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Klaus Holzkamp

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Westdeutscher Staatsschutz

03.09.2013: Wenig Neues von Dominik Rigoll

  
 

Forum Wissenschaft 3/2013; Foto: photocase.com – Goulden

Der Konflikt zwischen Freiheit und Sicherheit bildet einen beständigen Spannungsbogen in Selbstverständnis und Alltagsrealität des bürgerlichen Staates und seiner Institutionen. Auch für die Gesellschaftswissenschaften besteht hier ein kontinuierlicher Forschungsgegenstand, zu dem schier unüberschaubare Mengen an Literatur publiziert wurden und werden. 2010 veröffentlichte Dominik Rigoll einen Abriss zur Geschichte des westdeutschen Staatsschutzes. Wilma Ruth Albrecht hat den Band kritisch gelesen.

Angesichts des Themas war ich an der Studie Rigolls interessiert. Das Lesen der etwa 480 Textseiten irritierte mich mehr und mehr durch die Fülle des ausgebreiteten Materials zu Personen, politischen Entscheidungen und gerichtlichen Urteilen. Das Resümee, das nur indirekt und auf Michel Foucault verweisend vorgetragen wird, fand ich ungenügend und abstoßend: "in der Bundesrepublik der Berufsverbote und des Deutschen Herbstes" hätte sich der "Rechtsstaat, in dem sich die Gesellschaft mittels Verrechtlichung unaufhörlich selbst diszipliniere" (478), offenbart.

Das stiftungsgeförderte Buch, dem ich als Leserin diese verschiedenen Gemütszustände verdanke, ist die 2010 an der FU Berlin vorgelegte und überarbeitete Dissertation des 1975 geborenen Zeitgeschichtlers

Dominik Rigoll: Staatsschutz in Westdeutschland. Von der Entnazifizierung zur Extremistenabwehr. Göttingen: Wallstein, 2013, 524 S. [= Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts 13], 39,90 Euro

Die Arbeit besteht aus vier Teilen: "I. Innere Friedenssicherung und antitotalitärer Dissens. Vom Wiederaufbau zur Wiederbewaffnung", "II. Liberalisierung ohne Lernprozess. Neujustizierung des Staatsschutzes in den sechziger Jahren", "III. Mehr Demokratie fürchten. Der Weg zur Neuauflage des Adenauer-erlasses" und "IV. Abkehr vom Westen? Der Extremistenbeschluss der siebziger Jahre". Hinzu kommt das übliche Verzeichnis von Quellen und Literatur, ein Personenregister sowie die Einleitung und der Schluss mit dem schon zitierten Resümee.

Abgebrochene Entnazifizierung und Restauration

Im ersten Teil geht es um die unterschiedlichen Interpretationen von Demokratie-, Verfassungs- und Staatsfeinden. Als solche galten unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund des Potsdamer Abkommens und der verschiedenen Kontrollratsgesetze ehemalige hohe Nationalsozialisten, Militaristen, Wirtschaftsführer und andere Positionsträger des faschistischen Staates. Ihr Einfluss auf den neu zu bildenden deutschen Staat sollte mithilfe der Entnazifizierung ausgeschaltet werden. Nachdem die Entnazifizierung mit dem "Befreiungsgesetz" Ende 1946 der Verantwortung der Deutschen übertragen wurde, entwickelte sie sich durch ihre Ausrichtung an einem rechtlichen Verfahren zu einem Instrument "der Rehabilitierung fast aller entlassenen Zivilbediensteten"(38).

Die 1945 neu gebildete "Auftragsverwaltung" bestand in den Westzonen vorwiegend aus bürgerlichen Politikern und rechten Sozialdemokraten und sodann aus Antifaschisten, Sozialisten und Kommunisten. Letztere standen damals noch nicht unter Verdacht, Staatsfeinde zu sein. Vielmehr stellten sie in den neu eingesetzten Regierungen Minister, kamen in kommunale Verwaltungspositionen und waren Lizenzträger von Presseorganen. Sie beteiligten sich auch an der Erarbeitung des Grundgesetzes und der Länderverfassungen.

