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Klaus Holzkamp

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Der Verfall der Demokratie: Autoritärer Etatismus

22.06.2017: Zur Aktualität von Nicos Poulantzas im Kontext der Finanz- und "Eurokrise"

  
 

Forum Wissenschaft 2/2017; Anthony / fotolia.com

Der griechische Staatstheoretiker Nicos Poulantzas hat in den 1960er und 70er Jahren wichtige Beiträge zum Verständnis des modernen kapitalistischen Staates geliefert. Unter anderem analysierte er die Folgen polit-ökonomischer Krisenentwicklungen für den Zustand der Demokratie. Für die politische Bewertung der aktuellen europäischen Krise sind Poulantzas’ Überlegungen hochaktuell, findet John Kannankulam.1

Unter der bedeutungsschweren Überschrift eines "Verfalls der Demokratie" identifizierte Nicos Poulantzas Ende der 1970er Jahre das Herannahen einer neuen Staatsform, die er als "autoritären Etatismus" betitelte, deren vier grundlegende Merkmale sich wie folgt zusammenfassen lassen2:

  1. eine Machtverschiebung weg von der (parlamentarischen) Legislative hin zur Exekutive, bei der sich die Macht gewissermaßen konzentriert, und die einhergeht mit einer Verschiebung (und Verselbständigung) der Dominanzen innerhalb des staatsapparativen Gefüges insgesamt;
  2. ein Prozess der zunehmenden Verschmelzung zwischen der Legislative, der Exekutive und der Jurisdiktion bei gleichzeitigem Verfall der Funktion des Gesetzes;
  3. ein Funktionsverlust der politischen Parteien als zentralen Organen der Herstellung gesellschaftlicher Hegemonie und als Vermittlungsglieder des politischen Dialogs zwischen Verwaltung, Regierung und Wahlvolk;
  4. eine zunehmende Verlagerung dieser Vermittlung hin zu parallel operierenden Machtnetzen, die die offiziellen und formalen Wege demokratischer Willensbildung und Partizipation umgehen und sich zusehends ausweiten.
  5. Dass es hierzu kommt, begründet sich nach Poulantzas darin, dass die Krisenprozesse der 1970er Jahre sich nicht allein auf ›ökonomische‹ Prozesse beschränken, sondern insgesamt enorme Auswirkungen auf die "Situation unserer Gesellschaften mit demokratischen Regierungsformen" haben,3 In diesen Gesellschaften kommt es durch das "gesteigerte […] Ansichreißen sämtlicher Bereiche des ökonomisch-gesellschaftlichen Lebens durch den Staat zu einem einschneidenden Verfall der Institutionen der politischen Demokratie sowie zu drakonischen und vielfältigen Einschränkungen der sogenannten ›formalen‹ Freiheiten, die man erst wirklich schätzen lernt, wenn sie einem genommen werden"4.

    Die dahinterstehende Analyse lautet, dass in der Krise des Fordismus und des keynesianischen Staates und angesichts zunehmend offener Proteste die staatliche Exekutive sich zur Bearbeitung dieser Krise und angesichts der geforderten Schnelligkeit und Effizienz immer mehr Macht und Kompetenzen aneignet. Dadurch kommt es neben einem "Verfall des Gesetzes"5 zu einer deutlichen "Verschiebung der Regierungsverantwortlichkeit vom Parlament auf die Spitzen der Exekutive". Dies führt zu einer "entscheidenden Einschränkung der parlamentarischen Macht gegenüber der Verwaltung, zur Autonomisierung der Regierung gegenüber dem Parlament und zum wachsenden Abstand der Verwaltung gegenüber der Volksvertretung"6.

    Diese in der Krise durchgesetzte relative Verselbständigung der Exekutive und die Verlagerung von Entscheidungsbildungsprozessen auf die Verwaltung, die darüber hinaus auf einer "Verschärfung der Widersprüche innerhalb der herrschenden Klasse" (ebd.: 240) bzw. einer "hegemonialen Instabilität"7 beruht, führt, so Poulantzas weiter, jedoch paradoxerweise dazu, dass die zur Krisenlösung vorgenommenen Verschiebungen und Verlagerungen von Entscheidungen mitsamt ihrer Maßnahmen mittelfristig selber "Faktoren einer Krise werden, die dadurch mehr wird als eine bloß ökonomische Krise"8. Denn, so die Argumentation, die "selektive Hilfe für bestimmte Kapitale" zugunsten der "›ökonomisch-korporativen‹ Interessen bestimmter Fraktionen oder bestimmter individueller Kapitale zum Schaden anderer […] vertieft, wie ein Schneeballsystem, die Risse im Block an der Macht. Sie gibt diesen Widersprüchen politische Bedeutung und wird so zum direkten Faktor der politischen Krise, indem sie anhaltend die Organisierung der Hegemonie und des Allgemeininteresses der Bourgeoisie durch den Staat in Frage stellt."9

