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Klaus Holzkamp

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Wissenschaft im Exzellenzsystem

22.06.2017: Zwischenbetrachtung und Ausblick

  
 

Forum Wissenschaft 2/2017; Anthony / fotolia.com

Auf der Mitgliederversammlung des BdWi am 22. April 2017 in Hamburg stand die Auseinandersetzung mit der Exzellenzstrategie im Mittelpunkt ausgiebiger und intensiver Diskussionen. Kenntnisreichen Input hierfür lieferte Tilman Reitz mit seinem Referat über "Wissensentwertung durch Statuswettbewerb - Zur Kritik der Exzellenzstrategie", auf dem die folgende verschriftlichte Fassung beruht.

Die deutsche Hochschulpolitik setzt anhaltend auf Wettbewerb. Die Folgen werden am Fall der Exzellenzstrategie exemplarisch begreifbar; eine Zwischenbetrachtung kann also nützlich sein.

Die Spitze des Förder-Eisbergs

Nachdem das Kooperationsverbot von Bund und Ländern im Bildungssektor gefallen ist, wurde 2016 als erstes gemeinsames Programm beschlossen, die Exzellenzinitiativen zu verstetigen. Die Daten sind bekannt: In einem Antragswettbewerb werden insgesamt 533 Millionen Euro pro Jahr auf 45 bis 50 Exzellenzcluster und 8 bis11 Exzellenzuniversitäten verteilt, die Förderperiode beträgt nun sieben Jahre, eine periodisch verlängerte Förderung einzelner Standorte ist möglich. Das ist nicht nur zeitlich ein großzügiger Rahmen. Auch die Summe fällt im Vergleich zu anderen (nachfolgend beschlossenen, kompensatorischen) Programmen hoch aus: Für "Innovative Hochschulen" unterhalb der Exzellenzschwelle wollen Bund und Länder ein Zehntel der Exzellenzgelder ausgeben (bis zu 550 Millionen Euro für zehn Jahre); eine Förderlinie, die 1.000 Tenure-Track-Stellen schaffen soll, umfasst 1 Milliarde Euro für 15 Jahre, also ca. 67 Millionen jährlich. Kostspieliger als die Exzellenzstrategie sind in der deutschen Hochschulpolitik nur die (dennoch unzureichenden) Ansätze, für stark gewachsene Studierendenkohorten zu sorgen: Der Hochschulpakt 2020 umfasst um die 1,9 Milliarden jährlich, die SPD schlägt für seine auf Dauer gestellte Fortsetzung sogar 3,3 Milliarden pro Jahr vor - die CDU will allerdings gar keine prinzipielle Regelung versprechen, sodass man sich in der Mitte einigen könnte.

Die "Spitzenforschung" bleibt damit das prominenteste, symbolträchtigste und sogar am besten abgesicherte Stück der bundesdeutschen Hochschulpolitik. Heute wie vor einem Jahr fragt sich, ob dies Forschung und Lehre nur gut tut. Die kritischen Argumente dazu sollen im Folgenden noch einmal zusammengefasst werden. Da die Exzellenzstrategie nun aber kaum mehr rückgängig zu machen ist, will ich anschließend einen Schritt weiter gehen: Zu analysieren und zu bekämpfen ist nicht bloß ein folgenreiches Programm, sondern ein Exzellenzsystem, das inszenierte Wettbewerbe, Prestigekonkurrenz und durch beides legitimierte Hierarchisierungen in allen Bereichen des Hochschulbetriebs einschließt. Mit diesem System haben wir ständig zu tun, und anders als die Exzellenzstrategie lässt es viele Lücken, an denen Widerstand und Gegenstrategien ansetzen können.