Mit Marshallplan, Währungsreform, zunehmender politökonomischer Westorientierung und dem Beginn des Koreakrieges kamen wieder ehemalige nationalsozialistische Positionsträger zu Einfluss in Ministerien der Adenauerregierung, in staatlichen und kommunalen Polizeibehörden und im Justizapparat. Durch rechtliche Regelungen von Ausführgesetzen zu den Artikeln 131 und 132 des Grundgesetzes sowie der Beamtengesetze wurden ehemalige Nationalsozialisten rehabilitiert und in den Staatsapparat re-inkorporiert. Zugleich wurden Antifaschisten, Sozialisten und Kommunisten aus ihren Positionen in staatlichen und kommunalen Behörden verdrängt. Bei diesem erneuten "Elitenaustausch" spielte der angeblich fehlende Sachverstand eine zentrale Rolle - wobei der juristische Sachverstand im Besonderen in Kenntnis und Übernahme nationalsozialistischer Rechts- und Organisationskenntnisse bestand. Dafür steht Kurt Behnke, seit 1933 als Regierungsrat an der Säuberung des Staatsdienstes von Demokraten beteiligt und Kommentator der Reichsdienststrafordnung (64), im Bundesinnenministerium zuständig für das "Vorläufige Bundespersonalgesetz" (1950), das sich am Beamtengesetz von 1937 und anderen daraus abgeleiteten Bestimmungen orientierte; oder Josef Schafheutle vom Reichsjustizministerium und Mitverfasser des Sonderstrafrechtes von 1934 (65), im Bundesjustizministerium für den Entwurf eines politischen Strafrechtes zuständig, das auf dem Sonderstrafrecht von 1934 beruhte.

Nach 1950 setzte eine politisch gesteuerte und von der Presse begleitete massive Kampagne gegen Kommunisten, die angeblich einen Aufstand planten, ein, um die Wiederbewaffnung durchzusetzen und eine Bundespolizei zu gründen. Tatsächlich erlaubten die westlichen Alliierten im September 1950 die Gründung eines Außenministeriums, eines Bundeskriminalamtes, eines Inlandsgeheimdienstes und den Aufbau einer Bereitschaftspolizei in den Ländern. Am 19. September 1950 wurde der Adenauererlass verkündet: unter Bezug auf §3 des Vorläufigen Bundespersonalgesetzes für öffentliche Bedienstete wurde nun die Mitgliedschaft in Organisationen wie etwa der KPD, VVN, SRP (Sozialistische Reichs-Partei), Schwarze Front als "schwere Pflichtverletzung" und "Bestreben gegen die freiheitlich demokratische Staatsordnung" gewertet. Am 20. September 1950 wurde der ehemalige Nationalsozialist Hermann Weinkauff, zwischenzeitlich CDU-Mitglied, auf Initiative Thomas Dehlers (FDP) zum Präsidenten des neu eingerichteten Bundesgerichtshofes (BGH) berufen. Und im Dezember 1950 wurde Otto John vom Verschwörerkreis des 20. Juli 1944 mithilfe britischer Dienststellen zum ersten Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) ernannt.

Nun schien auch die Zeit der Remilitarisierung gekommen. Die auf Bitten der Alliierten erstellte Himmeroder Denkschrift über den Beitrag Westdeutschlands zu einer "europäischen Wehrmacht" wurde "unter maßgeblicher Mitwirkung einst am Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion beteiligter Wehrmachtsgeneräle"(91) erstellt. Sie forderte die "Freilassung der als ›Kriegsverbrecher‹ verurteilten Deutschen" (91); dem kamen die USA mit der Begnadigung der inhaftierten Militärs im Januar 1951 nach. Auch ein politisches Strafrecht wurde zugestanden; dieses trat mit "der Verabschiedung des Ersten Strafrechtsänderungsgesetzes am 31. August 1951" mit den Stimmen "der Regierungskoalition und der Mehrheit der SPD-Abgeordneten" (106) in Kraft. Durch dessen Bestimmungen in §§80 bis 101 war "alles, was Kommunisten unterstützten, sofort verfassungsfeindlich"(106).

