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Nicht ohne Praxisbezug!

10.09.2022: Hochschulbildung im 21. Jahrhundert

  
 

Forum Wissenschaft 3/2022; Foto: codswollop / photocase.de

Der Wissenschaftsrat hat vor Kurzem seine Vorstellungen zur Zukunft von Studium und Lehre skizziert. Ulf Banscherus hat das Papier gelesen und einige kritische Anmerkungen. Insbesondere fehlen ihm Aussagen zu der Frage, wie Studierende gut auf die berufliche Praxis außerhalb des Hochschulsystems vorbereitet werden können. Aus seiner Sicht bleibt ein kritisch-reflexiver Praxisbezug auch weiterhin eine lohnenswerte Zielsetzung.

Ende April dieses Jahres hat der Wissenschaftsrat ein Positionspapier vorgelegt, das nicht weniger verspricht, als die "Hochschulbildung im 21. Jahrhundert" zu definieren. So legt es zumindest der Titel der Pressemitteilung nahe, die anlässlich des Beschlusses der Empfehlungen einer Arbeitsgruppe, an der unter anderem der scheidende Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, Peter-André Alt, beteiligt gewesen ist, veröffentlicht wurde. Der Zeitpunkt der "Empfehlungen für die zukunftsfähige Gestaltung von Studium und Lehre"1, so die etwas bescheidener daherkommende Überschrift des Papiers, überrascht etwas, da der Wissenschaftsrat sich bereits 2015 im Rahmen einer differenzierten Auseinandersetzung zum Verhältnis von Hochschulbildung und Arbeitsmarkt umfassend zu den Bildungszielen geäußert hatte, die mit einem Studium erreicht werden sollen.2 Das damalige Papier stellte auch eine Antwort auf den Staatsvertrag der Länder dar, mit dem 2014 das Akkreditierungssystem auf eine neue Basis gestellt wurde. Im Zuge dessen wurden mit der fachwissenschaftlichen Ausbildung, der Vorbereitung auf eine qualifizierte Berufstätigkeit und der Persönlichkeitsbildung, die seither auch die Befähigung zum zivilgesellschaftlichen Engagement einschließen soll, drei prioritäre Kriterien von Studium und Lehre benannt. Nun ist in den letzten acht Jahren zweifellos viel passiert, auch und gerade an den Hochschulen. Wer aber von dem nun vorgelegten Papier ein "Update" der damaligen Empfehlungen erwartet hätte, einen Versuch, die Erfahrungen mit der Corona-Pandemie und der weitgehend erzwungenen Digitalisierung von Studium und Lehre aufzugreifen und konstruktiv in die Definition der Studienziele zu integrieren, fände sich enttäuscht. Vielmehr stellt das neue Papier nicht weniger als eine ideologische Rückkehr in die Zeit vor den Studienreformdiskussionen der 1960er und 1970er Jahre dar, indem es die akademische Sozialisation in die wissenschaftliche Praxis der jeweiligen Fachdisziplin zum zentralen Maßstab eines erfolgreichen Hochschulstudiums verklärt. - Vorschläge für die Gestaltung digitaler Hochschullehre hat der Wissenschaftsrat übrigens im Juli dieses Jahres in einem eigenen Positionspapier unterbreitet.3

Zielkatalog als Kompromiss

Der Festlegung eines multiplen Zielkatalogs für Studium und Lehre, der - in der konkreten Ausgestaltung immer abhängig vom Profil des konkreten Studiengangs - zwingend die vier Elemente Fachwissenschaft, Arbeitsmarktvorbereitung und Persönlichkeitsbildung sowie das gesellschaftliche Engagement umfasst, gingen vor allem in der Anfangszeit des Bologna-Prozesses kontroverse Debatten um die Forderung nach einer prioritären Bedeutung der "Employability" der Absolvent*innen voraus. Die 2014 formulierten Studienziele stellten insofern einen Kompromiss dar, der allerdings vom Wissenschaftsrat mit seiner aktuellen Positionierung wieder in Frage gestellt wird, wenn er zum einen konstatiert, dass "sich der umfassende Kompetenzerwerb" erst "mit der akademischen und fachlichen Sozialisation" vollziehe (29f.) und zum anderen die weiteren Bildungsziele kaum Erwähnung finden. Auffällig ist insbesondere, dass die Frage der Vorbereitung auf eine qualifizierte Berufstätigkeit, die für die große Mehrheit der Studierenden von zentraler Bedeutung ist, weil sie nach dem Abschluss keinen Verbleib im akademischen Kontext anstreben, im Konzept für die "Hochschulbildung im 21. Jahrhundert" gar nicht erst behandelt wird. Über diese Schieflage können auch die Vorschläge nach einer Ausweitung der Wahlmöglichkeiten für die Studierenden sowie einer verstärkten Interaktion der Studierenden untereinander im Rahmen eines ausgeweiteten Selbststudiums nicht hinwegtäuschen, wenngleich diese Maßnahmen bei einer weniger starken Engführung der Studienziele grundsätzlich begrüßenswert wären und auch bereits seit Langem Bestandteil des Forderungskatalogs von Studierendenvertretungen und Gewerkschaften sind; allerdings als Bestandteile einer reflektierten Auseinandersetzung sowohl mit der akademischen als auch mit der gesellschaftlichen Praxis.