Verfehlter Lösungsansatz, neue Probleme und hidden agenda

Anfang 2016 hat eine von der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz eingesetzte, zumeist nach ihrem Leiter Dieter Imboden benannte Kommission eine Evaluation der ersten beiden Exzellenzrunden vorgelegt. Sie kam dabei zwar zu einer Empfehlung, benennt aber in ihrer Darstellung vor allem Probleme des deutschen Hochschulsystems, die durch das Programm kaum gelöst werden. Im lockeren Anschluss an den Kommissionsbericht lassen sie sich in folgender, von Konsensuellem zum eher Umstrittenen aufsteigender Ordnung auflisten:

  • Unstrittig problematisch sind die ständig schlechter werdenden Betreuungsrelationen an deutschen Hochschulen; von 2000 bis 2014 hat sich die Quote von 59 auf 72 Studierende pro Professur erhöht,1 während sich etwa die Schweiz auf deutlich unter 1:40 vorgearbeitet hat.2 Die Überlastung schadet nicht nur der Lehrqualität, sondern schränkt auch empfindlich die Zeit ein, die für Forschung verfügbar ist.
  • Einen großen Teil der Lehrlast bewältigt der Mittelbau oder "Nachwuchs", dessen zunehmend prekäre Beschäftigung inzwischen weithin als Problem erkannt ist. Der Imboden-Bericht betont die "Flaschenhalsproblematik", also das Problem, dass "einer hohen Zahl qualifizierter und befristet angestellter Nachwuchswissenschaftler_innen eine geringe Zahl von Professuren bzw. sonstiger Dauerstellen gegenübersteht",3 und urteilt: "Die Situation ist insofern nicht ganz frei von Zynismus, als die Universitäten immens davon profitieren, dass sich eine große Zahl junger Menschen darauf einlässt - in der Hoffnung auf eine akademische Karriere - die produktivsten Jahre ihres Lebens auf schlecht bezahlten und befristeten Post-Doc-Stellen zu verbringen."4
  • Weniger direkt, aber ebenfalls deutlich lässt der Bericht sehen, dass der kontinuierlich erhöhte Anteil der "Drittmittel" bzw. antragsbasierter, zeitlich befristeter Projektgelder an der deutschen Hochschulfinanzierung nicht wirklich forschungsförderlich ist. Diese Entwicklung benachteiligt nicht nur die Hochschulen gegenüber außeruniversitären Forschungseinrichtungen,5 sie erschwert langfristige Planung und bindet viel Arbeitszeit für das bloße Verfassen von Anträgen. Auch dies wird bis in die offiziellen Förderorganisationen hinein als Problem wahrgenommen.
  • Eher umstritten ist dagegen, ob die mutmaßlich geringe internationale "Sichtbarkeit" der deutschen Forschung ein Problem darstellt. Der Imboden-Bericht stellt diese These aufgabentreu an den Beginn seiner Darstellung, doch in großen Teilen der Wissenschaft wächst die Kritik an den Medien der Sichtbarkeit. Während globale Hochschulrankings so intransparent und unspezifisch sind, dass man ihnen sachlich nicht trauen kann, bindet die um sich greifende Ausrichtung auf Zitationsindizes die Forschung an ein begrenztes Spektrum viel gelesener (bzw. überhaupt bibliometrisch erfasster) Zeitschriften und setzt die Forschenden oft unter desaströsen Erfolgsdruck.
  • Als Privatmeinung der Imboden-Kommission darf schließlich die Auffassung gelten, das deutsche Hochschulsystem leide an mangelnden Spielräumen für eine gestaltende, durchgreifende "Governance" durch die Hochschulleitungen. Ebenso kann man hier fortgeschleppte Demokratiedefizite sehen.
  • Versprechen Exzellenzinitiativen und -strategie auf diesen "Baustellen" Lösungen? Bereits im Überblick zeigt sich, dass sie eher Teil des Problems sind. Erste Fortschritte gibt es nur in der internationalen "Sichtbarkeit"; schon die "Governance" der Hochschulleitungen (oder der Gremien akademischer Selbstverwaltung?) wird durch neue Macht-Cluster nicht unbedingt leichter. Die Probleme, über die Konsens herrscht, werden durch die Exzellenzförderung dagegen sämtlich eher verschärft:

  • Sie trägt maßgeblich dazu bei, den Drittmittelbetrieb zu adeln, und kann allenfalls durch ihre langen Laufzeiten Antragsvorbereitungszeit und -papier sparen helfen. Das Missverhältnis zwischen Projekt- und Grundmitteln bleibt bestehen (selbst Transfers zur Aufrechterhaltung des Lehrbetriebs sind von Exzellenzstandorten bekannt) und die Botschaft lautet weiterhin: Nur wer Projektgelder einwirbt, zählt etwas.
  • Im gleichen Zug wurde noch mehr "Nachwuchs" in den Wettbewerb um die knapp bleibenden Professuren geschickt. Die Exzellenzinitiative hat dazu beigetragen, dass der Druck im Flaschenhals steigt. Auch die Exzellenzstrategie wird nicht anders wirken, solange sie nicht von den Hochschulleitungen zum Anlass genommen wird, deutlich mehr Professuren und andere Dauerstellen als Projektstellen zu schaffen - und darauf werden sich höchstens Standorte einlassen, die sich ihres Exzellenzstatus besonders sicher sind.
  • Gerade bei dauerhafter Förderung verhält sich die Exzellenzstrategie allerdings besonders ungünstig zum Problem der Lehrüberlastung: Indem sie einige Standorte aufwertet, macht sie die Misere der Meisten zum Normalzustand. Sie verspricht "Spitzenforschung" in Deutschland, ohne dafür an der Mehrheit der Standorte die nötigen Voraussetzungen zu schaffen. Damit droht sie eine Aufspaltung des Systems zu befördern, bei der auf der einen Seite unterfinanzierte Massenlehrbetriebe stehen, während auf der anderen einige antragsbewährte Forschungsinseln übrig bleiben.
  • Der zuletzt genannte Punkt verweist darauf, dass die Exzellenzprogramme nicht nur bestehende Probleme verstärken, sondern auch neue schaffen - zumindest dann, wenn die mit ihr verfolgten Absichten realisiert werden. Der Imboden-Bericht spricht offen aus, dass es im Kern um "vertikale Differenzierung" geht: Einige Hochschulen sollen besser sein bzw. besser aussehen als andere - über mehr Ressourcen verfügen, stärkere Ausstrahlung haben, mehr qualifizierte Studierende und Forschende aus dem In- und Ausland anziehen. Das bedeutet, wenn nicht die Widerstände stärker sind als der Wettbewerbssog, die Hierarchisierung einer traditionell vielfältigen, vielerorts leistungsfähigen Forschungslandschaft. Und es bedeutet zusätzlich, wenn das mal heimliche, mal offen genannte Vorbild US-amerikanischer oder britischer "Spitzenhochschulen" nur ansatzweise erreicht wird, auch eine verstärkte soziale "Differenzierung" zwischen Oben und Unten: Universitäten werden dann in neuer Weise zum Medium, in dem ererbte Statusvorteile weitergegeben werden können.

    Mit etwas funktionalistischer Fantasie kann man hier sogar den wirklichen Sinn der Exzellenz verorten. Hochschulen vermitteln seit jeher soziale Privilegien, in Deutschland traditionell an die Akademikerklasse insgesamt. Wenn nun immer mehr Menschen an die Hochschulen drängen oder politisch dorthin gedrängt werden, bildet sich eine Sparte von "elite higher education" (Martin Trow) aus, wodurch sich die Privilegienvermittelung wieder in einigen Spitzenunis konzentrieren kann. Internationale Vergleiche zeigen, dass dieser Prozess durch verschiedene Traditionen beeinflusst wird und zuweilen auch mit leichter sozialer Öffnung einhergeht.6 In Deutschland hat die Hochschulpolitik jedoch zwei starke Motive, sozialen Ausgleich nicht wirklich auf ihre Agenda zu setzen: Das System muss bezahlbar bleiben, selbst wenn Vorstöße für Studiengebühren gescheitert sind - und die jährlichen 533 Millionen der Exzellenzstrategie sind eben weniger als die 1,9 Milliarden des Hochschulpakts oder 3,3 Milliarden seiner möglichen Fortsetzung. Zudem ist, wie man seit den späten 1960er Jahren weiß, bei schlichter Ausweitung des Hochschulzugangs auch eine ungeregelte Ausweitung kritischer Reflexion zu erwarten; im Bologna- und Exzellenzsystem wird diese Reflexion dagegen in den Massenbetrieben von vornherein durch Arbeit erstickt und an möglichen Elitestandorten durch Wettbewerb abgeschnürt.

