der Formulierung und Ausführung der NS-„Zigeunerpolitik“.2 1936 unter der Leitung des Kriminalpsychologen Dr. Robert Ritter gegründet, stellte sich die RHF die Aufgabe, möglichst alle „Zigeuner“ und „Zigeunermischlinge“ im Reich ausfindig zu machen.3 Die Aussage der RHF, die für die Betroffenen in den allermeisten Fällen negativ ausfiel, diente zur Legitimation von KZ-Haft, Zwangssterilisation und Deportation für Tausende deutscher Sinti und Roma.

Sinti-Erinnerungen an NS-Frauen

Unter deutschen Sinti ist die Erinnerung an die Tätigkeit der RHF sehr stark durch die Figur einer Frau geprägt: Eva Justin, wissenschaftliche Assistentin in der RHF und engste Mitarbeiterin Ritters. Es spricht für den zwiespältigen Charakter des Ritterschen Vorhabens überhaupt –, eines Forschungsprojekts, das gleichzeitig die praktische Lösung für die Situation einer als gesellschaftlich inakzeptabel angesehenen Gesellschaftsgruppe versprach – dass die meisten Mitarbeiter der Forschungsstelle in der Tat Mitarbeiterinnen waren. Drei von ihnen, Justin (geb. 1909), Sophie Ehrhardt (geb. 1902), und Ruth Kellermann (geb. Hesse, 1913), waren promovierte Wissenschaftlerinnen, wobei Justin mit der Berufserfahrung der Krankenschwester zur Forschungsstelle gekommen war und erst unter Ritters Betreuung promovierte. Neben einigen weiblichen Schreibkräften und Bürogehilfinnen waren wenigstens sechs weitere Frauen, geboren zwischen 1903 und 1914, als wissenschaftliche und technische Assistentinnen tätig. Unter ihnen waren zwei ausgebildete Fürsorgerinnen, eine Krankenschwester beziehungsweise Medizinstudentin, eine Zoologiestudentin, eine wissenschaftliche Assistentin aus dem universitären Bereich und eine Lehrerin. Aus unterschiedlichen, anfangs wohl vermischten Motiven nahmen diese jungen Frauen mit Begeisterung an dem Projekt der restlosen Erfassung der „Zigeuner“ teil, das ihnen den unbeschränkten Zugriff auf eine bisher schwer zugängliche KontrahentInnengruppe versprach. Hinzu kam als jüngste Fachkraft (Jahrgang 1919) eine Fotografin, durch das Versprechen angelockt, „dass man bei dieser Tätigkeit viel reisen könne“.4 Wir erkennen in den Mitarbeiterinnen der RHF die Frauentypen wieder, die uns in Studien weiblicher Karrieren bzw. Mittäterschaft in der Medizin, im Wohlfahrtsdienst und in der Besatzungs- und Siedlungspolitik NS-Deutschlands zwischen 1933 und 1945 begegnen. Dass gerade Eva Justin so stark in der Erinnerung der Betroffenen präsent ist, dürfte sehr wohl ein Beispiel dafür sein, wie NS-Täterinnen zusätzlich zu den gemeinsam mit männlichen Tätern begangenen Verbrechen angelastet wird, dass sie gegen einen (vermeint) weiblichen Verhaltenskodex verstoßen hätten. Bei Justin ist allerdings eine besondere Brisanz in diesem vermeintlichen Widerspruch festzustellen: Ihr konnte vorgeworfen werden, sie habe nicht nur die eigene Weiblichkeit verraten, sondern ausgerechnet „weibliche“ Mittel eingesetzt, um Information von Menschen herauszulocken, die sie durch ihre Rassendiagnose letztendlich den eigentlichen Henkern zuführte. Justin war dafür bekannt, dass sie Romanes, die Sinti-Sprache, besonders gut beherrschte; sie war auch geschickt im Umgang mit den Sinti- und Roma-Kindern, die den Rassenforschern ohnehin am ehesten zugänglich waren. Dadurch war sie besonders geeignet für eine Forschungs- und Maßnahmepolitik, die ausdrücklich davon ausging, es sei notwendig, möglichst das Vertrauen der Objekte dieser Politik – der „Zigeuner“ – zu gewinnen und zu erhalten. Ebensosehr eignete sich Justin als Ikone für den zynischen Verrat der deutschen Mehrheitsgesellschaft an den deutschen Sinti und Roma, als welcher die NS-Verfolgung erlebt und erinnert wurde.

