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Klaus Holzkamp

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Pädagogik + Medien = Medienpädagogik?

15.12.2004: Die Erziehungswissenschaft und der Kongress der Pferdekutscher

  
 

Forum Wissenschaft 4/2004; Titelbild: Karl Blossfeldt (Herr und Frau Wilde)

Seine Erfahrungen als Erziehungswissenschaftler mit dem neuen Gegenstand Medien - vom Radio bis zum Internet - beschreibt Georg Rückriem . Ein Lehrstück über das Lernen eines Lehrenden im Fach, das sich mit Lernen und Lehren beschäftigt. Ein Lehrstück auch über den Zusammenhang zwischen der Umwälzung des eigenen Verhältnisses zum Gegenstand und der Wahrnehmung gesellschaftlicher Umwälzungen.

Kein Begriff hat in der Erziehungswissenschaft eine auch nur annähernd vergleichbare Karriere aufzuweisen wie der Medienbegriff. Bis in die 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts war er völlig unbekannt und existierte nicht einmal in den einschlägigen pädagogischen Lexika. Zur Zeit des Funkkollegs - also nur rund 45 Jahre später - hatte er als Kategorie seine eigene erziehungswissenschaftliche Teildisziplin begründet. Die Einrichtung des Funkkollegs selbst wurde damals als Praxismodell einer »Hochschullehre im Medienverbund« konzipiert, gewissermaßen als ein Versuch zur Übertragung der Mediendidaktik auf die Hochschullehre. Neu daran war für uns damals vor allem, dass wir die Texte anders verfassen mussten, als wir das für unsere Vorlesungen gewohnt waren. Die Wünsche der Rundfunkleute betrafen jedoch eher Anforderungen an Gestaltung und Diktion, soweit sie sich aus den Bedingungen des Mediums Funk bzw. den Hörgewohnheiten ergaben. Sie bezogen sich also nicht auf inhaltliche Konsequenzen als vielmehr auf die medienadäquate Gestaltung. Über diese Erwartungen gab es unter uns keine Diskussion, im Gegenteil, entsprechende Hinweise z. B. auf die Verwendung eines konkreten Beispiels zu Beginn der Vorlesung oder auf den Einbau einer besonderen Motivationsunterstützung in der 7. Minute und dgl. mehr, wurden dankbar entgegengenommen.

Medienkonzept, zum ersten

Unser eigenes Medienverständnis entsprach der allgemeinen Auffassung von Mediendidaktik:

1. Medien sind "Mittel" oder "Mittler". Sie vermitteln Informationen bzw. Wissen.

2. Medien sind Wirkursachen. Sie determinieren den Vermittlungsprozess und erzeugen Verhaltensänderungen.

3. Diese determinierende Wirkung auf das Lernen ist unmittelbar. Sie kommt den Medien von Natur aus zu.

4. Es gibt keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Lehrern und Medien. Personale und apersonale Medien weisen die gleiche Grundfunktion auf - die Vermittlung.

5. Die apersonalen Medien unterscheiden sich in didaktische Medien und allgemeine Kommunikations- bzw. Massenmedien wie Film, Funk, Fernsehen und Presse.

6. Als didaktische Medien gelten nur solche apersonalen Medien, die eine bestimmte Funktion im Lehr-Lernprozess übernehmen wie z.B. Motivation, Problemeinführung, Faktenvermittlung, Arbeitsanleitung, Lernwegsteuerung, Kontrolle usw.

7. Die Möglichkeiten des Einsatzes und der spezifischen Wirkung didaktisch kontrollierter Medien auf Optimierung, Effektivierung und Rationalisierung des Lehr-Lernprozesses, kurz: ihr Beitrag zur Lehrobjektivierung wird von einer Spezialdisziplin, der Mediendidaktik, erforscht.

8. Die chaotische Sozialisationswirkung der didaktisch nicht kontrollierten Massenmedien bedarf einer spezifischen Form der pädagogischen Kontrolle mit dem Ziel, dem "optisch-akustischen Pandämonium" (Erich Wasem), das uns in "Unmündige und Hörige verwandelt" (Anders), eigengesetzliche Kriterien, angemessene Einsichten und eine Einübung in den "mündigen Gebrauch" (Freudenstein) entgegenzusetzen, d.h., sie bedarf der Medienpädagogik.