    Exzellenz als System: Restrukturierung durch Konkurrenz

    "Exzellenz" ist nicht nur die schlechte Rückübersetzung eines englischen Wertungsbegriffs und der Name verfehlter hochschulpolitischer Programmlinien; man kann unter diesem Titel inzwischen eine Reihe von Tendenzen bündeln, durch neu eingerichtete Wettbewerbe neue akademische Hierarchien zu schaffen. Wer immer wissenschaftlich arbeitet, bewegt sich zunehmend im Exzellenzsystem, wenn auch meistens nicht auf der Gewinnerseite. Um es genauer zu begreifen, eignet sich eine Analyse der verschiedenen Arten von Wettbewerben, in die wissenschaftlich Arbeitende mittlerweile involviert sind.

    Vergleichsweise alt und unproblematisch ist der Wettstreit um neue Einsichten und bessere Argumente. Auch dass forschende Menschen u.a. Ansehen, Geld und Macht anstreben und andere dabei fallweise auszustechen versuchen, muss nicht zum Problem werden. Schwieriger wird es, wenn Wissenschaftstheorien einen Mythos generell produktiver und in jedem Sinn freier Konkurrenz aufbauen, um etwa zu behaupten, "dass der Fortschritt der Wissenschaft vom freien Wettbewerb der Ideen und somit von der Freiheit abhängt".7 Solche Äußerungen lassen sich besser aus antisozialistischer Politik erklären als sachlich rechtfertigen. Doch die Rhetorik des Kalten Kriegs verblasst angesichts der heutigen Wettbewerbsrealität, in der die Konkurrenz um Prestige, vorteilhafte Positionen und (selten direkt) ökonomischen Gewinn systematisch wissenschaftliches Handeln antreibt. Dies ist zunehmend der Fall, seit sich die Sozialtechnik durchgesetzt hat, Prestigemotive zur Wissenschaftssteuerung zu nutzen. Wenn allerorts um Impact-Faktoren, Projektgelder und Rankingplätze konkurriert wird, gewinnt der Status, dem man nachjagen muss, unabhängig von persönlichen Einstellungen die Oberhand über Erkenntnisziele.

    Der Prozess hat zwei Seiten, die sich wechselseitig verstärken: die politische Einrichtung von Wettbewerben und eine eher spontane Hackordnung. Auf die erste Seite fällt heute der Kampf um sogenannte "Drittmittel" und Projektförderung. Meistens geht es dabei nämlich nicht um privatwirtschaftlich bezahlte Auftragsforschung, und selbst außergewöhnlicher Finanzbedarf für Geräte, Befragungen, Archivrecherchen u.Ä. ist nicht mehr der zentrale Beweggrund dafür, dass Forschende Anträge für knappe Mittel stellen. Vielmehr hat es sich bei der Vergabe von Staatsgeld sukzessive bewährt, Forschung überhaupt zu legitimieren, indem viele "Projekte" beantragt und nur einige bewilligt werden; in jüngerer Zeit sind die Regierungen (besonders bei heiklen Zuständigkeiten wie in der EU oder in föderalen Systemen) dazu übergangen, unmittelbar Förderwettbewerbe zu veranstalten. Derart haben sie Quasimärkte geschaffen, die das weiterhin öffentliche Geld reibungslos in Forschungen leiten, die sich außerhalb der scientific community nicht leicht erschließen. Ein vermutlich nicht intendierter Effekt besteht darin, dass die Umstellung auf Projektwettbewerbe den Kampf um Macht, Prestige und gute Betriebsbedingungen nicht nur regelt, sondern erheblich verschärft - neben Antragszeit fließt einige strategische Intelligenz und affektive Energie in das neue Bewährungs- und Machtfeld. Zumindest willkommen war wohl ein zweiter Nebeneffekt: die mit Projektform verknüpfte Befristung wissenschaftlicher Arbeitsverträge, die es erlaubt, Personal flexibel zu binden und wieder loszuwerden - und die erhebliche Mengen unbezahlter Arbeit vor der Bewilligung freisetzt. (Auch für die "Ergebnissicherung" wird zuweilen wie selbstverständlich verlangt, dass man sich über die Projektlaufzeiten hinaus engagiert; der Hauptanreiz liegt aber natürlich - nicht unbedingt forschungsförderlich - im Versprechen zukünftiger Stellen.)