Konzept nicht massenkompatibel

Einen Kernbestandteil der Empfehlungen des Wissenschaftsrates bildet das "akademische Mentorat", das darauf abzielen soll, "die akademische Sozialisation durch diskursive Auseinandersetzung mit fachlichen Inhalten" zu fördern und die "Aufnahme in die Hochschulgemeinschaft erfahrbar" zu machen. (33) Durch dieses Unterstützungsangebot soll "allen Studierenden eine aktive Teilnahme am wissenschaftlichen Diskurs ermöglicht und sowohl die fachliche Kompetenzentwicklung als auch die Persönlichkeitsentwicklung intensiviert werden." (35) So wünschenswert ein intensiverer Austausch zwischen Lehrenden und Studierenden und insbesondere eine bessere Betreuung von Prüfungsleistungen auch wäre, so stellt sich auch beim Vorschlag des "akademischen Mentorats" doch die Frage, ob ein solches auch für die Studierenden hilfreich wäre, die sich mit den Regeln des akademischen Feldes schwer tun, weil ihnen ein entsprechender Habitus fehlt, insbesondere dann, wenn durch dieses Format zwar "unterschiedliche Bedürfnisse der Studierenden nach Orientierung berücksichtigt werden" sollen, allerdings "ohne dass ihnen eine eigene Strukturierungsleistung völlig abgenommen wird." (33) Zumindest in der vom Wissenschaftsrat skizzierten Form, die stark vom einigermaßen aus der Zeit gefallenen Idealbild der universitären Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden geprägt zu sein scheint, ist das "akademische Mentorat" für eine zukunftsfähige Hochschulbildung entbehrlich und möglicherweise eher als Option zur Verbesserung der Betreuungssituation von Doktorand*innen geeignet. Notwendig wäre für alle Studierenden vielmehr eine kontinuierliche Beratung und Begleitung, die hinsichtlich möglicher Perspektiven nach dem (ersten) Hochschulabschluss ergebnisoffen ist und in realistischer Weise sowohl über einen möglichen Verbleib an der Hochschule (in Form eines weiteren Studiums oder auch einer Promotion) als auch über die Option eines Übergangs in die Arbeitswelt informiert.

Keine Ideen für die Lehre

Die Diagnose des Wissenschaftsrates, dass neue Lehr- und Lernformen für ein zeitgemäßes Studium unverzichtbar sind, wird wohl von den meisten Studierenden, aber auch von vielen Lehrenden und Hochschulpolitiker*innen geteilt. Umso überraschender ist, dass konkrete didaktische Ansätze im vorgelegten Positionspapier eine Leerstelle bleiben. Zwar wird fast schon emphatisch die hohe Relevanz der Hochschullehre beschworen, wobei diese als "wissenschaftliche Praxis" charakterisiert wird, die "den modus operandi der Forschung" übernimmt (47). Das angestrebte Ergebnis der "Lehrkunst" soll allerdings in erster Linie darin bestehen, dass "Studierende nicht nur mit der Wissenschaftspraxis konfrontiert werden, sondern auch die Gelegenheit bekommen, eigene Forschung zu betreiben." (29) In diesem Zusammenhang wird ohne weitere Konkretisierung auf die Ansätze des forschenden sowie des problembasierten und projektorientierten Lernens verwiesen. Insbesondere die zuletzt genannten hochschuldidaktischen Formate sind unter bestimmten Voraussetzungen allerdings besonders gut dafür geeignet, einen Praxisbezug von Studium und Lehre zu realisieren und somit einen fundierten Beitrag zur Erreichung des Studienziels der Vorbereitung auf eine qualifizierte Berufstätigkeit zu leisten. Dass der Wissenschaftsrat bei seinen aktuellen Empfehlungen erneut in die längst überwunden geglaubte Falle tappt, eine Diskrepanz zwischen forschendem Lernen und Bezügen zur gesellschaftlichen Praxis, einschließlich der Arbeitswelt, zu konstruieren, hätte sich möglicherweise durch die Einbeziehung hochschuldidaktischer Expertise vermeiden lassen, denn dieser häufig formulierte Gegensatz von Theorie und Praxis wirft ein völlig falsches Licht auf die Entwicklung der Wissenschaft. Beispielsweise würde die Navigation per GPS ohne Einsteins Relativitätstheorie nicht funktionieren, während Bourdieus Beiträge zur soziologischen Theorie ohne seine intensiven Auseinandersetzungen mit der gesellschaftlichen Praxis undenkbar wären. Dies gilt in ganz ähnlicher Weise auch für die Hochschullehre.