Der BGH definierte in seinem Urteil vom 8. April 1952 die Verbindung zu SED, KPD und ihren Umfeldorganisationen als Hochverrat. Aufgrund dieser rechtlichen Bestimmungen wurde in der Zeit von Frühjahr 1952 bis Mai 1968 gegen 125.000 Personen ermittelt; etwa 7.000 Personen wurden zu - auch mehrjährigen - Haftstrafen verurteilt; es gab zahlreiche Berufsverbote im Staatsdienst (107). Schließlich wurden die im Adenauererlass und im Strafrechtsänderungsgesetz geprägte fdGO-Formel ins Presse- und Versammlungsrecht, ins Bundesentschädigungsgesetz (1953), ins Staatsangehörigkeitsgesetz (1957) und ins Ausländergesetz (1965) aufgenommen und auch über Urteile des Bundesdisziplinargerichts exekutiert.

Es muss niemand wundern, dass dieses gesellschaftspolitische Klima rechtsextreme und paramilitärische Organisationen wie die "Organisation Peters" und nationalsozialistische Unterwanderungspläne bürgerlicher Parteien wie der nordrheinwestfälischen FDP ("Naumannaffäre") begünstigte.

Der grundlegende staatspolitische Restaurationsprozess wurde abgeschlossen mit der Ernennung des ehemaligen NS-Juristen Hubert Schrübber zum Präsidenten des BfV nach dem Inkrafttreten des Deutschlandvertrages (1955), dem KPD-Verbot (1956) und dem Prozess gegen das Friedenskomitee (1959-1960), dem "größten politischen Prozess seit Nürnberg" (139). Diese Politik lässt sich an einem BGH-Urteil veranschaulichen: 1956, im Jahr des KPD-Verbots, entschied der Große Zivilsenat des damals obersten (bundesdeutschen) Strafgerichts im Zusammenhang mit der (Wieder-) Beschäftigung von im Nationalsozialismus "belasteten" Staatsdienern, den nach Artikel 131 des Grundgesetzes sogenannten Hunderteinunddreißigern, dass der nationalsozialistische Staat 1933-1945 "im Kern ein Rechtsstaat" gewesen sei1.

Gewiss gab es in diesem gesellschaftspolitischen Prozess auch abweichende Haltungen von Juristen, Politikern und Journalisten. Rigoll stilisiert diese in falscher Verallgemeinerung als "antitotalitärer Dissens" und verortet sie unzulässig vor allem in der Rechtsprechung zwischen BVG (Bundesverfassungsgericht) und BGH.

Liberalisierung und "Formierte Gesellschaft"

Im zweiten Teil geht es um die "Neujustierung des Staatsschutzes in den sechziger Jahren". Trotz - oder vielleicht gerade wegen - der Anpassung der SPD an die CDU/CSU-geführte Regierungspolitik wurden einerseits Repressionen gegen Opponenten dieser Politik fortgesetzt und gerichtlich ausgeweitet: so etwa durch das BVG-Urteil von 1960, das auch Beamte auf Widerruf die Mitgliedschaft in einer nicht verbotenen Partei, die sich "nicht für die bestehende demokratische Staatsauffassung einsetzt" (149) untersagte. In den Blick von Sicherheitsorganen und antikommunistischer Presse gerieten so Menschen, die brieflich Ostkontakte pflegten (wie Renate Riemeck [DFU]).

Andererseits formierte sich erneut eine Oppositionsbewegung gegen die Atombewaffnungspläne der Bundeswehr, gegen Notstandspläne und gegen den Einbezug ehemaliger exponierter Nationalsozialisten in Justiz, Politik und Verwaltung. Rigoll verweist in diesem Zusammenhang auf die Karlsruher Ausstellung Ungesühnte Nazijustiz (1959), auf Texte von Ulrike Meinhof, Reinhard Opitz und Klaus-Rainer Röhl in der Zeitschrift konkret, auf Artikel in Die Zeit und in Der Spiegel sowie auf Rolf Seelingers Dokumentation in den Heften Braune Universität. Deutsche Hochschullehrer gestern und heute (1966). Die öffentliche Thematisierung von Aufrüstungspolitik und personeller NS-Kontinuität begünstigte die Gründung der Deutschen Friedens Union (DFU) (1960) und führte zur Einstellung des Prozesses gegen die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) durch Änderung des Vereinsgesetzes 1964.