    Vor diesem Hintergrund kommt es nun also, und darauf möchte ich mich im Folgenden konzentrieren, angesichts der Hegemoniekrise innerhalb des Machtblocks zu einem Wandel/Verfall der Rolle des Parlaments und der politischen Parteien. Dies ist deshalb problematisch und bedeutsam, so Poulantzas, da die "gesamte Geschichte zeigt, dass die Existenzformen und das Funktionieren der repräsentativen Demokratie als System des realen Pluralismus politischer Parteien gegenüber der Staatsbürokratie und der öffentlichen Verwaltung auf der Ebene staatlicher Institutionen in positiver Korrelation zum Funktionieren politischer Freiheiten steht"10.

    Die dabei feststellbare "massive Verschiebung der Regierungsverantwortlichkeit vom Parlament auf die Spitzen der Exekutive führt", so Poulantzas, "zur entscheidenden Einschränkung der parlamentarischen Macht gegenüber der Verwaltung, zur Autonomisierung der Regierung gegenüber dem Parlament und zum wachsenden Abstand der Verwaltung gegenüber der Volksvertretung"11. Tendenziell, so die weitere Argumentation, "monopolisiert also die Verwaltung in sich die Rolle der politischen Organisation der sozialen Klassen und der Hegemonie. Dieser Monopolisierungsprozess geht einher mit der Transformation der Parteien der Macht".12 Diese sind "nun kaum noch Orte der politischen Formulierung und Ausarbeitung von Kompromissen und Bündnissen auf der Grundlage von mehr oder weniger präzisen Programmen und auch kaum noch Organismen, die wirkliche repräsentative Beziehungen zu den gesellschaftlichen Massen haben. Sie sind echte Transmissionsriemen für Entscheidungen der Exekutive."13

    Aktualität des Autoritären Etatismus in der Eurokrise

    Wenn wir uns vor diesem theoretischen Hintergrund zentrale Schritte in den jüngeren Krisenbewältigungsstrategien der Europäischen Union ansehen, fallen frappante Ähnlichkeiten mit Poulantzas‘ Argumentation ins Auge. So wurde bspw. bei der Initiative zu den Krisenmaßnahmen im März 2010 der damalige Präsident des Europäischen Rates, Herman Van Rompuy, damit beauftragt, eine Task Force einzurichten, mit dem Ziel, Vorschläge für einen verbesserten Krisenbewältigungsrahmen und bessere Haushaltsdisziplin zu erarbeiten.14 Im Anschluss an diesen Auftrag wurde die Task Force aus dem Wirtschafts- und Währungskommisar Olli Rehn, dem EZB-Präsidenten Jean Claude Trichet, dem Euro-Gruppen-Chef Jean Claude Juncker und dem ECOFIN-Rat unter dem Vorsitz Van Rompuys gebildet. Feststellbar ist also, dass diese Task Force somit ausschließlich aus Vertretern der Exekutive bzw. technokratischer Einrichtungen wie der EZB und der Kommission bestand. Darüber hinaus fanden die Beratungen dieser Task Force bis zum endgültigen Bericht ausschließlich hinter verschlossenen Türen statt und erst die vollendeten Tatsachen wurden der Öffentlichkeit präsentiert.15

