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Klaus Holzkamp

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Substanzverlust der Demokratie

  
 

Forum Wissenschaft 2/2017; Anthony / fotolia.com

Wenn von Bedrohungen der Demokratie die Rede ist, so ist das keine neue Fragestellung. Immer wieder wurden in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte entsprechende Befürchtungen formuliert und debattiert. Doch die Bestimmung des Begriffs Demokratie und die Verortung der Bedrohungen und ihrer Ursachen gehen weit auseinander - antidemokratische Tendenzen kommen jedenfalls nicht nur von außen. Andreas Fisahn untersucht die Frage, inwieweit die Krise der europäischen Demokratie durch die neoliberale Politik selbst herbeigeführt wurde.

Die Frage ist allgegenwärtig. Von der Bundeszentrale für politische Bildung, über die Zeit bis zum Deutschlandradio wird gefragt: Krise der Demokratie? Die Antworten fallen - wie zu erwarten - unterschiedlich aus, aber wenn schon die Frage so allgegenwärtig ist, gibt es offenbar Anlass zu fragen. Dabei ist die Diskussion alt. Die Krise der Demokratie wird in der BRD spätestens seit Agnolis und Brückners Transformation der Demokratie (1967) und - indirekt - mit Habermas’ Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) immer wieder in neuen Variationen diskutiert. Wassermann etwa diagnostizierte die Existenz einer Zuschauerdemokratie (1986), die bei Bofinger, Habermas und Nida-Rümelin zur Fassadendemokratie (2012) mutierte. Dabei kamen kritische Töne durchaus auch von rechts, so spricht von Arnim Vom schönen Schein der Demokratie (2000). Nichts Neues also? Um von einer Krise, einem Verfall oder einem Substanzverlust der Demokratie zu sprechen, bedarf es allerdings eines Maßstabes, denn das Weniger oder Schlechter muss an einem besseren Zustand gemessen werden. Der Maßstab kann ein normativer oder ein empirischer sein. Versuchen wir es zunächst mit dem normativen Maßstab.

Ambivalentes Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus

Ein emphatischer, emanzipatorischer Begriff der Demokratie versteht sie als Rückbindung allgemein wirkender Entscheidungen an die Adressaten dieser Entscheidung. Das ist mehr als in einer oft verwendeten Begriffsbestimmung angelegt ist, welche Demokratie als Rückbindung allgemein verbindlicher Entscheidungen an die Adressaten dieser Entscheidungen versteht. Aber auch dieser Begriff geht schon über bestehende Verhältnisse hinaus, verlangt man doch, dass auch allgemein verbindliche Entscheidungen unterhalb des Rechtssatzes, des Gesetzes, also administrative Entscheidungen Gegenstand demokratischer Prozesse sein sollten. Demokratie bezieht sich nach diesem Verständnis nicht nur auf die Gesetzgebung, sondern - innerhalb des politischen Systems - auch auf Verwaltung, d.h. administrative Entscheidungen. Versteht man Demokratie als Rückbindung allgemein wirkender Entscheidungen auf die Rezipienten dieser Entscheidung, sind auch ökonomische Entscheidungen, die oft weitreichende gesellschaftliche Folgen zeitigen, unter diesen normativen Begriff der Demokratie zu subsumieren, so dass auch ökonomische Entscheidungen, etwa Investitions- oder Verlagerungsentscheidungen einem demokratischen, partizipativen Verfahren zu unterwerfen sind.

Verwendet man diesen emphatischen Begriff der Demokratie als Maßstab, dann gab es in der Bundesrepublik oder in den kapitalistischen Demokratien nie wirkliche Demokratie. Anders gesagt: Demokratie in diesem Sinne und Kapitalismus sind unvereinbar, weil im Kapitalismus das Wirtschaften, die Ökonomie, der Sphäre des Privaten zugeordnet wird und von der Sphäre des Politischen getrennt bleiben muss - hebt man diese Trennung auf, handelt es sich nicht mehr um eine bürgerliche Gesellschaft. Das heißt: Demokratie bleibt in der bürgerlichen Gesellschaft deren zentralen Strukturmerkmalen unterworfen, nämlich der Trennung von Privatem und Politischem und/oder der Trennung von ökonomischer und politischer Macht. Diese Differentia Specifica der bürgerlichen Gesellschaft führt zu den spezifischen Ambivalenzen und Restriktionen der Demokratie in dieser Gesellschaft.