Unsere Diskussion beschränkte sich auf die empirische Anreicherung der These von der Sozialisationsfunktion der Massenmedien sowie auf die Möglichkeiten der kritischen Medienpädagogik, die manipulatorische Wirkweise der didaktisch nicht kontrollierten Massenmedien bewusst zu machen. Was wir damals nicht diskutierten (und angesichts des Standes der Medientheorie wohl auch noch nicht konnten), waren die unreflektierte Reifizierung des Medienbegriffs, der damit verbundene Medienkausalismus sowie die instrumentalistische Überschätzung der Unterrichtstechnologie. Ich selbst befand mich damals in einem Widerspruch zwischen dem Objektivismus der Sozialisationstheorie einerseits, der dem Medienkausalismus entsprach, und der Überzeugung von der »inhaltlichen Unschuld« der Medien andererseits. Manipulation war für mich damals keine Frage der Medien selbst als vielmehr ihres Gebrauchs. Nicht die Massenmedien waren für mich das Ziel der Kritik, sondern Axel Springer und seine Medienmacht. Erst später habe ich die Argumente Marshall MacLuhans gelesen, die eben diese Auffassung von der Unschuld der Medien als die "unbefangene Haltung des technischen Dummkopfs" charakterisierten.

Sofern nun unsere damalige Einstellung auch dem digitalen Medium gegenüber unverändert beibehalten wird, halte ich dies für eine verhängnisvolle Unterschätzung der tatsächlichen, revolutionären Bedeutung dieses Mediums. Sie macht uns darüberhinaus unfähig zu sehen, dass die digitale Vernetzung dem Bildungswesen Probleme stellte, die den Verständnisrahmen nicht nur der Mediendidaktik und Medienpädagogik, sondern auch der Erziehungswissenschaft insgesamt überschreiten.

Ich möchte in einer biographisch orientierten Retrospektive zeigen, wie der Sozialisationstheoretiker von damals zu seinem heutigen Verständnis von Erziehungswissenschaft (EWI) kam, das sich vorrangig an Medientheorie, Mediengeschichte und Medienphilosophie orientiert. Meine zentrale These: Mit ihrem Medienverständnis blockiert sich die EWI selbst in ihrer Wahrnehmung und angemessenen Reaktion auf die mit dem Medium Internet verbundenen strukturellen Veränderungen. Die Ursache dafür ist keine individuelle, sondern eine der internen Logik der EWI selbst.

Medienkonzept, zum zweiten

In meiner Praxis an der Universität der Künste, in deren Betrieb seit je Medien zentraler Bestandteil sind, konnte ich die Entstehung völlig neuer Strukturen erleben - neue auf die elektronischen Medien bezogene Studiengänge, neue Institute, neue Netzstrukturen, neue Kommunikationssysteme. In den theoretischen wie praktischen Auseinandersetzungen an der UdK konnte ich folgenden erreichten Konsens beobachten:

1. Hier entwickelt sich ein neues "Leitmedium" von bisher nicht gekannter Allgemeinheit und mit bisher nicht abschätzbaren Folgen:

  • Das digitale Medium ist allgemein, d.h. es integriert alle traditionellen Kommunikationsmedien und verleiht ihnen eine neue gesellschaftliche Bedeutung.
  • Es ist umfassend, d.h. die Digitalisierung betrifft alle Lebensbereiche und verändert ihre bisherige Struktur.
  • Es ist universell, d.h. es ist weltweit verbreitet und erzeugt einen globalen Informationsraum für alle Nationen und alle Völker.
  • Es ist interaktiv, d.h. es begründet einen Kommunikationsraum für alle und bringt dadurch permanent neue und wiederum vernetzte soziale Kommunikationssysteme hervor.
  • Es ist »rhizomatisch«, d.h. es ist weder linear noch hierarchisch, es existiert nur als Netzwerk.
  • Es ist irreversibel, aber auf ständige Veränderung angelegt und darin zugleich konstant.