    Schauen wir uns die beschlossenen Maßnahmen genauer an: Die im Herbst 2011 beschlossene Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts (das sog. Six Pack) bildete den Auftakt für eine verschärfte haushalts- wie wirtschaftspolitische Überwachung und Disziplinierung im Rahmen der Economic Governance. Die Bezeichnung "Six Pack" bezieht sich auf insgesamt fünf Verordnungen und eine Richtlinie, die im Dezember 2011 im gesamten Euro-Raum (Euro-18) in Kraft traten.16 Ziel dieser Maßnahmen war eine "strengere Haushaltspolitik der Mitgliedsstaaten" der WWU durch eine "Konkretisierung und Verschärfung" des Stabilitäts- und Wachstumspakts von 1997 und die Einrichtung eines "Frühwarnsystems für übermäßige makroökonomische Ungleichgewichte"17. So sind Sanktionen vorgesehen, wenn ein Mitgliedstaat (MS) vom Pfad des sogenannten mittelfristigen Haushaltsziels abweicht. Der entsprechende MS muss dann eine verzinsliche Einlage hinterlegen, über deren Freigabe der Rat entscheidet. Zentrale Institution bei der Feststellung von Fehlverhalten und der Aussprache von Strafen ist allerdings die Europäische Kommission und nicht der Rat als Institution der Nationalstaaten. Sie teilt dem Rat mit, dass der MS keine geeigneten Maßnahmen ergriffen hat und ebenso, dass eine Strafe verhängt werden soll. Der Rat muss diesen Beschluss zwar annehmen, aber gemäß des Abstimmungsmodus der sog. Reverse Majority Vote. Nach diesem demokratietheoretisch äußerst fragwürdigen Modus hat der Rat zehn Tage Zeit, eine qualifizierte Mehrheit gegen den Beschluss zustande zu bringen. Andernfalls werden die Empfehlungen der EK automatisch in Kraft gesetzt.

    Die gleiche Regelung gilt für Sanktionsmaßnahmen im Rahmen der makroökonomischen Überwachung. Die nationalen Parlamente sind in diesem Rahmen dazu aufgerufen, vor der Erstellung der Haushaltspläne Stabilitäts- und Konvergenzprogramme vorzulegen. Diese werden durch die EK bewertet, welche daraufhin Empfehlungen an den Rat gibt. Die EK hat das Recht, bei Nicht-Einhaltung der Richtlinien den MS zu verwarnen und kann sogar Überwachungsmissionen entsenden, um die Umsetzung zu kontrollieren. Der Rat ist ausdrücklich dazu angehalten, den Vorschlägen der EK zu folgen, andernfalls muss er sich erklären. Schließlich ist es auch die EK, die ein sogenanntes scoreboard aufstellt. Dessen Indikatoren dienen als Grundlage der wirtschaftlichen und finanziellen Überwachung. Die Indikatoren sollen explizit die Wettbewerbsfähigkeit fördern und sind vornehmlich auf die Defizitländer auszurichten.18

    Entwertung der Parlamente

    Feststellbar ist also, dass im Zuge der Krise mit der Europäischen Kommission die europäische Exekutive und ihre Verwaltung die Entscheidungskompetenz über heikle wirtschaftspolitische Fragen erhalten hat. Die nationalen Parlamente werden dabei, so lässt sich zugespitzt argumentieren, letztlich bevormundet.19 "All diese Verschiebungen", so Lukas Oberndorfer20, gehen somit "mit einer Entwertung jener politischen Terrains einher, in denen die Forderungen der Subalternen noch einen vergleichsweise günstigen Resonanzraum finden": den nationalen Parlamenten. Denn gerade die Tatsache, dass die wirtschaftspolitischen Pläne im Frühjahr eingereicht werden müssen, bedeutet letztlich, dass hier grundlegend Entscheidungen vorstrukturiert werden, ohne dass darüber im Parlament - wo der Haushalt i.d.R. im Herbst verhandelt wird - Debatten geführt werden (können). Schließlich wird mit diesen Maßnahmen die grundsätzliche Ausrichtung der Wirtschafts- und Finanzpolitik im neoliberalen und austeritätspolitischen Sinne festgeschrieben, ohne dass es noch die Möglichkeit zur Bildung alternativer politischer Prioritäten gäbe. Dass die Parteien dabei auch aktuell bisweilen tatsächlich, wie Poulantzas in den 1970er Jahren argumentierte, dahin tendieren, zu "Transmissionsriemen" der Exekutive zu werden, konnten wir in Deutschland vor allem am Gesetzgebungsverfahren hinsichtlich des Europäischen Stabilitätsmechanismus sehen. Eine der zentralen Fragen, die in diesem Zusammenhang diskutiert wurde, war, wie der Bundestag bei der Bewilligung von Mitteln durch den Rettungsschirm eingebunden wird. Da eine Vergabe von Mitteln oder Garantien die haushaltspolitische Verantwortung des Bundestages berührt, wurde im Gesetzentwurf ein sogenannter Parlamentsvorbehalt integriert. Dieser sah vor, dass eine Vergabe von Gewährleistungen durch die EFSF nur bei einem zustimmenden Beschluss des Bundestages möglich ist. Allerdings wurde dieser Parlamentsvorbehalt wiederum durch eine besondere Eilbedürftigkeit oder Vertraulichkeit eingegrenzt. In solchen Fällen soll der Haushaltsausschuss des Bundestages in geheimer Sitzung tagen. Und diese Sitzungen sollen, um der Eilbedürftigkeit der Sache besonders Rechnung zu tragen, in einem so genannten 9er-Gremium des Haushaltsausschusses abgehalten werden. Sprich: Der Haushaltsausschuss sollte demnach in nichtöffentlicher Sitzung die Angelegenheiten des Parlaments insgesamt übernehmen. Die Fraktionen der Regierungskoalition aus CDU/CSU/FDP sowie die SPD und Bündnis 90/Die Grünen stimmten Ende September 2011 den Änderungen des Gesetzes gegen die Stimmen der Fraktion der Linkspartei zu.