Die formale Trennung muss dazu führen, dass die ökonomische Macht Beteiligung an politischen Entscheidungen einfordert, was nur durch Repräsentation der in sich pluralen und differenzierten ökonomischen Machtelite funktionieren kann. Die Konkurrenz auf dem Markt schließt Privilegien, insbesondere den privilegierten Zugang zu politischen Entscheidungen aus. Die Freiheit und Gleichheit der Marktteilnehmer lässt sich schließlich nicht auf die Eliten begrenzen; sie weist über sich hinaus auch auf die Sphäre des Politischen, so dass am Ende die allgemeine Repräsentation der Bevölkerung in Parlamenten als Organisationsform der bürgerlichen Gesellschaft erscheint. Da die allgemeine Repräsentation, das allgemeine und gleiche Wahlrecht, aber die subalternen Klassen in die Lage versetzen (könnte), die politische Macht zu erobern, bleibt die demokratische Repräsentation fragil, bleibt es bei einer autoritären Latenz. Diese findet ihre Basis auch in der Struktur der kapitalistischen Ökonomie, die auf die (Selbst-)Disziplinierung des Besitzers der Ware Arbeitskraft angewiesen ist. Die Beziehung zwischen Demokratie und kapitalistischer Ökonomie bleibt ambivalent. Sie wird letztlich bestimmt durch konkrete gesellschaftliche Kräfteverhältnisse.1 Geht man von einem ambivalenten und instabilen Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus aus, bleibt als Maßstab für eine Verfallsdiagnose ein empirischer Ausgangspunkt, also der Vergleich gegenwärtiger mit historischen Formen der konkreten Ausgestaltung und des Arrangements der Demokratie.

Wandel demokratischer Partizipation

Wenig hilfreich ist es, die Vergangenheit zu verklären, etwa ein "goldenes Zeitalter" der Demokratie - aus deutscher Perspektive - in die Anfänge der Bundesrepublik zu projizieren, die als fordistische Periode bezeichnet wird. KPD-Verbot (1956), die Strafbarkeit von Homosexualität oder der sog. Radikalenerlass (1972) der Brandt-Regierung zeugen in sehr unterschiedlicher Weise von einer problematischen demokratischen und gesellschaftlichen Offenheit. Mit Blick auf Minderheitenrechte, politische und gesellschaftliche Liberalität erscheint die genannte Periode im Vergleich mit der gegenwärtigen Situation - trotz Ausbau der Sicherheitsapparate und Überwachungspotenziale - keineswegs als goldenes Zeitalter der Demokratie. Anders gesagt: Die Sicherung der Reproduktion der bürgerlichen Gesellschaft, ihre Absicherung gegen eine emanzipatorische Umgestaltung oder Überwindung hat sich verändert. An die Stelle der repressiven Absicherung und sozialen Integration im Fordismus trat die neokonstitutionelle Festschreibung einer neoliberalen Wirtschaftsordnung.

Die fordistische Periode lässt sich mit Blick auf die demokratische Beteiligung als plurale, aber asymmetrische Kooperation charakterisieren. Der fordistische Pluralismus organisierte eine asymmetrische Kooperation durch Teilhabe unterschiedlicher sozialer Kräfte in den verschiedenen staatlichen und halbstaatlichen Gremien. Diese Form pluralistischer Beteiligung war nur beschränkt demokratisch, weil nach geschätzter sozialer Macht, nicht nach Anzahl der organisierten Mitglieder mitbestimmt werden durfte. Trotz der Asymmetrie handelte es sich um demokratische Teilhabe auch neben der parlamentarischen Repräsentation, deren materielle Konsequenzen sich im Ausbau des Sozialstaates, der Verbesserung des Zugangs zu Bildung und Beteiligung am materiellen Wohlstand manifestierten. Die Abstimmung von Staat, Kapital und Arbeit stabilisierte gleichzeitig den gesellschaftlichen Kompromiss, der die Auseinandersetzung um materielle Verteilung und die Form der Wirtschafts- und Sozialpolitik offen ließ. Alternativen schienen möglich und in diesem Sinne blieb der demokratische Prozess offen.