Geschlechtliche (Selbst-)Konzepte

Was die Selbstdarstellung der Opfer anbelangt, so ist die Vorstellung einer Entsexualisierung bzw. Entgeschlechtlichung, die des öfteren zur Interpretation der Situation (vor allem) weiblicher Häftlinge in der „unpersönlichen Zerstörungsmaschinerie“5 verwendet wird, fehl am Platz. Der Rassismus, der dem NS eigen war, ließ zwar die herkömmlichen Geschlechterkategorien nicht intakt. Dass ein Mensch Mann oder Frau war und wie mit dem Mann- oder Frausein umgegangen wurde, war aus der Perspektive des NS-Systems je nach der „rassischen“ Zuschreibung wichtig bzw. unterschiedlich. Aus der Perspektive der Menschen, für die diese Zuschreibung Ausgrenzung und Verfolgung bedeutete, können wir allerdings sagen, die gemeinsam erlittene Verfolgung wurde geschlechtsspezifisch erlebt. Gerade der Angriff auf den Körper, der zum Wesen des NS gehörte, bedeutete, dass Männer in ihrer Männlichkeit, Frauen in ihrer Weiblichkeit betroffen wurden. Was es aber für die Opfer hieß, Mann oder Frau zu sein, wo etwa die Grenzen des „Körpers“ lagen, war jeweils durch die Werte und Praktiken bestimmt, die sie in die Verfolgung „mit einbrachten“. Bei den deutschen Sinti und Roma handelte es sich um eine ethnische Minderheit, deren Kultur sich über familiäre Strukturen definierte, die durch eine klare Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern und den Generationen geprägt waren. Zu einem ausgeprägten Sinn für Geschlechterdifferenz, der mit einem stark entwickelten Ehr- und Schamgefühl in Beziehungen untereinander einherging, gesellte sich eine für Außenseiter verblüffende Unbekümmertheit im Reden über sexuelle Dinge. Die Sinti und Roma ihrerseits grenzten sich nicht zuletzt mit Bezug auf den unterschiedlichen Umgang mit dem Körper und mit der Sexualität von den Nicht-Sinti, den Gadje, ab. Sowohl in der Politik und Praxis der Behörden als auch im eigenen Selbstverständnis gingen seit dem 18. Jahrhundert anhaltende Prozesse der „racialisation“ mit der Sexualisierung der „Zigeuner“ als Gruppe und jedes einzelnen Mitglieds der Gruppe in einer Geschichte alltäglicher Diskriminierung und gegenseitigen Unbehagens einher. Die NS-Verfolgung der Sinti entwickelte sich direkt aus dieser alltäglichen Diskriminierungspraxis und bestand aus praktischen Maßnahmen, die bewusst auf die „Eigenart“ der „Zigeuner“ zugeschnitten waren. Die Holocaust-Erfahrung deutscher Sinti und Roma lässt sich in der Folge nicht nur als geschlechtsspezifisch beschreiben, sondern durchaus als ein Leiden am Geschlecht. Dieses Leiden setzte bereits in der Mitte der 30er Jahre ein und dauerte auch in Auschwitz an – dort, wo wir gewohnt sind, die radikalsten Folgen eines radikalen Nivellierungsprozesses unter den Geschlechtern zu suchen.

Ab Mitte der 30er Jahre häuften sich Beschwerden gegen die Sinti aus der Bevölkerung, sowohl in den Städten als auch auf dem Land. Die Einschränkung ihrer Erwerbsmöglichkeiten im Zuge der Wirtschaftskrise und durch verschärfte Polizeikontrollen ließ viele fahrenden Sinti von sich aus das Reisen einstellen. Zu gleicher Zeit fingen manche Gemeinden an, „Zigeunerlager“ einzurichten, denen Sinti-Familien, soweit sie als solche auffielen, mehr oder weniger zwangsmäßig zugeführt wurden. Im Oktober 1939 verfügte das Reichssicherheitshauptamt, dass „Zigeuner“ von nun an ihren Wohnort nicht mehr verlassen dürften und in besonderen Sammellagern unterzubringen seien. Unter diesen Bedingungen kam es für ehemals fahrende Sinti und Roma zu einer erzwungenen Umkehrung vertrauter Geschlechterrollen. Die traditionelle Arbeitsteilung bei fahrenden Sinti bestand darin, dass Frauen durch Hausieren und Wahrsagen das eigentliche Familieneinkommen verdienten, während Männer die Geschäfte der Familie verwalteten und gelegentlich mit teueren Objekten handelten. Männliche und weibliche Ehre definierten sich u.a. über diese Arbeitsteilung.6 Nunmehr wurde Wahrsagen und Hausieren verboten, während Männer und Jugendliche zu Schwerarbeit zwangsverpflichtet wurden. Die Politik des NS-Staates ging dahin, die geschlechtsspezifischen Stereotype – „Zigeunerin“ als Bettlerin, möglicherweise als Dirne, „Zigeuner“ als zügellose Arbeitsscheue und Gauner –, die sich als Zerrbild realer kultureller Praktiken entwickelt hatten, in brutaler Weise den „Zigeunern“ aufzudrücken und gleichzeitig strafbar zu machen.