    In Folge dieses Beschlusses kam es jedoch gegen die entsprechende Gesetzesänderung zu einer Verfassungsklage vor dem Bundesverfassungsgericht. Dieses sah in seiner Entscheidung21 die Mitwirkungsrechte des Parlaments insgesamt und der einzelnen Abgeordneten verletzt. Die Übertragung der Entscheidung an den Haushaltsausschuss, ohne das gesamte Plenum einzuberufen, ist laut BVerfG unzulässig. Letztlich musste der in der Krise drohende "Verfall der Demokratie" somit durch die Judikative gegen die Legislative, die danach trachtete, die Exekutive aufzuwerten, korrigiert werden, was auf der anderen Seite eine weitere Aufwertung der Judikative auf Kosten der Legislative nach sich ziehen dürfte.

    Insgesamt lässt sich also, ähnlich wie Poulantzas dies in den 1970er Jahren herausarbeitete, zeigen, dass auch in der derzeitigen Krise die europäische und nationale Exekutive die "gebotene" Schnelligkeit und Diskretion nutzt, um sich zusätzliche Kompetenzen anzueignen - auf Kosten der Parlamente und Parteien, wobei letztere bisweilen allzu willfährig ihre Macht hergeben.

    Nun ließe sich einwenden, dass damit in einem quasi-dialektischen Prozess eine weitere Integration zustandekommt, die der Tendenz nach die Möglichkeit zu einer europäischen Einnahmen- und Ausgabenpolitik in sich birgt. Hierdurch, mit der möglichen Etablierung eines einzigen europäischen Finanzapparates, könnte bspw. auch dem Problem des Steuerwettbewerbs in Europa begegnet werden. Am Ende des Horizonts stünde dann eine Rollenverteilung, wie wir sie etwa zwischen Bund und Ländern in der BRD haben, in dem den Ländern bei schwachem Budgetrecht ein starkes Umsetzungsrecht zukommt.

    Bei aller Symphatie gegenüber diesem Einwand und der darüber hinaus durchaus bestehenden Problematik, die nationalen Parlamente hierbei zu idealisieren, muss ich dennoch entgegnen, dass die feststellbare Vertiefung der Europäischen Integration während der Krise eben nicht die demokratisch halbwegs legitimierten europäischen Instanzen wie das EU-Parlament stärken, sondern vor allem die europäischen Exekutivapparate. Die in der Krise vorgenommene Aufwertung der Kommission und des (ECOFIN-)Rates stärkt somit genau jene intransparenten Apparate, denen sogar die herrschende EU-Forschung bescheinigt, dass die "Kommission mit ihren weitreichenden legislativen und exekutiven Befugnissen […] nicht demokratisch legitimiert [ist]; die Räte mit ihrer umfassenden Entscheidungsmacht sind es allenfalls indirekt, indem ihre Mitglieder auf der nationalen Ebene ein Wahlamt innehaben."22 Vielmehr nutzen im europäischen Staatsapparateensemble v.a. die neoliberal ausgerichteten Exekutivapparate sowohl in den Nationalstaaten (wie etwa die Finanzministerien) als auch auf dem europäischen Scale die Krise, um sich mit einem "Spiel über Bande" weitere Macht und Kompetenzen anzueignen - auf Kosten derjenigen Apparate, in denen noch halbwegs die Interessen der Subalternen vertreten sind.23 Entsprechend lässt die eingeschlagene Richtung der in der Krise vertieften Integration für eine weitere Demokratisierung der EU wenig Gutes erahnen.

