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Integration und Ausgrenzung

04.01.2024: Die Blindenstudienanstalt Marburg und die NS-"Sozialhygiene"

  
 

Forum Wissenschaft 4/2023; Foto: Ground Picture / shutterstock.com

Seit gut 100 Jahren besteht die Blindenstudienanstalt in Marburg. Ursprünglich zur Rehabilitation kriegsversehrter Offiziere und Soldaten gegründet, leistet sie heute umfangreiche Beiträge zur Inklusion blinder und sehbehinderter Menschen in verschiedenen Sektoren der Schul- und Berufsbildung. Doch zur Geschichte der Blista gehört auch ihre Einbindung in die eugenische Politik der NS-"Sozialhygiene" mit gravierenden Folgen auch für ihre Schülerinnen und Schüler, wie Wolfgang Form berichtet.

Während der NS-Zeit wurden um die 320.000 Frauen und Männer nach dem "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses"1 zwangssterilisiert. Hinzu kommen viele Tausend Schicksale, bei denen die Erbgesundheitsgerichte der Meinung waren, es liege keine "Erbkrankheit" vor, sowie eine bislang noch unbekannte Anzahl von Fällen, bei denen es zu Untersuchungen gekommen war, aber kein Antrag zur Zwangssterilisation gestellt wurde. Das Gesetz wirkte in faktisch alle Lebensbereiche hinein. Jeder, der mit der Pflege oder Betreuung von Menschen zu tun hatte, musste einen potenziellen im Sinne des NS-Gesetzes "Erbkranken" einem Amtsarzt melden.

Dies galt für alle Arten von Ausbildungsstätten, wie auch für die in Marburg ansässige Blindenstudienanstalt (Blista).2 Sie verdankte ihr Entstehen der Behandlung von im Ersten Weltkrieg kriegsversehrten blinden oder stark sehbehinderten Soldaten und Offizieren. Ihnen sollten Möglichkeiten zur Teilnahme an einem selbstbestimmten Leben eröffnet werden. Im heutigen Verständnis war die zentrale Idee Inklusion, wenngleich das zunächst angedachte Klientel nur einen eher kleinen Teil sehbehinderter Menschen mit dem Fokus auf Abiturienten und Studierende betraf. Der Direktor der Augenklinik an der Philipps Universität Alfred Bielschowsky3 (1871-1940) organisierte unter dem Motto: Menschen mit Behinderung müssen gefördert und unterstützt werden, damit sie an der auf Menschen ohne (Seh-)Behinderung zugeschnittenen Welt teilhaben können u.a. blindentechnische Kurse und förderte die professionelle Herstellung spezieller Hilfsmittel für den Alltag und in Ausbildung und Beruf. In Marburg wurde ein Zentrum für das höhere Bildungswesen aufgebaut; vor allem, um Zugänge für ein universitäres Studium zu ermöglichen. In den ersten Jahren entstanden, neben einer Hochschulbücherei mit Blindenschriftbänden, eine Beratungsstelle und ein Wohnheim für blinde Studierende. Zudem arbeitete man an einem einheitlichen Blindenschriftsystem und der Umtragung von Druckwerken in Blindenschrift, das als genuine Voraussetzung der Teilnahme am gesellschaftlichen und beruflichen (studentischen) Leben angenommen wurde. Zu Beginn der 1930er Jahre wurde ein neues Verlagsgebäude der Blista in Marburg errichtet. Seit Anfang der 1920er Jahre bestand die Möglichkeit für Kriegsblinde eine qualifizierte Schul- und Berufsausbildung nachzuholen. Einige Jahre später konnten andere blinde und sehbehinderte Menschen ausgebildet werden. 1932 promovierte als wohl erste blinde Frau in Deutschland die vormalige Blista-Schülerin Emma Saludok an der Philipps-Universität Marburg.4 Sie stammte aus Litauen und war im Rahmen der Kampfhandlungen des Ersten Weltkrieges erblindet.