    Weniger reguliert ist in Deutschland bisher die Konkurrenz im Medium nicht-monetärer Kennzahlen, die andernorts bereits systematisch zur Mittelvergabe eingesetzt werden: um Publikationen in viel gelesenen Zeitschriften, die Zahl der Verweise auf diese Texte, generell der Erfolg in Peer-Reviews, die begehrten Rede- und Publikationsplätzen vorgeschaltet sind. Dieser Wettbewerb kommt dem Bedürfnis entgegen, einen eigenen Code für zugeschriebene Leistungsfähigkeit und legitime Hierarchien zu haben - anders als beim Einsatz von Geld oder Weisungen sind die direkt oder durchs Zitieren Auswählenden ebenfalls wissenschaftlich Tätige. Wo man nicht die Zeit hat, etwas selbst zu prüfen oder verschiedener Auffassung ist (typisch in Berufungskommissionen), genügt dann der Blick auf die quantitativ objektivierte Meinung Anderer. Doch auch Wissenschaftspolitik und -management, die sich als solche fachlich nicht auskennen, sind dankbar für beglaubigte Hinweise, wohin das Geld fließen soll. In ihrer Terminologie steigert dies besonders die (inter)nationale Wettbewerbsfähigkeit; häufig hört man hier wie im Professorenmilieu auch das darwinistisch-meritokratische Wort "Bestenauslese". Als Reaktion derer, die unablässig karriererelevant bewertet werden, ist eine Kultur der Forschungsfassaden absehbar: Sie engagieren sich genau dort, wo Belohnungen zu erwarten sind. Am deutlichsten zeigt sich das Missverhältnis von Bewertung und Inhalt in der (wenig transparent gestalteten) Aggregierung von Kennzahlen, Meinungen und Ähnlichem in globalen Hochschulrankings. Der wesentlich an Forschungskriterien gemessene Platz wird hier entscheidend dafür, dass man der erfolgreichen Institution auch besonders hochwertige Lehre zutraut, was die zahlungskräftige Klientel erweitert. Traditionsstandorte wie Stanford, Harvard, Cambridge oder Zürich können sich dann als eine Art Kennzahlen-Tabellenführer neu erfinden.

    Die Einführung wissenschaftlicher Quasimärkte hat diverse (und in ökonomischen Begriffen ausgedrückt: häufig "perverse") Struktureffekte. Drei besonders wichtige sollen abschließend genannt werden.

    Erstens wird der Wettbewerb im Exzellenzsystem zunehmend um Freiräume vom Wettbewerbszwang geführt. Wenn der status quo ante excellentia darin bestand, dass sich Forschende in Mittel- und Prestigekonkurrenz begeben konnten, müssen nunmehr alle, die wissenschaftlich arbeiten wollen, in Statuswettbewerben bestehen. Die Exzellenzstrategie spielt hier eine genau bestimmbaren Rolle: Wer nicht einen großen Teil seiner Zeit für ständige Bewerbungen einsetzen will, muss mit Großbewerbungen Erfolg haben (was allerdings gewöhnlich eine längere Projektkarriere voraussetzt und nicht ausschließt, dass nun der Repräsentationsaufwand im Erfolgsprojekt Zeit frisst).

    Zweitens droht sich der Kern wissenschaftlicher Auseinandersetzung von wechselseitiger Kritik auf Konkurrenz zu verlagern. Statt primär öffentlich die Wahrheitsansprüche Anderer (in der Wissenschaft oder auch außerhalb, zumal in der politischen Welt) zu bestreiten, richtet man sich im peer-review-basierten Wettbewerb vor allem darauf aus, die nichtöffentliche Kritik des zu Publizierenden zu bestehen. Um von den Gutachtenden nicht aussortiert zu werden, muss man vorauseilend einplanen, was sie möglicherweise am Manuskript auszusetzen haben werden. Das schließt (abgesehen von gleich zu erwähnenden Ausnahmen) ein, dass man sich um eine sorgfältig belegte, gut nachvollziehbare Argumentation bemüht. Doch es legt auch nahe, sich mit der Kritik an anderen Forschenden zurückzuhalten und politisch kontroverse Themen möglichst zu vermeiden.