Zu den miserablen Lebensverhältnissen in den Zigeunerlagern kam in den Kriegsjahren ein gesteigertes Maß an alltäglichem Terror seitens SS und Polizei neben demütigenden Verhören und körperlichen Untersuchungen durch Mitarbeiter der RHF. Dabei waren schon vor dem Krieg die Sinti, vor allem die Sintizzas, zu sexualisierten Schauobjekten der Polizei und der Presse gemacht worden – ein weiteres Beispiel dafür, wie die NS-Verfolgung die geschlechterpolitischen Konsequenzen, die im bereits vorhandenen ambivalenten Verhältnis zwischen Sinti und der Mehrheitskultur implizit waren, zwangsmäßig auf eine Pointe forcierte (bzw. radikal zu verwirklichen tendierte). Einmal „erfasst“, konnten die Mädchen quasi von Staats wegen gezwungen werden, die „Zigeunerinnen“ zu spielen, die sie sein sollten. Auch außerhalb der Lager fanden sich Sintizzas Verdächtigungen und Belästigungen sexueller Art ausgesetzt.

„Zigeuner“ im „Familienlager“

Die sexuelle Gefährdung der Frauen und Mädchen und die psychische Belastung, die für die Männer in der Unfähigkeit bestand, die Frauen der eigenen Gruppe vor sexuellen Übergriffen zu schützen, setzten sich in Auschwitz-Birkenau fort, nachdem Himmler im Dezember 1942 verordnet hatte, dass „Zigeunermischlinge, Rom-Zigeuner und balkanische Zigeuner“ in ein Konzentrationslager einzuweisen seien. In Auschwitz-Birkenau erlebten die Sinti und Roma zunächst keine umfassende Selektion, obwohl bei auftretenden Seuchen Einzelselektionen vorgenommen und die Ausselektierten vergast wurden. Ansonsten wohnten Männer, Frauen und Kinder bis zu dessen Auflösung im August 1944 zusammen im sogenannten Familienlager. Hier bestand erst recht die tödliche Gefahr, sich der Macht der SS-Männer entgegenzusetzen, während man die Wirklichkeit der sexuellen Gewalt an den eigenen Familienmitgliedern nicht übersehen oder verdrängen konnte – gerade weil Männer und Frauen zusammen hausten. Es bestand eine Art Entmannung auch darin, dass das Verhältnis unter den verschiedenen Generationen von Männern durch das Lagerrégime auf den Kopf gestellt wurde. Wie die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung waren auch die für Sinti typischen patriarchalischen Autoritätsstrukturen durch die Verfolgung radikal in Frage gestellt. Als Funktionshäftlinge wurden nämlich meistens die männlichen Sinti gewählt, die schon im Militärdienst standen, als sie aufgefangen und deportiert wurden. Dies waren aber jüngere Männer, die unter normalen Umständen der Autorität ihrer Väter und Großväter unterstanden hätten. Indem diese Funktionshäftlinge nun die Verfügungsgewalt über ganze Familiengruppen zugewiesen bekamen, mussten die älteren Männer den Verlust der ihnen herkömmlich gebührenden Macht als Ehrverlust und somit als verwundete Männlichkeit erleben.