Nationalsozialistische Leitung

Teile des Blista-Leitungsgremiums wurden 1933 mit bekannten Marburger Nazi-Größen (z.B. dem Leiter des Hygiene-Instituts Wilhelm Pfannenstiel) besetzt. Der Blista-Direktor (ab 1927) Carl Strehl zollte dem NS-Terrorregime bereits im März 1933 seine Unterstützung und ließ eine Blindendruckausgabe von Adolf Hitlers Mein Kampf produzieren. Die Blista war personell in ein Netzwerk von Vereinen und Organisationen eingebunden - u.a. dem Verein blinder Akademiker Deutschlands (VbAD) und dem Bund erblindeter Krieger, der die Zeitschrift Der Kriegsblinde herausgab, die sich Ende 1933 für die Ausschaltung von "Fremdrassigen und erheblich Minderwertigen" aussprach und gegen jüdische Weltkriegsteilnehmer hetzte. Der VbAD führte im Juli 1933 den sog. "Ariergrundsatz" ein, der auf einem "blutsgebundenen" biologischen Abstammungskonzept, nachdem zur Mitgliedschaft nur "Arier" zugelassen wurden, basierte. Das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" wurde ausdrücklich begrüßt. Allen Mitgliedern und insgesamt allen Blinden wurde angeraten, selbst einen Antrag auf Sterilisation zu stellen, bevor dies von Amts wegen getan würde. Es ging im Selbstverständnis darum, "erbuntüchtige Schicksalsgefährten davor zu bewahren, die schwere Verantwortung auf sich zu nehmen, dass Kinder und Kindeskinder von einem gleichen oder ähnlichen Gebrechen befallen werden. Sie hoffen, dass durch diesen freiwilligen Verzicht auf Nachkommenschaft die Ausmerzung der erblichen Blindheit gelingt, und dass erhebliche Summen zur Beschulung, Ausbildung und Berufseingliederung blinder Geistesarbeiter der jetzigen und kommenden Generation frei werden."5 In der Stellungnahme wird im Folgenden eine intensive Lobbyarbeit für Blinde und schwer sehgeschädigte Menschen angestoßen, die auf drei Säulen aufbaute:

  • Blinde sind ein nützlicher Baustein der Gesellschaft und nur ein eher kleiner Teil ist erblich belastet. Selbst bei erblicher Belastung und erfolgter Sterilisierung unterscheiden sie sich nicht vom größeren Rest der Gruppe.
  • Blinde sind nicht geistig behindert, obwohl dieser Makel ihnen oftmals unterstellt wird.
  • Der Ausschluss blinder Menschen beraubt die Gesellschaft um wichtige intellektuelle Kapazitäten und ist zudem vom monetären Standpunkt nicht zu verantworten, denn gut ausgebildete Blinde verdienen ihr eigenes Geld und fördern so den Staat insgesamt.
  • 1935 wandte sich Carl Strehl in gleicher Sache an das Arbeitsministerium und erklärte: "Es wäre für die begabten Blinden, die in der Mehrzahl rassisch einwandfrei, erbgesund und seelisch-geistig hochwertig sind, eine unbillige Härte, wenn sie von den Segnungen der höheren Schule und dem Studium ausgeschlossen würden. Aber auch unter den Erbkranken gibt es rassisch einwandfreie, seelisch-geistig hochwertige Menschen, die nur durch einen höheren Schulbesuch einen Ausgleich für das schwere Gebrechen finden können, das ihnen ein unabwendbares Schicksal, an dem sie völlig schuldlos sind, aufgebürdet hat."6

    Der Inklusionsgedanke reduziert sich augenscheinlich auf die für den "Volkskörper" zu bewahrenden Bevölkerungsteile. Zudem müssten auch "Erbkranke" rekrutiert werden, da sie nach ihrer Sterilisation einen nutzvollen und einen im Sinn der NS-Sozialhygienemaßnahmen unbedenklichen Teil des "Volkskörpers" darstellten. Die Notwendigkeit eugenischer Maßnahmen wird grundsätzlich bejaht und zugleich darauf verwiesen, dass es für geistig rege und "rassisch einwandfreie" Blinde Aussichten auf eine qualifizierte Ausbildung bis hin zum Studium geben müsse. Im Umkehrschluss kann davon ausgegangen werden, dass ein solches Privileg nicht allen, vor allem nicht mental beeinträchtigten, Menschen zugesprochen werden sollte. Es wird ein dichotomes Weltbild vorgestellt, das kongruent zum völkisch-nationalen Gedankengut des NS-Regimes argumentierte und den sozialhygienischen Leitsätzen des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses entsprach. Auflösen lässt sich Schutz und Anklage in Sachen Erbgesundheit bei Carl Strehl nicht ohne weiteres. Er verhielt sich in dieser Angelegenheit zwiespältig. Einerseits bejahte er die Erbgesundheitslehre als richtig und gut und unterrichtete anfragende Schüler regelmäßig über den Umstand, dass sie, falls sie erbkrank wären, keine Unterstützung bekommen würden. Andererseits wollte er seine Klientel, die blinden Schüler und Schülerinnen, nicht außerhalb des Fokus schulischer Förderung sehen.