Im flexiblen, neoliberalen Kapitalismus wird zivilgesellschaftliche Beteiligung zwar beschworen, aber die Entscheidungen werden anderswo getroffen, die Machteliten bleiben unter sich. Entscheidungsstrukturen im weiteren Umfeld des Staates wurden so umgebaut, dass die gesellschaftlichen "Eliten" unter sich bleiben. Das kann man ablesen an ganz unterschiedlichen Bereichen wie den Hochschulräten, in denen Gewerkschafter höchst selten zu finden sind, sog. Business Improvement Districts, in denen die ansässigen Eigentümer die Stadtteilpolitik z.T. an Stelle der gewählten Gremien bestimmen oder in sog. Normierungsgremien, in denen wesentlich die Interessen der "betroffenen" Industrien artikuliert werden. Damit werden formale Entscheidungskompetenzen der gewählten Volksvertretungen in oligarchisch strukturierte Gremien verlagert, die teilweise faktisch und teilweise sogar rechtlich verbindliche Entscheidungen vorgeben.

Auf EU-Ebene erfolgt ebenfalls eine Koordination der Eliten: Vor dem Lissaboner Vertrag (2010) wurden sekundäre Rechtsakte2 im sog. Komitologieverfahren getroffen, bei dem Experten aus den Nationalstaaten, was eine Umschreibung für Lobbyisten ist, die Kommission beraten haben und teilweise auch an der Entscheidung beteiligt waren. Im Lissaboner Vertrag haben sich die vertraglichen Grundlagen für das Sekundärrecht geändert. Abgeleitete Rechtsakte, d.h. administrative Verordnungen, haben eine größere Bedeutung erlangt. Diese Form der Rechtssetzung verstärkt den Einfluss der Lobbys. Ein Lobbyist der Zuckerindustrie schätzt, dass 96% der europäischen Regelungen als abgeleitete Rechtsakte, d.h. aufgrund einer Ermächtigung an die Kommission, verabschiedet wurden. So funktionieren im neuen Arrangement pluralistischer "Eliten" die Repräsentativorgane formal weiter, aber faktisch wird Macht auf legale, elitär besetzte Gremien übertragen, die durch eine Überrepräsentanz der ökonomisch mächtigen Gruppen gekennzeichnet sind.

Diese Eliten bilden allerdings keineswegs einen monolithischen Block, sondern sind in sich pluralistisch und dieser Pluralismus wird auch akzeptiert, nicht etwa repressiv oder autoritär "gleichgeschaltet", d.h. die unterschiedlichen Interessen innerhalb der "Eliten", die Fraktionen innerhalb der ökonomisch Mächtigen bleiben bestehen und können ihren Einfluss geltend machen. Auch in der asymmetrischen Kooperation war der Zugang zu politischen Entscheidungen ungleich und ökonomische Macht konnte über informelle Kanäle in politische Entscheidungen konvertiert werden. Das neue Arrangement zeichnet sich demgegenüber durch eine Formalisierung des Informellen aus, der ungleiche Zugang wird institutionell abgesichert.

Materiales Demokratiedefizit der EU

Mit der europäischen Wirtschaftsverfassung, die mit dem Maastricht-Vertrag von 1993 ihre Ausprägung erlangte, wurden soziale Auseinandersetzungen in der EU und in den Nationalstaaten um die richtige Wirtschafts- und Sozialpolitik weitgehend stillgelegt. Die Europäischen Verträge sind auf eine bestimmte, nämlich eine neoliberale Wirtschafts- und Sozialordnung festgelegt, die im demokratischen Prozess nicht mehr zur Disposition steht. Die Verfassungen von Gesellschaften sind zu verstehen als normative Fixierung eines Kräfteverhältnisses, welches die Spielregeln der sozialen Auseinandersetzung im oben erörterten fragilen Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus bestimmt. Mit den Verträgen der EU hat sich dieser Kompromiss verschoben und damit die Demokratie entkernt. Die Verschiebung lässt sich daran ablesen, dass das deutsche Grundgesetz als wirtschaftspolitisch neutral verstanden wird und so konzipiert wurde: Es garantiert sowohl den Schutz des Eigentums (Art. 14) wie es die Vergesellschaftung von Schlüsselindustrien erlaubt (Art. 15). Dagegen ist die europäische Verfassung, also die EU-Verträge, wirtschaftspolitisch festgelegt auf eine "offene Marktwirtschaft". Diese wird detailliert durchdekliniert: vom generellen Subventionsverbot über die Festlegung der EZB auf den Vorrang der Preisstabilität, über die Marktöffnung der Infrastruktur bis zu den vier Grundfreiheiten, die als Wirtschaftsfreiheiten zu charakterisieren sind. Die Europäische Grundrechtecharta normiert etwas, was - allen europäischen - vorherigen Verfassungen unbekannt war, nämlich ein "Grundrecht auf unternehmerische Freiheit" (Art. 16). Gleichzeitig produzieren die EU-Verträge einen Wettlauf der Mitgliedstaaten um niedrige Sozialkosten und niedrige Unternehmenssteuern, weil ausgerechnet diese Bereiche nicht europäisch harmonisiert werden. In den Verträgen ist strukturell ein race to the bottom bei den Sozialleistungen und bei den Unternehmenssteuern angelegt, wobei Letzteres zu Finanzierungsschwierigkeiten der Nationalstaaten führen muss und zusätzlich Druck auf die sekundäre Verteilung, also den Sozialstaat, ausübt.