Kritisch-reflexives Praxisverständnis

Das Konzept der "Employability" wird in der hochschulpolitischen Diskussion gerade in Deutschland aus guten Gründen weitgehend abgelehnt; schließlich handelt es sich hierbei um einen feststehenden Begriff aus der europäischen Arbeitsmarktpolitik, mit dem Maßnahmen verbunden werden, durch die Risikogruppen, die als kaum beschäftigungsfähig gelten, doch noch in den Arbeitsmarkt vermittelt werden können. Das Studienziel der Vorbereitung auf eine qualifizierte Berufstätigkeit geht weit über diese Lesart hinaus. Es geht keineswegs nur um die Fähigkeit, den Anforderungen eines bestimmten Tätigkeitsfeldes kurzfristig gewachsen zu sein, sondern vielmehr um eine langfristige Bewältigung der Anforderungen eines sich wandelnden Beschäftigungssystems. Aus gewerkschaftlicher Sicht, die auch von vielen Studierendenvertreter*innen geteilt wird, umfasst ein kritisch-reflexives Praxisverständnis immer auch die Befähigung zur "Citzenship" im Sinne der Befähigung zur dauerhaften Übernahme von Verantwortung in Beruf und Gesellschaft. Die an ein Hochschulstudium gerichtete Forderung eines Praxis- bzw. Berufsbezugs bedeutet also keineswegs zwangläufig eine Reduktion der Hochschulen auf ihre - gleichwohl vorhandene - Funktion als Ausbildungseinrichtungen für einen relevanten Teil einer Alterskohorte. Insofern steht die anhaltende Diskussion um eine "passende" Ausgestaltung der Praxisorientierung von Studium und Lehre in einer lang zurückreichenden Diskursgeschichte, in der statt des Begriffs der "Employability" traditionell eher andere Begriffe wie Praxis- und Berufsorientierung eine Rolle spielen. In diesem Verständnis gilt der Praxisbezug vielfach als "Herzstück der Studienreform" (Johannes Wildt) und dessen Stärkung als eine Möglichkeit, Hochschulen und Gesellschaft stärker miteinander in Beziehung zu setzen und aus dem sprichwörtlichen akademischen "Elfenbeinturm" auszubrechen.4

Praxisorientierung durch forschendes Lernen?

Ob und inwieweit der Ansatz des forschenden Lernens dazu geeignet ist, die Praxisorientierung in Studium und Lehre zu unterstützen, wird von Hochschuldidaktiker*innen unterschiedlich beantwortet. Teilweise wird unter diesem Konzept - anknüpfend an eine Denkschrift der Bundesassistentenkonferenz aus dem Jahr 1970 - das Ziel verstanden, Wissenschaft auch für Studierende als sozialen Prozess erfahrbar zu machen, im Idealfall durch die Beteiligung an einem gesamten Forschungszyklus von der Entwicklung der Fragestellung über die Durchführung bis zur Ergebnisdarstellung.5 Forschendes Lernen kann in dieser Lesart durchaus im Sinne der aktuellen Positionierung des Wissenschaftsrates als Beitrag zu einem wissenschaftlichen Sozialisationsprozess betrachtet werden, allerdings sollte diese Erfahrung auch dem ursprünglichen Verständnis nach offen für alle Studierenden sein. Im Ergebnis soll forschendes Lernen die Kompetenz dazu vermitteln, produktiv mit Unsicherheit umgehen zu können, was auch in hochqualifizierten Berufen außerhalb der Wissenschaft von Nutzen sein kann. Teilweise wird das forschende Lernen aber eben auch als besonders geeignet für einen reflektierten Umgang mit den Anforderungen der beruflichen Praxis beschrieben.6 Ein konkretes Beispiel hierfür ist der Einsatz der Methode des forschenden Lernens in schulpraktischen Studien von Lehramtsstudierenden, bei denen im Sinne eines wissenschaftsgeprägten Zugangs zur pädagogischen Berufspraxis und in Anknüpfung an Methoden des entdeckenden und projektorientierten Lernens eine enge Verzahnung von Forschungs- und Praxisprozessen erfolgt.7 Übergreifend lässt sich festhalten, dass beim forschenden Lernen ein Bezug auf gesellschaftliche und/oder berufliche Fragestellungen konzeptionell keineswegs ausgeschlossen ist. Während eine Praxisorientierung im traditionellen Verständnis des Ansatzes des forschenden Lernens lediglich eine von mehreren möglichen Ausrichtungen darstellt, stellt die enge Verbindung mit Praxisphänomenen in anderen Varianten ein konstituierendes Merkmal dar.