    Leitbild Eugenik

    Im Duktus eindeutiger unterbreitete der Marburger Hygieniker Wilhelm Pfannenstiel seine Vorstellung über die Aufgabe und Funktion der Blindenstudienanstalt. Auf der Sitzung vom 20. Februar 1933 erklärte er, es gäbe in Marburg keine bessere Institution, die er den Studenten als Beispiel für gute Sozialhygiene zeigen könne, als die Marburger Blindenstudienanstalt. Im Manuskript einer Rede vom Dezember 1935 beschwor er, jeder Erbgesunde habe die Pflicht, darauf bedacht zu sein, dass ihm von seinen Vorfahren zu treuen Händen anvertraute Erbgut nicht durch Keimgifte zu schädigen. "Der Träger eines erblichen Defekts hat dagegen die heilige Pflicht, dafür Sorge zu tragen, dass sein Defekt nicht weitervererbt wird, damit mit ihm die Kette der Vererbung abreißt zum Wohle seines Volkes."7 Pfannenstiel ging noch einen Schritt weiter und konstruierte eine natürliche, vom Schöpfer gegebene Grundkonstante der Erbgesundheit - auch für Blinde. Dies rechtfertige Zwangssterilisationen, denn die Menschheit hätte sich insoweit verselbstständigt, dass sie gegen die naturgegebene Ordnung verstoße. Diesen Missstand gelte es mit staatlichen Eingriffen zu bereinigen. Daraus resultiere das Verbot der Heirat zwischen "Erbgesunden" und sterilisierten "Erbkranken", was auch für einen Teil der Blinden gelte.8

    Das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" traf im überregionalen Maßstab verhältnismäßig wenige blinde Menschen. Das Gros der Opfer kam wegen so genanntem "angeborenen Schwachsinn" oder Schizophrenie in die Mühlen der "Erbgesundheitsp?ege". Beim Gesundheitsamt Marburg gingen zwischen 1934 und dem Zweiten Weltkrieg 69 Anzeigen wegen "erblicher Blindheit" ein.9 Davon kam keine aus der Blindenstudienanstalt. Das verwundert zunächst, weil man annehmen könnte, dass eine Ausbildungsstätte für Blinde unmittelbar in die NS-Erbgesundheitsp?ege involviert gewesen sei. Zwar waren Ärzte, die Leitung von Krankenhäusern, sonderschulischen Einrichtungen (wie die Blista) oder Heil- und Pflegeanstalten verpflichtet, Hinweise zu melden, jedoch handelte die Blista für Personen, die ab 1934 aufgenommen wurden, im Bereich der Nachrangigkeit. Was bedeutete, dass ein Antrag auf Aufnahme immer mit dem Nachweis belegt sein musste, nicht erbkrank zu sein oder bereits die Mühlen der Erbgesundheitsgesetzgebung durchlaufen zu haben, was im Zweifel bedeuten konnte, zwangssterilisiert worden zu sein. Allerdings musste jede*r Schüler*in regelmäßig augenärztlich untersucht werden. Nur für Schüler*innen und Beschäftigte, die vor 1934 an der Blindenstudienanstalt unterrichtet wurden oder hier arbeiteten, konnte es in Marburg zum ersten Kontakt mit dem NS-Sterilisationsgesetz gekommen sein. Wobei es nur die Gruppe der so genannten Zivil- oder Friedensblinden betraf, denn die während des Weltkrieges Erblindeten waren ausgeklammert, da sie nicht unter das NS-Sterilisationsgesetz fielen.

    Es ist davon auszugehen, dass ab 1934 jede Schülerin und jeder Schüler eine Bescheinigung vorweisen musste, dass keine Erbkrankheit vorliege. Die Ermittlung von Opfern des Gesetzes im Schulzweig der Studienanstalt ist schwierig. In der Überlieferung der Erbgesundheitsgerichte in Hessen findet sich nur ein Fall.10 Die Durchsicht einschlägiger Unterlagen des Gesundheitsamtes Marburg ergab 21 Hinweise auf Betroffene aus der Blindenstudienanstalt. Es lassen sich drei Situationen unterscheiden:

    (1) Ermittlungen

    Nach Anzeige beim Amtsarzt kam es zu Nachforschungen. Kamen Augenärzte in ihren Gutachten zum Ergebnis, dass der Proband nicht an einer erblichen Erblindung litt (sieben Fälle), waren keine weiteren Schritte zu erwarten. Wahrscheinlich ist, dass nach einer Anzeige und der augenärztlichen Untersuchung kein Antrag beim Marburger Erbgesundheitsgericht erfolgte. Typisch ist die Geschichte des 19-jährigen Hans I. Er befand sich 1934 in der Blindenstudienanstalt und wurde in der Universitätsaugenklinik wegen angeborenem Grauen Star begutachtet.11 Der Fall kam nicht vor das Erbgesundheitsgericht. Es sind auch Fälle überliefert, bei denen das Gericht einem Antrag nicht folgte und eine Erblichkeit verneinte. Den Betroffenen stand damit einer Aufnahme an der Schule nichts im Weg. Christiane G. kam 1935 nach Marburg, um sich zur Stenotypistin ausbilden zu lassen. Der gutachtende Augenarzt diagnostizierte, es liege ein doppelseitiger Bouphtalmus (grüner Star) vor. Für das Gericht waren die Untersuchungsergebnisse nicht eindeutig genug und es lehnte den Antrag ab. Ähnlich erging es Wolfgang E., einem jungen Mann mit Albinismus und starker Sehschwäche, der sich 1936 bei der Blista vorstellte. Strehl forderte seine Familie auf, ein Zeugnis über seine Erbgesundheit vorzulegen. Die Zwangssterilisation wurde abgelehnt, weil er über ein Restsehvermögen verfügte.12

    (2) Zurückstellung

    Während des Krieges sollten Sterilisationen nur in Ausnahmefällen angeordnet werden. Aus diesem Grund kam es zu Zurückstellungen von Anträgen beim Erbgesundheitsgericht (sechs Fälle), wie das Schicksal von Erich D. belegt. Er war seit Ostern 1943 an der Studienanstalt. Im Oktober musste er sich in der Universitätsaugenklinik untersuchen lassen. Der Amtsarzt entschied daraufhin: "Da zwar nach dem Gutachten […] von 8.10.1943 mit großer Wahrscheinlichkeit eine Erbkrankheit im Sinne des Gesetzes bei [ihm] vorliegt, [da] eine sichere Entscheidung wegen der eingetretenen Komplikationen […] jedoch nicht mehr zu tre?en ist, ist zurzeit kein Antrag auf Sterilisierung zu stellen. Es ist nichts weiter zu veranlassen".13 In den Personalunterlagen des Auszubildenden findet sich der Hinweis: "Wiedervorlage 1947".

    (3) Zwangssterilisation

    Es gab Eugenik-Opfer unter den Schüler*innen der Blista. Allerdings finden sich dazu kaum Hinweise in den Schülerakten. Es ist zu vermuten, dass sie nach Ende des NS-Regimes entfernt wurden. Schüler*innen hatten ab 1934 einen Nachweis über ihren "Vererbungsstatus" beibringen müssen, der Teil der Schülerakte war.

    Die eugenische Praxis an der Blista spitzte sich mit dem "Anschluss" Österreichs und der Okkupation des Sudetenlandes merklich zu, da nun deutlich mehr Menschen die deutsche Staatsbürgerschaft hatten. Ein erschütterndes Beispiel sozialhygienisch determinierter Inklusion belegt das Schicksal der aus Karlsbad stammenden 38-jährigen Klavierlehrerin Emma K. Sie besuchte ab April 1940 die 1-jährige Handelsschule der Blista. Im Gutachten über ihren Lernerfolg wurde ihr Fleiß und Förderwürdigkeit attestiert. Im Frühjahr 1941 änderte sich ihre Situation grundlegend, denn sie wurde schwanger. Emma K. war zwar von Geburt an blind, allerdings hatte der Marburger Amtsarzt nicht abgeklärt, ob sie unter das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses fallen würde. Zum Zeitpunkt ihres Umzugs nach Marburg war das Erbgesundheitssystem im Sudetenland erst seit wenigen Wochen in Gang gesetzt worden. Emma K. war schon in der zweiten Hälfte ihrer Schwangerschaft als das Marburger Gericht 17. Juni 1941 entschied, sie in der Universitätsfrauenklinik sterilisieren zu lassen. Gleichzeitig sollte die Schwangerschaft unterbrochen werden. Der Eingriff fand am 2. Juli 1941 statt. Im Abtreibungs- und Sterilisationsbericht wurde vermerkt: "Länge des Fötus 18 cm."14

    Blista-Direktor Strehl war über die tatsächlichen Hintergründe umfänglich informiert. Seine Meinung über Emma K., die er zunächst wohlwollend unterstützt hatte, änderte sich. Aus einer feinsinnigen und lernbereiten Schülerin wurde ein Negativbild. Zum Ende des 1. Ausbildungsjahrs attestierte er ihr noch eine gute Zukunftsprognose. Nach Bekanntwerden der Schwangerschaft und den oben beschriebenen Zwangsmaßnahmen sollte sie in Strehls Augen keine Aussichten auf eine Weiterqualifizierung und darüber hinaus einen schlechten Einfluss auf die Mitschülerinnen haben. Er bat den Reichsstatthalter im Sudetengau, Frau K. nach den großen Ferien nicht mehr nach Marburg zurückkehren zu lassen, da sie infolge ihrer charakterlichen Veranlagung und ihres sittlichen Verhaltens der Jugend nicht als Vorbild dienen würde.