    Risse im Block an der Macht

    Am auffälligsten in der derzeitigen Krise ist jedoch der Drift, der durch den neoliberal dominierten "Block an der Macht" in Europa geht. So konnte sich schon zu einer relativ frühen Phase der Krise in Deutschland der Banken- und Finanzsektor mit dem Argument in Szene setzen, dass, falls es zu einer Gläubigerbeteiligung im Rahmen der griechischen Schuldenkrise kommen sollte, dies sicherlich eine neue Bankenkrise und Spekulationswelle gegen andere Eurostaaten auslösen würde. Ein Vertreter der Commerzbank erklärte etwa: "Anleger würden sich fragen: Wenn in Griechenland Schulden aus den Büchern gestrichen werden, warum sollte das nicht morgen in Portugal oder Spanien passieren?"24 Ein Blick auf die Schuldner-Gläubiger-Verhältnisse in Bezug auf Griechenland offenbart sehr deutlich, weshalb v.a. der Bankensektor alles daran setzen musste, zum einen von einer Beteiligung ausgenommen zu werden und zum anderen möglichst viele Außenstände aus Griechenland zurückzuholen, "koste es was es wolle".

    Erkennbar ist, dass es vor allem deutsche und französische Banken waren, die Geld an Griechenland verliehen hatten. Entsprechend war es auch kein Wunder, dass jene Fraktionen des Machtblocks in diesen beiden Ländern alles taten, um ihre Interessen durchzusetzen. Dass sie darin sehr erfolgreich waren, belegen die Zahlen: Allein deutsche Banken "brauchten 646 Milliarden Euro als Hilfsrahmen in der Finanzkrise. 259 Milliarden Euro nahmen sie in Anspruch. Davon dürften 50 Milliarden Euro beim Steuerzahler hängen bleiben."26. Noch einmal anders betrachtet lässt sich feststellen, dass der Finanzsektor der Europäischen Union vom Beginn der Finanzkrise im Oktober 2008 bis Dezember 2011 staatliche Hilfen in Höhe von 1,6 Billionen Euro erhalten hat, was 13 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der EU entspricht.27

    Die "selektive Hilfe für bestimmte Kapitale" zugunsten der "›ökonomisch-korporativen‹ Interessen bestimmter Fraktionen oder bestimmter individueller Kapitale zum Schaden anderer"28 vertieft jedoch die Spannungen im Machtblock und fördert sie schließlich offen zutage. Dies wird daran deutlich, dass sich in der Krise eine "orthodox-ordoliberale" Fraktion gegen diese europäische "Rettungspolitik" hervortat. Jene Fraktion, deren Basis v.a. aus kleinen und mittelständischen Unternehmen mit "nationaler" Akkumulationsbasis bestand, die entsprechend keine größeren Interessen an der Verausgabung von Mitteln für die Rettung transnationaler bzw. europäischer Finanzinstitute hatte, lehnte pro-europäische Krisenlösungsstrategien ab.29 So forderte etwa Hans-Werner Sinn vom Münchner IfO-Institut als "organischer Intellektueller" dieser Fraktion stattdessen die Einführung eines "Nord-Euro". In dem 2012 v.a. von ihm initiierten "Offenen Brief der Ökonomen"30, der den Bruch im deutschen Machtblock plastisch vorführte, wurde moniert, dass "unter dem Deckmantel der Solidarität einzelne Gläubigergruppen bezuschusst und zentrale Investitionsentscheidungen verzerrt werden". Stattdessen wurde ganz im Sinne der von der "selektiven Hilfe" ausgenommenen Fraktionen des Machtblocks gefordert, dass auch Banken, den Gesetzen des Marktes entsprechend, pleite gehen können müssen.31

    Der Druck, den jene Fraktion erzeugte, war sicherlich ein zentraler Faktor in der v.a. durch Deutschland forcierten autoritären Krisenpolitik mitsamt der Aufwertung der nationalen und europäischen Exekutive, wie sie in den oben skizzierten europäischen Maßnahmen der Economic Governance zum Ausdruck kamen. Die autoritäre Krisenpolitik war somit einerseits von einem deutschen ordo-konservativen "Bündnis" gegen europäische Rettungspolitiken getrieben. Dieses war zum einen getragen von jenen gesellschaftlichen Kräften, die einem stark vertieften europäischen Integrationsprozess skeptisch bis ablehnend gegenüber standen und ein ›Europa der souveränen Nationen‹ befürworteten. Sozial verankert in rechten und konservativen Milieus und Teilen des Mittelstands und wirtschaftspolitisch fast immer auf neoliberaler Grundlage agierend, attackierten diese ›national-neoliberalen‹ Akteure die Rettungspakete für Griechenland und den im Mai 2010 etablierten EFSF als Schuldenvergemeinschaftung und Ausverkauf deutscher Interessen. Jene Akteure eines konservativen Hegemonieprojekts32 waren zum anderen verbunden mit einer ordoliberalen Fraktion, die im Zuge der Krise aus dem übergreifenden neoliberalen Hegemonieprojekt ausbrach. Diese sozialen Kräfte bildeten einen entscheidenden Teil der Machtbasis der schwarz-gelben Koalition und der von ihnen ausgeübte Druck kann das langwierige Zögern der Regierung Merkel gegenüber Hilfen für Griechenland, ihre kompromisslose Härte bei den Austeritätsbedingungen und ihre klare Ablehnung von Eurobonds erklären.33