Von einer "Liberalisierung" kann bis Mitte der sechziger Jahre nicht gesprochen werden: Vielmehr verfolgte der ehemalige NS-Jurist Hermann Höcherl als Innenminister weiterhin das VVN-Verbot und legte 1962 den Entwurf eines Notstandsgesetzes vor. 1964 wurde Heinrich Lübke zum Bundespräsidenten wiedergewählt. 1965 propagierte Ludwig Erhard das Konzept "Formierte Gesellschaft". 1966 lief der Entwurf des politischen Strafrechts auf "Verschärfung der Repressionen" (190) hinaus. Und unter der im Dezember 1966 gebildeten Großen Koalition auf Bundesebene von CDU/CSU und SPD wirkten mit Kurt Georg Kiesinger (CDU; 1933-1945 NSDAP) als Bundeskanzler und Karl Schiller (SPD; 1937-1945 NSDAP) als Wirtschaftsminister an exponierter Stelle des bundesrepublikanischen Staates erneut NS-Parteigenossen.

Kulminationspunkte der Proteste wurden jedoch seit 1965 der Kampf gegen die Notstandsgesetze und Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg der USA.

Parallel mit der Neuausrichtung der Ostpolitik zur Entspannungspolitik gab es 1968 "die wohl umfassendste Neujustierung der inneren Sicherheit seit 1950, zu der neben der Notstandsverfassung auch zwei Amnestiegesetze gehörten" (203), und die Entschärfung des politischen Strafrechts sowie im Oktober 1968 die Gründung der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Zugleich erfolgte durch das neue Ordnungswidrigkeitsgesetz die Amnestierung von "Staats- und Blutsschützern". Die zeitliche Koinzidenz verleitet Rigoll zur Vermutung, dass "westdeutsche 49er und ostdeutsche 45er-Interessen" (469) zusammengespielt hätten.

Der Handlungsraum der legalen DKP wurde schon im Januar 1969 wieder eingeengt: das BVG übernahm den Begriff der "streitbaren Demokratie" (Kurt Behnke), eine Verkehrung von militant democracy, um verbürgte Grundrechte weiter auszuhöhlen: "Und indem das Gericht den von der politischen Justiz vor 1968 geprägten Verfassungsfeind-Begriff erstmals übernahm, nannte es auch die künftigen Objekte seiner derart neujustierten streitbaren Demokratie gleich bei Namen: Angehörige und Sympathisanten der KPD-Nachfolgepartei." (221)

Auf dem Weg zum "Radikalenerlass"

Im dritten Teil der Studie verfolgt Rigoll den Weg bis zur Verabschiedung des Radikalenerlasses am 28. 1. 1972.

Mitte 1971 wurde auf Vorschlag des damaligen Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz, Helmut Kohl, eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe eingerichtet. Sie sollte erneut Dienst- und Strafrechtsänderungen diskutieren. Gleichzeitig ging es um die Gestaltung des Hochschulrahmengesetzes, den Wahlkampf in Bremen und um die Bändigung der Linken, vor allem der Stamokap-Jungsozialisten in der SPD. Im November 1971 legte dann die Bund-Länder-Arbeitsgruppe ihren Bericht vor. Es ging ihm weniger um "effektive Säuberung als um einen Einschüchterungseffekt" (296). Rigoll vermutet, dass dabei die soziale Öffnung der Universitäten (die seit 1971 auch über das Berufsausbildungsförderungsgesetz [BAFÖG] erfolgte) für Arbeiter- und Angestelltenkinder eine nicht unwesentliche Rolle gespielt habe. Der AG-Vorschlag ähnelte im Wortlaut und der angehängten Organisationsliste dem Adenauererlass von 1950.