Einen tätlichen Eingriff in die Geschlechtlichkeit bedeuteten die Zwangssterilisierungen – rassenhygienische wie experimentelle –, die schon 1936 begannen. Zu den Männlichkeitserfahrungen der Sinti gab es eine besonders ironische Episode: Bei der Auflösung des Familienlagers im Sommer 1944 wurden ehemalige Soldaten – gerade die Gruppe, die als Funktionshäftlinge eine zwiespältige Macht hatten ausüben können bzw. müssen – nach Ravensbrück transportiert, um dort sterilisiert zu werden. Dann „durften“ sie sich wieder für den Dienst an der Front melden (was meistens hieß: in einem Straf- oder Selbstmordbataillon). Die Zwangssterilisation, die an Männern und Frauen verübt wurde, war deshalb besonders traumatisch für Sinti, weil die Fortpflanzungsfähigkeit der oder des Einzelnen und die biologische Kontinuität des Familienverbands Hauptquellen von Identität und wesentliche Grundformen ihres sozialen Kapitals waren. Nach dem Krieg lebte die Erwartung, die Familie fortzusetzen, unverändert fort, ja die vorangegangenen Leiden und Verluste verstärkten diese Erwartung, was die Verarbeitung dieses Traumas besonders erschwerte.7

Aber schon die Tatsache, dass in Auschwitz-Birkenau Familien zusammenleben durften, führte zu Umkehrungen kultureller Erwartungen und Verstößen gegen Normen, die für Frauen in ihrer kultur- und generationenspezifischen Weiblichkeit genauso traumatisch waren wie für Männer. Für alle Frauen, die in KZs kamen, war es demütigend und beängstigend, sich nackt vor SS-Männern zeigen zu müssen. Manche Sintizza musste dies allerdings schon im Vorfeld der Deportationen erleben, indem sie in nacktem Zustand von den „Rassen“wissenschaftlern vermessen wurde. Auschwitzzeugnisse von Sinti betonen auch die Tatsache, dass Männer und Frauen aus der selben Familie nackt voreinander stehen bzw. ihre Notdurft verrichten mussten. Besonders schrecklich gewesen sei, dass ältere Frauen, denen besonderer Respekt gebührte, dabei dem Blick junger Männer nicht entgehen konnten – schrecklich sowohl für die älteren Frauen (von denen die meisten die ersten Wochen im Familienlager nicht überlebten) als auch für die Männer in deren Erinnerung.

Selbst in Auschwitz konnten Sinti und Roma der Macht des erotisierenden Fremdbilds nicht entkommen. Gerade das Zusammenleben von Männern und Frauen im Familienlager regte die Fantasien anderer Häftlinge an. So berichtete ein politischer Häftling, der die Kapelle im Familienlager leitete: „Well, it was the biggest whorehouse in the world, you have no idea. The first, they can keep their hair, and their clothing, not like us.“8 Andere „Insider“ des Familienlagers (wie die jüdische Kinderärztin Lucie Adelsberger) berichten glaubhaft von Liebschaften, Ehen und vom Kinderkriegen unter den Häftlingen sowie von Freiräumen, die neben den alltäglichen Gräueln weiter bestanden, zumal für weibliche wie männliche Funktionshäftlinge. Diese – potentiell positiven – Aspekte des Zusammenlebens bleiben in den Erinnerungen der Sinti weitgehend ausgespart.

In den Erinnerungen Überlebender, Männer wie Frauen, wird die Erfahrung sexueller Gewalt gegen Frauen ziemlich früh thematisiert, bei Frauen allerdings eher indirekt oder nebenbei, indem Handlungen anderer Art im Mittelpunkt stehen. Hier fällt auf, dass das Selbstbild weiblicher Häftlinge oft ein Stereotyp reproduziert. Zwei Erzählmotive, die in diesem Kontext wichtig sind, sind die Haare und der Tanz – beides Verweise auf Alltagspraktiken, die für das kulturelle Selbstverständnis der Sinti wichtig waren, an denen aber der erotisierende Blick der Gadje gerne hing. Beide können als Chiffre für (gefährdete) Sexualität, sexuelle Dienste oder sexuellen Missbrauch gedeutet werden.