Die "Alternativlosigkeit" der Wirtschaftsordnung und das institutionelle Demokratiedefizit führen dazu, dass die EU insgesamt entpolitisiert wird. Die Europäischen Verträge begründen einen Vorrang der Administration vor der Volksvertretung. Eine demokratische Auseinandersetzung um die Richtung europäischer Politik gibt es schon deshalb nicht, weil es kein einheitliches Wahlsystem gibt und nationale Parteien sich zur Wahl stellen. Die Öffentlichkeit ist mit Blick auf die Europapolitik entpolitisiert oder schlimmer: es gibt keine europäische Öffentlichkeit, in der eine europäische Willensbildung stattfinden könnte. Das Problem ist ein strukturelles: Weil der Rat nationalstaatliche Interessen vertritt und die Regierungen die Verhandlungen im Rat als Vertretung nationalstaatlicher Interessen kommunizieren, bleibt kein Raum für eine europäische Öffentlichkeit - sie bleibt gespalten in nationalstaatliche Öffentlichkeiten. Das bedeutet: Nach dem materiellen und prozeduralen Gehalt genügt die europäische Konstitution demokratischen Anforderungen nicht. Das neoliberale Dogma des unbeschränkten Wettbewerbs wurde Teil der europäischen Verfassung. Die Demokratie wird entkernt, weil die Richtungsentscheidungen längst getroffen wurden. Internationale Freihandelsverträge sind geeignet, diese Form der Absicherung neoliberaler Wirtschaftspolitik auf einer weiteren Stufe zu vertiefen und zu festigen.

Neue autoritäre Formen

Die Finanz- und Wirtschaftskrise nach 2008 führte zu einer neuen Konfiguration der Institutionen und Kräfteverhältnisse innerhalb der Europäischen Union. Alles bewegt sich in Richtung auf eine zentralistische, europäische Kontrolle der nationalen Wirtschafts- und Sozialpolitik. An die Stelle des strukturell indizierten race to the bottom im Bereich Sozialleistungen und Unternehmenssteuern soll dieser nun zentral von der EU gesteuert werden mit dem Ziel, Wettbewerbsfähigkeit durch niedrige Löhne und Abgaben herzustellen.

Eine zentralistische Kontrolle der nationalen Wirtschafts- und Sozialpolitik wurde zunächst für die Euro-Schuldnerstaaten etabliert. Im Gegenzug zu unterschiedlichen Formen der Kreditvergabe wurde den Schuldnerstaaten eine Austeritätspolitik diktiert. Die Entdemokratisierung der Politik wurde hier greifbar. Die Troika hält sich ein Parlament, das die Vorgaben getreu umsetzt. Die Bevölkerung hat keinen Einfluss und muss die Folgen der Politik erleiden.3 Von einem demokratischen Prozess lässt sich nicht mehr sprechen. Im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik wurde ein europäischer Maßnahmestaat institutionalisiert, der sich dadurch auszeichnet, dass abstrakt allgemeine gesetzliche Regelungen durch konkrete Anordnungen, individuelle Befehle, die dann nur für einzelne Staaten Geltung haben, ersetzt werden. Deshalb lässt sich dieses System als autoritäre Wirtschaftsregierung bezeichnen.