Der am 16.12.1971 in Hamburg durch Senatsbeschluss verabschiedete Radikalenerlass verpflichtete jeden Beamten dazu, dass er "durch sein gesamtes Verhalten die Gewähr dafür bieten muss, dass er sich jederzeit zu der freiheitlich demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes bekennt und für ihre Erhaltung" eintritt (300). An der Junglehrerin Heike Gohl wurde wegen Mitgliedschaft in der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ) ein Exempel statuiert, auch um auszutesten, ob der Einschüchterungsversuch stärker als der Solidarisierungseffekt wirkte. Am 28. Januar 1972 wurde der Radikalenerlass (auch Extremistenbeschluss) der Ministerpräsidenten der Länder und des Bundeskanzlers Willy Brandt gefasst. Im Gegensatz zum Hamburger Erlass, der den Ausschluss aus dem öffentlichen Dienst aus der Mitgliedschaft in den als "verfassungsfeindlich" erklärten Organisationen ableitete, zielte der Januarbeschluss auf die Einzelfallprüfung und -entscheidung von Beamten, Angestellten und Arbeitern im öffentlichen Dienst sowie die Möglichkeit ihrer gerichtlichen Überprüfung. Gleichwohl zirkulierte intern eine von der Innenministerkonferenz im April 1972 erstellte Liste mit Organisationen (wie etwa DKP, SDAJ, KPD/ML, NPD), der die Regelfallanfrage bei Verfassungsschutzbehörden erleichtern sollte.

Die Wirkung des Beschlusses und der Regelanfragen reichte über die Säuberung des Personalbestandes im öffentlichen Dienst von sogenannten "Verfassungsfeinden" hinaus: es ging um weiteren Ausbau der Verfassungsschutzämter, Einschüchterungseffekte, Verhinderung inhaltlich radikaler, kontroverser Auseinandersetzungen, die präventive Erfassung von Protestbewegungen und um Auswirkungen auf nichtstaatliche Verbände, Organisationen und Berufsfelder (etwa Gewerkschaften, private Bildungseinrichtungen, Verlage)2.

Als sich dieser Widerstand auch in der SPD regte und Mitte April 1973 sich auch auf ihrem Bundesparteitag in Hannover ausdrückte, "stilisierte Brandt die anstehende Abstimmung zu einem Votum gegen ihn und die anderen sozialdemokratischen Regierungschefs" (374) und brachte damit die Kritiker zum Schweigen.

Der in- und ausländische öffentliche Protest, organisiert etwa von der Initiative Weg mit den Berufsverboten, dem Internationalen Russel-Tribunal und anderen Initiativen hielt an. Er führte angesichts der massenhaften Anfragen an Verfassungsschutzämter - 1978 etwa 1,3 Millionen Anfragen, 15.000 Erkenntnisse, die zu etwa 1.000 Bewerberablehnungen führten (444) - auch zum Meinungsumschwung in der westdeutschen Bevölkerung. Die Konsequenz war die Abschaffung der Regelanfrage am 1. April 1979. Tatsächlich aber war die "›Liberalisierung‹ der Ablehnungspraxis [...] eine ›optische Täuschung‹"(475), zumal und nachdem die Berufsverbotspraxis ihren Zweck erreicht hatte: "Der Radikalenerlaß hat erreicht, was er erreichen sollte: Der Zustrom zu kommunistischen Parteien wurde sichtbar verringert."3

Mit Begriffen wie "Verfassungsfeindlichkeit" wurden kommunistische und sozialistische Parteien, Initiativen und Personen politisch ausgegrenzt, Aktivisten in ihrer bürgerlich-erwerbsbezogenen Existenz bedroht, linkspolitisch agierende studentische Organisationen behindert; gesellschaftliche Folgen waren Misstrauen, Anpassung, die Rücknahme systemkritischen Engagements innerhalb der Jugend, junger Erwachsener und der Intelligenzschicht. Und dies in den 70er Jahren des vergangenen "kurzen" Jahrhunderts, als die Krisenhaftigkeit des kapitalistischen Systems in Form der "Ölkrise" seit 1973/74 erstens sichtbar wurde und zweitens von links Alternativkonzepte erforderte.