    Andererseits lässt sich auf den bereits skizzierten Einfluss einer proeuropäischen und autoritären Fraktion des neoliberalen Hegemonieprojekts zurückführen, dass die deutsche Regierung sich trotz des ordo-konservativen Widerstands mit Milliardensummen an der Rettung der Gläubiger Griechenlands, Irlands und Portugals beteiligte. Jene Fraktion stützte sich auf Strategien der transnationalen Finanzwirtschaft und des exportorientierten Industriekapitals der Zentrumsstaaten, aus daran angekoppelten mittelständischen Unternehmen und jenen Konzernen, die etwa im European Round Table of Industrialists organisiert sind.34 Als zugleich proeuropäisch und autoritär ist diese Fraktion zu bezeichnen, weil sie danach trachtet, eine Vertiefung der Europäischen Integration zu unterstützen, solange diese dazu dient, die haushalts-, wirtschafts- und sozialpolitischen Spielräume nationaler Parlamente und Regierungen einzuschränken und so Entscheidungen gegen die neoliberale Orthodoxie autoritär zu verhindern. Die autoritär-etatistische Verschärfung des Stabilittäspakts im Zuge der Krise entsprang somit im Kern dem Interesse dieser Fraktion. Aus deren Perspektive erschienen die Schuldenkrisen in Griechenland, Irland und Portugal als Bedrohung des Euro und Gefahr für eigene Interessen. So waren es v.a. Akteure der autoritär-neoliberalen Fraktion, die die Regierung Merkel im Laufe des Frühjahrs 2010 erfolgreich unter Druck setzten, ihre Ablehnung eines ›bail-outs‹ von Investoren aufzugeben.35 Allerdings musste aus ihrer Sicht eine steuerfinanzierte ›Rettung‹ der Gläubiger jener Länder, die durch extensive Konjunkturprogramme und Bankenrettungen zu ›Schuldnerstaaten‹ geworden waren36, als Gelegenheit für neoliberale Schockstrategien genutzt werden, welche die Verwertungsbedingungen zulasten von Bevölkerungsmehrheiten verbessern sollten. Entsprechend formierten sich in Deutschland neben dem Banken- und Finanzsektor v.a. diejenigen Fraktionen des Machtblocks, die als industrielles Export-Kapital ein starkes Interesse an einem stabilen Euro mitsamt seiner strukturellen Unterbewertung deutscher Güter haben.37 So interventierten im Juni 2011 etwa 70 Konzern-ManagerInnen (u.a. von Siemens, Daimler, BMW, Telekom und EADS) in die öffentliche und politische Debatte und hielten "in großen Zeitungsanzeigen ein flammendes Plädoyer für den Euro"38. Eine pro-europäische autoritär-neoliberale Position formulierend, forderten diese SprecherInnen des transnationalen Industriekapitals die Bundesregierung auf, den Euro als "Jobmotor und Wohlstandsgarant" zu verteidigen und zu diesem Zweck die Gläubiger der Schuldenstaaten zu retten: "Die Rückkehr zu stabilen finanziellen Verhältnissen wird viele Milliarden kosten, aber die Europäische Union und unsere gemeinsame Währung sind diesen Einsatz allemal wert".