    In den Naturwissenschaften, wo (proto)politischer Streit seltener ist bzw. sich eher an Verwendungskontexten als an Wahrheitsansprüchen festmacht, ist drittens ein anderer Effekt des Wettbewerbsdrucks auffällig geworden: die Frisierung von Ergebnissen auf publikationstauglichen Erfolg. Ein Anstieg nichtreplizierbarer Resultate, nachträglicher Korrekturen und schlichter Betrugsfälle ist belegt und wurde plausibel auf den Zwang zurückgeführt, möglichst viele publizierbare Texte und zitierbare Publikationen auf den Quasi-Markt zu bringen.8

    Obwohl die um sich greifenden und politisch vorangetriebenen Wettbewerbe fast den Zweck zu haben scheinen, Wissen quantifizierbaren Wert zu verleihen,9 entwerten sie es daher in doppelter Weise. Sie schränken die Mittel und die Handlungsfähigkeit der Vielen ein, die sich im Projekt- und Kennzahlenspiel nicht durchsetzen, und sie motivieren alle dazu, sich in der wissenschaftlichen Praxis in erster Linie um Statusgüter zu bemühen, deren Verbindung zu Erkenntnis im besten Fall ungesichert ist.

    Knappe Schlussbemerkung zu politischen Perspektiven

    Wenn die vorgelegte Analyse stichhaltig ist, bedeutet die Verstetigung der Exzellenzstrategie nicht das Ende aussichtsreicher Widerstandsmöglichkeiten. Zwar sind die Chancen, sich dem beschlossenen Programm zu widersetzen, zurzeit tatsächlich bescheiden. Keine auch nur in Ansätzen oder in ihrer Selbstwahrnehmung erfolgsfähige Einrichtung hat sich dem Antrag verweigert, sodass wissenschaftlich nur die Option bleibt, die angeblichen Erfolge kritisch zu prüfen und (was besonders in den Sozial- und Kulturwissenschaften naheliegt) fallweise der Lächerlichkeit preiszugeben. Auf Landesebene kann man außerdem versuchen, zusätzliche Bevorzugungen der (möglichen) Exzellenzstandorte zu verhindern, und man kann die Kritik der Strategie längerfristig in die Parteien tragen. Die eigentlichen Kampfgebiete liegen aber im breiter angelegten Exzellenzsystem. Wer dieses System ablehnt, um wieder angemessen forschen und lehren zu können, kann und muss mindestens gegen den Drittmitteldruck, gegen den Publikationsdruck und gegen prekäre Beschäftigung diesseits der neofeudalen Institution Professur vorgehen. In der Summe sehen diese Kämpfe überfordernd aus - doch keiner von ihnen ist schon entschieden.

    Anmerkungen

    1) Anke Burckhardt 2016: Professorinnen, Professoren, Promovierte und Promovierende an Universitäten. Leistungsbezogene Vorausberechnung des Personalbedarfs und Abschätzung der Kosten für Tenure-Track-Professuren, Fankfurt a. M.: 28.

    2) Ebd.: 29f.

    3) Internationale Expertenkommission zur Evaluation der Exzellenzinitiative (IEKE) 2016: Endbericht, Berlin: 27.

    4) Ebd.: 26.

    5) Ebd.: 29f.

    6) Vgl. Yossi Shavit, Richard Arum u. Adam Gamoran (Hg.) 2007: Stratification in higher education. A comparative study, Stanford/Cal.

    7) Karl Popper 2005: Logik der Forschung (1959 u.ö.), 11. A., hg. v. Herbert Keuth, Tübingen.

    8) Ferric C. Fang, R. Grant Steen u. Arturo Casadevall 2012: "Misconduct accounts for the majority of retracted scientific publications", in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 109: 17028-33.

    9) So die These von Simon Marginson 2008: A funny thing happened on the way to the k-economy. New world order in higher education: research rankings, outcome measures and institutional classifications, Paris.

    Tilman Reitz lehrt Wissenssoziologie und Gesellschaftstheorie am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Soziologie der Geistes- und Sozialwissenschaften, politische Theorie, Ästhetik und die Ökonomie der Wissensgesellschaft.

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