Keine neuen Erkenntnisse

Was Rigoll inhaltlich vorträgt ist so neu nicht. Verwiesen werden kann auf eine richtungsweisende Entnazifizierungsstudie (1972)4 und eine kritische Arbeit über Politische Justiz gegen Kommunisten (1978)5 sowie Dokumentationen gegen Berufsverbote.6

An den Büchern von Niethammer und v. Brünneck gemessen bedeutet Rigolls personalistischer Ansatz Rückschritt. Es ist zu einfach gedacht, den "Radikalenerlass [...] als Koproduktion zwischen 49ern und ihren Nachfolgern aus der Kriegsgeneration" (474) zu deuten, das Ende der Regelanfrage auf "einen Lernprozess" der "westdeutschen Sicherheitspolitiker" oder "auf die Furcht der 49er [...] die jungen Linken könnten Erkenntnisse über ihre NS-Vergangenheit in Archiven und Bibliotheken sammeln und gegen sie in Stellung bringen" (474), zurückzuführen. Allgemeiner ausgedrückt: nachdem es die Verantwortlichen nicht mehr gibt, sind (nicht selten wohldotierte) Aufarbeitungskommissionen heute wenn überhaupt von begrenzt zeitgeschichtlichem Interesse und politisch überflüssig. Und, wie am Auswärtigen-Amt-Beispiel herausgearbeitet7, auch politikhistorisch dürftig.

Dem Buch ermangelt es in Inhalt und Form an manch weiterem: zunächst fehlen sowohl klar formulierte Thesen als auch zusammenfassende Ausblicke. Zweitens wird teilweise in sujetfremdem sprachlichem Jargon geschrieben. Drittens kann Geschichte nicht narrativ in Geschichten aufgelöst werden. Viertens vernebelt personales Denken den auch zeitgeschichtlich nötigen Zugang zu Strukturen: das zeigt sich beispielhaft am fehlenden Rückbezug auf wirtschaftliche Entwicklungen,8 auf (inner)gewerkschaftliche Auseinandersetzungen und auf jugendliche Protestbewegungen. Und fünftens scheut Rigoll die Anstrengung des Begriffs sowohl was das Totalitarismus-Antitotalitarismusdogma als auch was den Charakter des Staates betrifft: auch - und gerade - in staatlichen Herrschafts- und Repressionsapparaten wie Militär und Polizei, Justiz und Verwaltung drücken sich sozio-ökonomische Verhältnisse aus.

Anmerkungen

1) BGHZ 13: 265-319.

2) Marie Jahoda 1956: Anti-communism and employment policies in radio and television; dt.spr. Fassung u. d. T.: "Schwarze Listen in der Unterhaltungsindustrie"; in: dies. 1994: Sozialpsychologie der Politik und Kultur. Ausgewählte Schriften. Hg. Christan Fleck. Graz-Wien: 128-167; Anmerkungen: 361f.

3) Peter Glotz 1979: Die Innenausstattung der Macht. Politisches Tagebuch 1976-1978. München, Steinhausen: 299.

4) Lutz Niethammer 1972: Entnazifizierung in Bayern. Säuberung und Rehabilitierung unter amerikanischer Besatzung. Frankfurt/M..

5) Alexander von Brünneck 1978: Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1968. Frankfurt/M..

6) Als erste Aufarbeitung: Berufsverbote in der BRD. Eine juristisch-politische Dokumentation. Hg. Institut für Marxistische Studien und Forschungen (IMSF). Informationsbericht 22. Frankfurt/M.: IMSF, 1975; zuletzt www.berufsverbote.de/.

7) Wilma Ruth Albrecht 2010: "Das Außenamt und die Vergangenheit vom Diplomaten"; in: Hintergrund, 23 (2010) IV:50-58; auch in: Aufklärung und Kritik, 18 (2011) 3: 287-293; sowie WeltTrends, 76/2011: 105-111 (gekürzt).

8) Wilma Ruth Albrecht 2007: Nachkriegsgeschichte/n. Sozialwissenschaftliche Beiträge zur Zeit(geschichte). Aachen, mit Aufsätzen zur sozioökonomischen Interessenskonstellation nach 1945, zur Entnazifizierung und zur Kritik der Rechtsstatsideologie.


Wilma Ruth Albrecht (*1947 in Ludwigshafen/Rhein) ist eine deutsche Sozial- und Sprachwissenschaftlerin (Lic; Dr.rer.soc.) mit den Arbeitsschwerpunkten Literatur-, Politik- und Architekturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Autorin arbeitet seit 2009 an ihrer Romantrilogie des letzten Jahrhunderts EINFACH LEBEN. de. wikipedia.org/wiki/Wilma_Ruth_Albrecht dr.w.ruth.albrecht@gmx.net.

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