Auch für die übrigen Mitgliedstaaten fährt der Zug in Richtung einer Zentralisierung der Haushaltspolitik, d.h. in Richtung einer Überwachung der nationalen Haushalte durch eine europäische Administration. Das bedeutet aber letztlich eine weitgehende Entmachtung der nationalen Parlamente.

Die Implementation der Wettbewerbsordnung in der Europäischen Union war aus der Sicht ihrer Apologeten vergleichsweise erfolgreich. Der strukturell induzierte Wettlauf zwischen den Staaten um niedrige Unternehmenssteuern und um niedrige Sozialkosten für das Kapital führte zu einer Umverteilung von unten nach oben.4 Mit dem Wechsel zur autoritären Wirtschaftsregierung und dem Diktat der Austeritätspolitik wurde die Umverteilung nach oben offen zur politischen Maxime der EU.

Interessant ist nun die subjektive Verarbeitung dieser Entwicklung. Das Fehlen von Entscheidungsmöglichkeiten, die strukturelle Entpolitisierung und Benachteiligung "subalterner" Schichten und Gruppen hat sich in einer Abstinenz von Wahlen bemerkbar gemacht. Neuerdings kann die AfD am rechten Rand viele Wähler mobilisieren. In ganz Europa haben sich als Reaktion auf den marktradikalen Umbau der Gesellschaft sozialdarwinistische Bewegungen oder Parteien bilden und etablieren können. Die prekärer werdende oder so empfundene soziale Situation wird neoliberal verarbeitet, das heißt individualistisch, nicht kollektiv und egoistisch, nicht solidarisch. Das neoliberal sozialisierte Individuum stellt nicht den marktkonformen Individualismus infrage, sondern fordert "faire Wettbewerbsbedingungen" gegenüber den zugewanderten Dumpinglöhnern. So ergibt sich ein fürchterliches Amalgam aus neoliberalem Individualismus und sozialdarwinistischem Nationalchauvinismus.

Im Ergebnis untergräbt die EU so durch ihren Marktradikalismus zunächst ihre eigenen Voraussetzungen. Der Neoliberalismus musste in Europa liberalen Marktradikalismus mit politischem Liberalismus verbinden. Das Erstarken nationalchauvinistischer Bewegungen und Parteien untergräbt zunächst die politische Liberalität als Voraussetzung einer europäischen Integration. Folge sind Absetzbewegungen von der EU. Zweitens wird aber auch die politische Liberalität als Voraussetzung der Demokratie in den Nationalstaaten unterminiert, denn der identitäre Anspruch, Volkes Stimme zu artikulieren, wobei das Volk als Einheit unterstellt wird, ist mit der Anerkennung eines demokratischen Pluralismus unvereinbar. So entsteht zumindest ein Druck auf liberale Errungenschaften, die immer auch Voraussetzung einer Kultur demokratischer Meinungs- und Willensbildung sind.

Anmerkungen

1) Dazu ausführlich Andreas Fisahn 2016: Die Saat des Kadmos - Staat, Demokratie und Kapitalismus, Münster: Kap. E.

2) Sekundäre Rechtsakte betreffen Durchführungsbestimmungen der Kommission. Im AEUV wird zwischen delegierten Rechtsakten (Art. 290) und Durchführungsrechtsakten unterschieden, für die jeweils die Kommission zuständig ist.

3) Ausführlich: Andreas Fisahn 2014: Grenzen der EZB in der Krise und die Grundlagen der Europäischen Union, Rosa-Luxemburg-Stiftung: 44ff.

4) Breit rezipiert wurde vor allem: Thomas Piketty 2015: Das Kapital im 21. Jahrhundert, München: passim.

Andreas Fisahn (1960), seit 2004 Professor für öffentliches Recht und Rechtstheorie an der Universität Bielefeld. Schwerpunkte: Staatstheorie, Europäische Union, Rechtliche Grenzen des Freihandels. Aktuelle Veröffentlichungen: Die Saat des Kadmos - Staat, Demokratie und Kapitalismus, Münster, 2016 www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/Fisahn_Demokratie-Staat-Kapitalismus.pdf; Hinter verschlossenen Türen: Halbierte Demokratie?, Hamburg 2017.

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