    Von Eugenik zur Euthanasie

    Das Beispiel belegt das Verschwimmen der Grenzen zwischen Eugenik und Euthanasie, zwischen Zwangssterilisation als generativ wirkende sozialhygienische Maßnahme und Behindertenmord. Beide Ausprägungen gehen von der Aufwertung, der "Gesundung" der Menschheit (Betterment of Menkind15) bzw. der Bewohner*innen eines Staatengebietes durch administrative Maßnahmen aus. Zwangssterilisationen beheben den "natürlichen Fehler" durch aktive Geburtenkontrolle. Euthanasie hingegen zielt auf die sofortige Ausmerzung, die Ermordung von Menschen mit körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderungen. Für NS-Rasseideologen waren Menschen mit in ihren Augen erblichen Makeln so lange von Nutzen, wie ihre Schaffenskraft gesamtgesellschaftlich nützlich erschien. Es sollten möglichst keine "neuen" Negativfälle mehr "produziert" (geboren) werden. Emma K. blieb am Leben, aber ihr Kind durfte nicht zur Welt kommen. Inklusion spielte insoweit eine Rolle, wie gesellschaftlicher Surplus generiert werden konnte bzw. es gesellschaftspolitisch opportun erschien, wie das Beispiel Blista zeigt. Darüber hinaus sollte Behinderung Kosten nur im Privaten erzeugen. Sobald es zu einer stationären Einweisung kam, war nach der NS-Einschätzung weder ein maßgebliches gesellschaftliches Surplus noch Kostenneutralität gegeben, geschweige denn inklusive Ansätze zu verfolgen. Insassen von Heil- und Pflegeanstalten sind bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges geduldet worden, wenngleich sie auch vorher Stigmata wie "Ballastexistenz" oder "unwertes Leben" ausgesetzt waren. Mit der Aktion T4, dem systematischen Massenmord an Menschen mit Behinderung, verschob sich die NS-"Sozialhygiene" vom Ausschließen zum Ausmerzen.

    Anmerkungen

    1) Arthur Gütt, Ernst Rüdin, Falk Ruttke 1934: Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Gesetz und Erläuterungen, München.

    2) Zur Geschichte vgl. Klaus-Peter Friedrich 2017: Die blista im Nationalsozialismus, Marburg.

    3) Kurzbiographie zu Alfred Bielschowsky, in: Hessische Biografie www.lagis-hessen.de/pnd/119225476.

    4) Emma Saludok 1933: Stilkritische Untersuchungen der Sonette der Elisabeth von Barrett-Browning im Verhältnis zu Rainer Maria Rilkes Übertragung, Marburg.

    5) Friedrich 2017 (s. Anm. 2): 63.

    6) Ebd.: 64.

    7) Blista Archiv Akte Nr. 55.

    8) Ebd.

    9) Dagmar Hilder 1995: Die Umsetzung des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" in der Landesheilanstalt Marburg, Marburg: 41.

    10) Staatsarchiv Marburg Best. 279 Marburg Nr. 179.

    11) Friedrich 2017 (s. Anm. 2): 66.

    12) Ebd.: 68.

    13) Ebd.: 66.

    14) Staatsarchiv Marburg Best. 226.1 Nr. 144.

    15) Gosney & Popenoe 1929: Sterilisation for Human Betterment, New York.

    Wolfgang Form, Dr. phil., Dipl. Politologe, Jahrgang 1959. Mitbegründer des Internationalen Forschungs- und Dokumentationszentrums Kriegsverbrecherprozesse an der Philipps-Universität Marburg und von 2003 bis 2022 dessen Geschäftsführer. Promotion 2003 zum Thema: Politische Strafjustiz in Hessen. Lehrbeauftragter an der Universität Marburg sowie den Hochschulen FU-Berlin, Kiel und Wolfenbüttel. Forschungsgebiete: Entwicklung des Völkerstrafrechts, Geschichte der Kriegsverbrecherprozesse seit 1945, NS-Bevölkerungspolitik und Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg.

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