Seit den späten 90er Jahren sind Erinnerungswerke erschienen, die etwas direkter und ausführlicher über Sex berichten. Zwei Beispiele dazu dazu möchte ich abschließend berichten, jeweils eines aus männlicher und weiblicher Sicht. Das erste stammt aus Otto Rosenbergs Memoiren Das Brennglas, die 1998 veröffentlicht wurden. Er berichtet an mehreren Stellen über sexuelle Gewalt gegen Frauen. Dabei geht es ihm immer implizit oder explizit darum, was die Geschlechtlichkeit „unserer Frauen“ für sein Handeln als Mann bedeutet hat. Was die Situation im Familienlager anbelangt, übernimmt Rosenberg fast wortwörtlich die Perspektive auf die Beziehung zwischen weiblicher Sexualität und männlicher Handlungsfähigkeit, die in der Aussage eines Kapos im Auschwitzprozess zu finden ist. Um zu erklären, wie es 1944 möglich war, dass die Sinti sich gegen den ersten Versuch der SS zur Wehr setzen konnten, das Familienlager aufzulösen, schreibt er: „[1944] Viele Blockälteste und Kapos hatten ja mit unseren Frauen Verhältnisse. Da wurden auch Kinder geboren. Also wollten sie die Vernichtung nicht. Sie wollten mit uns in den Kampf gehen. Also war es für die SS gefährlich.“9 Der Kapo Anton van Velsen hatte im Auschwitz-Prozess erklärt, wie es ihm gelingen konnte, eine Untergrundorganisation im Lager auszubauen: „Vom Standpunkt der SS aus war das Zigeunerlager gefährlich. Die Versuchung war wegen der Frauen und der Effekten groß. Es kam zu zahlreichen Schiebungen. Wir versuchten systematisch, SSler weichzumachen. Wir gaben ihnen Uhren, Ringe und Geld. Wenn sie genommen haben, dann waren sie nicht mehr so gefährlich.“10 Die eigene Sexualität als solche wird hier allerdings kaum thematisiert.

Differenz der Erinnerung

Anders die Memoiren von Lily van Angeren-Franz, 1997 auf Niederländisch und 2004 in einer deutschen Übersetzung veröffentlicht.11 Von dem Moment an, da sie, als 19-Jährige im Lager angekommen, merkt, dass es doch nicht so schlimm sei, jemandem etwas abzunehmen, erzählt sie ihre Holocausterfahrung als eine Art sexuelle Odyssee. Im Familienlager, wo sie in der Schreibstube arbeitet, ist jeder Tauschhandel sexuell gefärbt; ihr geht es darum – und anscheinend gelingt es ihr auch –, ihre „Ehre als Sintizza sicherzustellen“, so dass sie trotz einer Liebesbeziehung im Lager nach dem Krieg als Jungfrau heiraten kann. Zurücktransportiert nach Ravensbrück, muss sie hart lavieren, um „französischen Lesbierinnen“ aus dem Weg zu gehen, die ihr nachstellen. Und als Displaced Person in den ersten Monaten der alliierten Besatzung treibt sie sich von einem DP-Lager zum nächsten, bis sie ein Besatzervolk findet, das nicht von ihr verlangt, dass sie mit irgendeinem Mann oder gar mehreren Männern schläft.

An beiden Texten fällt auf: Während Männlichkeit bei Rosenberg sich anscheinend nur über die Sexualität anderer wiederherstellen lässt, stellt van Angeren-Franz ihre Selbstbehauptung in der Form des aktiven und souveränen Einsatzes der eigenen Sexualität dar. Warum gerade diese Frau zu diesem Zeitpunkt mit so ungewohnter Offenheit über Sexualität redet, lässt sich nur vermuten. Hinsichtlich der Frage, unter welchen Umständen eine solche Offenheit möglich wird, weist die Komplementarität der beiden Berichte auf den Charakter der Holocaust-, aber auch der Nachkriegserfahrungen deutscher Sinti und Roma. Die deutschen Sinti gingen nicht nur als Familien in die Vernichtung, sondern die wenigen Überlebenden kamen größtenteils als Familien in die Freiheit oder fanden nach Möglichkeit zu ihren Familien zurück. Anders als jüdische Displaced Persons hatten sie weder die Motivation auszuwandern noch gab es irgendwelche Institutionen, die für „Zigeuner“ ein neues Leben in einem anderen Land gefördert hätten. Sie suchten zerstreute Familienmitglieder zusammen und hofften, in ihren alten Heimatorten ihr Leben wieder aufzubauen, obwohl gerade dies ihnen selten gelang.12 Es wurde ihnen durch das Unverständnis, ja die Feindlichkeit der Mehrheitsgesellschaft und der Behörden erschwert, was die Familien vermutlich noch fester zu Not- und Solidargemeinschaften zusammenschweißte. Nehmen wir aber die Berichte ernst, die betonen – wie oben skizziert –, dass das Zusammensein im Familienlager selbst als eine Belastung erlebt wurde, dann liegt nahe, dass dies das Familienleben nach dem Krieg weiterhin belastete. Denn jeder und jede wusste, welche Kompromisse der oder die Andere eventuell eingegangen war, um das eigene Überleben und das der Familie zu sichern. Gerade die unterschiedlichen Überlebensstrategien, die Männern und Frauen zur Verfügung gestanden hatten, können zu gruppeninternen Spannungen geführt haben, die den Patriarchalismus verstärkten und es beiden erschwerten, über die eigenen Erfahrungen zu sprechen. Angesichts dieser Vermutung bleiben als Forschungsdesiderat Studien zum Nachkriegsalltag deutscher Sinti und Roma. Und es bleibt die Frage, inwieweit die zunehmende Mobilisierung von Frauen innerhalb der Organisationen der Sinti und Roma Folgen für den Umgang mit der Holocausterfahrung haben wird.