    Hegemonie-Krise des neoliberalen Projekts

    Auf Basis der bisher entwickelten Argumentation lässt sich die autoritäre europäische Krisenpolitik, die v.a. von der deutschen (und französischen) Regierung mitsamt der europäischen Exkekutivapparate getragen worden ist, als Ausdruck dieser Spaltung des neoliberalen Projekts verstehen. Deutlich sichtbar wird hier also eine Hegemonie-Krise des neoliberalen Projekts, die sich in den zunehmenden Konflikten und Spaltungen ausdrückt. Gleichwohl haben diese autoritär-etatistischen Tendenzen im Zuge der Eurokrise letztlich einen dysfunktionalen Effekt - auf den Poulantzas in einem anderen Kontext hinwies: die Umgehung der nationalen Parlamente und die Aufwertung der europäischen Exekutive weist eben darauf hin, dass nur "ein Kräfteverhältnis, das dort, wo es wirklich um etwas geht, einen bestimmten Stabilitätsgrad aufweist, juristisch in Form eines allgemeinen und universellen Normensystems geregelt werden [kann]"39. Die Aufwertung der europäischen Exekutive und die relativ einseitige Bevorzugung der autoritär-neoliberalen Fraktionen vergrößern die Spaltungslinien innerhalb des Machtblocks, wie wir sie bspw. mit dem Aufkommen national-chauvinistischer Parteien wie der AfD sehen können. Vor allem die Formierung letzterer und anderer rechter Parteien in Europa im Zuge der Krise verweist darauf, dass es nicht mehr zu gelingen scheint, innerhalb des bestehenden Parteiengefüges die Konflikte innerhalb des Machtblocks in ein stabiles Kompromissgleichgewicht zu bringen. Die in der Krise durchgesetzte relative Verselbständigung der Exekutive und die Verlagerung von Entscheidungsbildungsprozessen auf die Verwaltung und Bürokratie, die auf einer "Verschärfung der Widersprüche innerhalb der herrschenden Klasse"40 bzw. einer "hegemonialen Instabilität"41 beruht, führt somit, wie bereits eingangs argumentiert, paradoxerweise dazu, dass die zur Krisenlösung vorgenommenen Verschiebungen und Verlagerungen von Entscheidungen mitsamt ihrer Maßnahmen mittelfristig selber "Faktoren einer Krise werden, die dadurch mehr wird als eine bloß ökonomische Krise".

    Ausgang offen.

    Anmerkungen

    1) Bei diesem Artikel handelt es sich um die leicht gekürzte Fassung eines Beitrags aus dem kürzlich veröffentlichten Band: Alex Demirovic (Hg.) 2016: Transformation der Demokratie - demokratische Transformation, Münster: Westfälisches Dampfboot.

    2) Nicos Poulantzas 2002: Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie und autoritärer Etatismus, Hamburg: 231ff, vgl. John Kannankulam 2008: Autoritärer Etatismus im Neoliberalismus. Zur Staatstheorie von Nicos Poulantzas, Hamburg und Bob Jessop 2006: "Poulantzas‘ Staatstheorie als moderner Klassiker", in: Bretthauer et al. (Hg.): Poulantzas lesen, Hamburg: 48-64.

    3) Poulantzas 2002, siehe Fn. 2: 231.

    4) Ebd.: 232.

    5) Ebd.: 248.

    6) Ebd.: 251.

    7) Ebd.: 241.

    8) Ebd.: 241.

    9) Ebd.: 242.

    10) Ebd.: 245.

    11) Ebd.: 251.

    12) Ebd.: 259.

    13) Ebd.: 259.

    14) Elisabeth Klatzer / Christa Schlager 2011: "Europäische Wirtschaftsregierung - eine stille neoliberale Revolution?", in: Kurswechsel, 11(1): 61-81.

    15) Vgl. ebd.

    16) VO 1173/2011/EU über die wirksame Durchsetzung der haushaltspolitischen Überwachung im Euro-Währungsgebiet, ABl. EU 2011 L 306/1; VO 1174/2011/EU über Durchsetzungsmaßnahmen zur Korrektur übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte im Euro-Währungsgebiet, ABl. EU 2011 L 306/8; VO 1175/2011/EU zur Änderung der VO (EG) 1466/1997 des Rates über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken, ABl. EU 2011 L 306/12; VO 1176/2011/EU über die Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte, ABl. EU 2011 L 306/25; VO 1177/2011/EU zur Änderung der VO (EG) 1467/1997 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit, ABl. EU 2011 L 306/33; RL 2011/85/EU des Rates vom 8.11.2011 über die Anforderungen an die haushaltspolitischen Rahmen der Mitgliedstaaten, ABl. EU 2011 L 306/41.

    17) Falk Illing 2013: Die Euro-Krise: Analyse der europäischen Strukturkrise, Wiesbaden: 73.

    18) Vgl. Florian Gärtner 2013: Politisches Handeln in der Eurokrise. Staatsexamensarbeit am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Marburg: 69f.

    19) Ebd.: 71.

    20) Lukas Oberndorfer 2012: "Hegemoniekrise in Europa - Auf dem Weg zu einem autoritären Wettbewerbsetatismus?", in: Forschungsgruppe Staatsprojekt Europa (Hg.): Die EU in der Krise: 50-72; hier: 68.