Was heißt das nun?

Für den Großteil der Studierenden dient das Hochschulstudium der Vorbereitung auf eine qualifizierte Berufstätigkeit. In Studienreformkonzepten sollte die berufliche Qualifizierung von Akademiker*innen deshalb nicht "gleichsam als ein ›Abfallprodukt‹ forschungsbasierter Fachschulung und akademischer Persönlichkeitsbildung" behandelt werden.8 Hochschulbildung im 21. Jahrhundert sollte sich also nicht nur an der Ausbildung eines akademischen Habitus durch akademische Sozialisation orientieren, sondern auch ihre Ausbildungsfunktion ernst nehmen, die allerdings erst im Zusammenspiel mit dem Fachstudium sowie der Förderung der Persönlichkeitsbildung und des zivilgesellschaftlichen Engagements erreicht werden kann.

Anmerkungen

1) Wissenschaftsrat 2022: Empfehlungen für eine zukunftsfähige Ausgestaltung von Studium und Lehre (Drs. 9699-22), Erfurt.

2) Wissenschaftsrat 2015: Empfehlungen zum Verhältnis von Hochschulbildung und Arbeitsmarkt - Zweiter Teil der Empfehlungen zur Qualifizierung von Fachkräften vor dem Hintergrund des demographischen Wandels (Drs. 4925-15), Bielefeld.

3) Wissenschaftsrat 2022: Empfehlungen zur Digitalisierung in Lehre und Studium (Drs. 9848-22), Magdeburg.

4) Vgl. z.B. Ulf Banscherus 2018: "Praxisorientierung des Studiums und Forschendes Lernen: Keine unvereinbaren Gegensätze, sondern (potenziell) eine produktive Verbindung", in: Judith Lehmann / Harald Mieg (Hg.): Forschendes Lernen: Ein Praxisbuch, Potsdam: 280-295.

5) Vgl. Ludwig Huber 2009: "Warum Forschendes Lernen nötig und möglich ist", in: Ludwig Huber / Julia Hellmer / Friederike Schneider (Hg.): Forschendes Lernen im Studium, Bielefeld: 9-35.

6) Vgl. Johannes Wildt 2012: "Praxisbezug der Hochschulbildung - Herausforderung für Hochschulentwicklung und Hochschuldidaktik", In: Wilfried Schubarth / Karsten Speck / Andreas Seidel / Corinna Gottmann / Caroline Kamm / Maud Krohn (Hg.): Studium nach Bologna: Praxisbezüge stärken?! Praktika als Brücke zwischen Hochschule und Arbeitsmarkt, Wiesbaden: 261-278.

7) Vgl. Ralf Schneider / Johannes Wildt 2002: "Forschendes Lernen in Praxisstudien. Das Beispiel des Berufspraktischen Halbjahres in der Lehrerausbildung", in: Brigitte Berendt / Birgit Szczyrba / Hans-Peter Voss / Johannes Wildt (Hg.): Neues Handbuch Hochschullehre. Lehren und Lernen effizient gestalten, Berlin: Raabe, G 3.1: 1-29.

8) Andrä Wolter / Ulf Banscherus 2012: "Praxisbezug und Beschäftigungsfähigkeit im Bologna-Prozess - ›A never ending story‹?", in: Schubarth u.a. (Hg.) 2012 (s. Anm. 6): 21-36; Zitat: 22.

Dr. Ulf Banscherus ist Sozial- und Bildungswissenschaftler und leitet die Kooperationsstelle Wissenschaft und Arbeitswelt an der Technischen Universität Berlin.

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