Anmerkungen

1) Micha Brumlik, Kein Weg als Deutscher und Jude. Eine bundesrepublikanische Erfahrung, München 2000, S. 193. Ein Beispiel für ein gelungenes Interviewprojekt: Heike Krokowski, Die Last der Vergangenheit. Auswirkungen nationalsozialistischer Verfolgung auf deutsche Sinti, Frankfurt a.M. 2001. Vgl. auch die Interviews mit zwei Romni aus dem Burgenland bei Helga Amesberger, Katrin Auer, Brigitte Halbmayr, Sexualisierte Gewalt, Wien 2004.

2) Ausführlich hierzu: Martin Luchterhandt, Der Weg nach Birkenau. Entstehung und Verlauf der nationalsozialistischen Verfolgung der „Zigeuner“, Lübeck 2000.

3) An Hand körperlicher Untersuchungen (Vermessungen, Bluttests, Einstufung von Haar- und Augenfarbe) sowie genealogischer Daten, die u.a. durch Interviews mit den Sinti und Roma selbst gesammelt wurden, sollte festgestellt werden, welche unter den (geschätzt) 25.000 bis 30.000 im Deutschen Reich lebenden „zigeunerischen Personen“ als „reinrassige“ oder „stammechte Zigeuner“ einzustufen seien und wer (und in welchem Grade) „Mischling“ sei.

4) Joachim S. Hohmann, Robert Ritter und die Erben der Kriminalbiologie, Frankfurt a.M. 1991, S. 287-91, 455-500, 505-53.

5) Marianne Hirsch, Täter-Fotografien in der Kunst nach dem Holocaust, in: Insa Eschebach, Sigrid Jacobeit, Silke Wenk (Hg.), Gedächtnis und Geschlecht. Deutungsmuster in Darstellungen des nationalsozialistischen Genozids, Frankfurt a.M. 2002, S. 203-26, hier 221.

6) Marta Adler, Mein Schicksal waren die Zigeuner, Bremen 1960; Hanns Weltzel, The Gypsies of Central Germany, in: Journal of the Gypsy Lore Society, 3rd Series, 18 (1938), S. 9–24, 73–80, 104–09, Jubilee Supplement (1938), S. 31–38.

7) Krokowski, S. 55, 151f, 108f.

8) Videoaufnahme Louis Bannet 1989, Yale University Library, Fortunoff Collection.

9) Otto Rosenberg, Das Brennglas, Berlin 1998, S. 17.

10) Hermann Langbein, Der Auschwitz-Prozeß, Neuausgabe Frankfurt a.M. 1995, S. 143.

11) Lily van Angeren-Franz, Polizeilich zwangsentführt, Hildesheim 2004.

12) Krokowski, S. 151.


Prof. Eve Rosenhaft ist Professor of German Historical Studies an der University of Liverpool. Sie arbeitet derzeit an einer Fallstudie zur NS-Verfolgung mitteldeutscher Sinti sowie an Projekten zur deutschen Kolonialgeschichte und zu Geschlechterverhältnissen im 18. Jahrhundert. Im Sommersemester 2005 hatte sie die Marie-Jahoda-Gastprofessur an der Ruhr-Universität Bochum inne; im Rahmen des Vortragsprogramms arbeitete sie zu den hier angesprochenen Fragen. (Besonderer Dank an die Autorin: Sie legte ihren Beitrag in exzellentem Deutsch vor. D. Red.)

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