    21) BVerfG, Urt. v. 28.02.2012 - 2 BvE 8/11.

    22) Ingeborg Tömmel 4. Aufl. 2014: Das politische System der EU, München: 275; vgl. auch Manfred G. Schmidt 5. Aufl. 2010: Demokratietheorien. Eine Einführung, Wiesbaden: 404; 406.

    23) Vgl. Oberndorfer 2012, siehe Fn 20: 68.

    24) Zit. n. Spiegel Online, 27.4.2010.

    25) Bank for International Settlements (BIS) Quarterly Review (09/2010): International banking and financial market developments. Basel. URL: www.bis.org/publ/qtrpdf/r_qt1009.pdf (1. Sept. 2015)

    26) Markus Frühauf 2013: "Milliardengrab Bankenrettung", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.08.2013; URL: www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/teuer-fuer-den-steuerzahler-milliardengrabbankenrettung-12535343.html (1. Sept. 2015).

    27) Europäische Kommission 2012: Anzeiger für staatliche Beihilfen. Bericht über staatliche Beihilfen der EU-Mitgliedstaaten; URL: ec.europa.eu/competition/state_aid/studies.../2012_autumn_de.pdf (1. Juli 2014).

    28) Poulantzas 2002, siehe Fn 2:242.

    29) Vgl. Frederic Heine / Thomas Sablowski 2013: Die Europapolitik des deutschen Machtblocks und ihre Widersprüche. Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin, September 2013; URL: www.rosalux.de/publication/39834/die-europapolitik-des-deutschen-machtblocks-und-ihre-widersprueche.html (1.September 2015).

    30) Offener Brief der Ökonomen: "Bankenkrise. Aufruf von 272 deutschsprachigen Wirtschaftsprofessoren", in: FAZ, 5.7.2012.

    31) Heine/Sablowski 2013, siehe Fn 29.; vgl. SZ 25.1.2011

    32) Vgl. John Kannankulam / Fabian Georgi 2012: Die Europäische Integration als materielle Verdichtung von Kräfteverhältnissen. FEI-Arbeitspapier, Nr. 30, Philipps-Universität Marburg; John Kannankulam / Fabian Georgi 2012: "Das Staatsprojekt Europa in der Krise. Die EU zwischen autoritärer Verhärtung und linken Alternativen", in: Rosa Luxemburg Stiftung Brüssel, www.rosalux-europa.info, Oktober 2012; Sonja Buckel / Fabian Georgi / John Kannankulam / Jens Wissel 2014: "Theorie, Methode und Analysen kritischer Europaforschung", in: Forschungsgruppe "Staatsprojekt Europa" (Hg.): Kämpfe um Migrationspolitik. Theorie, Methode und Analysen kritischer Europaforschung, Bielefeld: 15-86.

    33) Vgl. Fabian Georgi / John Kannankulam 2015: "Kräfteverhältnisse in der Eurokrise. Konfliktdynamiken im bundesdeutschen ›Block an der Macht‹", in: Prokla 180: 349- 369.

    34) Vgl. Bastiaan van Apeldoorn 2002: Transnational Capitalism and the Struggle over European Integration, London.

    35) Vgl. Trevor Evans 2011: "The crisis in the Euro area", in: International Journal of Labour Research, 3(1): 97-114; hier: 108f; FAZ, 28.4.2010.

    36) Vgl. Hans-Jürgen Bieling 2011: "Vom Krisenmanagement zur neuen Konsolidierungsagenda der EU", in: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 41(2): 173-194.

    37) Vgl. Joachim Becker / Johannes Jäger 2012: "Integration in Crisis: A Regulationist Perspective on the Interaction of European Varieties of Capitalism", in: Competition and Change, 16(3): 169-187.

    38) Handelsblatt, 17.6.2011.

    39) Poulantzas 2002, siehe Fn 2: 248; vgl. Lukas Oberndorfer 2012: "Der Fiskalpakt - Umgehung der europäischen Verfassung‹ und Durchbrechung demokratischer Verfahren?", in: Juridikum. Zeitschrift für Kritik, Recht, Gesellschaft, 24(2), 168-181.

    40) Poulantzas 2002, siehe Fn 2: 240.

    41) Ebd.: 241.

    John Kannankulam, Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Politische Ökonomie an der Philipps-Universität Marburg. Z.Zt. Vorstandsmitglied der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung (AkG) sowie Mitglied des BdWi und der GEW.

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