2. Dieses neue »Leitmedium« hat eine qualitativ neue gesellschaftliche Bedeutung:-Es ist ein »Weltanschauungsapparat« (De Kerckhove), d.h. es produziert nicht nur neue Fähigkeiten und neue Wissensformen und -inhalte, sondern es generiert eine neue Weltsicht, neue semantische Systeme und setzt sie zugleich voraus.

  • Es leitet einen gesellschaftlichen »Formationswechsel« ein, d.h. es provoziert und unterstützt gesellschaftliche Veränderungsprozesse, die sich nicht auf Wissen und Verhalten beschränken, sondern neue und bis dato nicht bekannte gesellschaftliche Strukturen hervorbringen.

Dieser »Formationswechsel« ist zwar nicht der, den ich 1968 erwartete, aber er wird mittlerweile allgemein als »revolutionär« bezeichnet. Einerseits war für mich klar, dass davon das gesamte Wissenschaftssystem betroffen sein muss1, also auch die Erziehungswissenschaft. Andererseits blieb mir trotz der optimistischen Einschätzungen von Haefner und Papert wie auch der pessimistischen Urteile Postmans und von Hentigs die spezifisch erziehungswissenschaftliche Begründung möglicher Folgerungen unklar. Erst recht unklar war mir die medientheoretische Begründung der beiden entgegengesetzten Positionen. Meine

damalige erziehungswissenschaftliche Auffassung ähnelte der von Tenorth.2 Ich referiere ihn ausführlicher, weil er die disziplininterne Logik gegenüber »Medien« auf den Punkt bringt.

Wer sich mit der Auswirkung der "so genannten Medienrevolution" auf Schule und Erziehungswissenschaft befasse, müsse von folgender Voraussetzung ausgehen: Zwischen dem medial geprägten Alltag der Heranwachsenden einerseits und der Arbeit der Schule andererseits besteht aus guten Gründen eine starke Differenz: der Unterschied zwischen schulischem Lernen als "pädagogisch betreuter Aktivität" und außerschulischem Lernen "als selbstbestimmter Form des Umgangs mit und der Aneignung von Welt". Die außerschulische Form sei früher funktionales oder Sozialisationslernen genannt worden. Im Unterschied dazu sei Anspruch und Funktion der pädagogischen Arbeit der Schule die Bildung, d.h. die "Kultivierung der Form des Umgangs mit Wissen und Welt" im Rahmen der "Durchsetzung und Tradierung einer Kultur". Für diese Zwecksetzung aber sei das "zentrale Medium schulischen Lernens" die personale Interaktion und das didaktische Handeln der Lehrenden unverzichtbar, für das das Verstehen des individuellen Subjekts und seiner situativen Probleme, die Wahrnehmung seiner aktuellen und die Antizipation seiner zukünftigen Möglichkeiten, die angemessene Anregung zur Selbsttätigkeit und die entsprechende Unterstützung, schließlich die Beurteilung der aktuellen Leistung vor dem Hintergrund der erwartbaren Fähigkeiten oder die Sicherung der Erfahrung moralischer Differenz und die personale Repräsentation moralischer Haltungen konstitutive Bedingungen seien, die sich grundsätzlich jeder Algorithmisierung entzögen, aber die innere Logik der pädagogischen Arbeit ausmachten. Tenorths Schlussfolgerung: Jede Einschränkung dieser Logik deformiere daher die pädagogische Arbeit der Schule. Anders: Eine umwälzende Veränderung von Schule und Bildung sei von dem unbestreitbaren Wandel der Medien eben gerade nicht zu erwarten. Dieser sei lediglich eine neue Form der Weltveränderung, die an der schon immer bestehenden Aufgabe der Schule, kritische Distanz und mündigen Umgang zu vermitteln, nichts ändere. Kurz: Eine revolutionäre Auswirkung der Medien auf die Schule kann es aufgrund der ihr eigenen Logik pädagogischen Handelns nicht geben.

Computer, Literacy, Fragen

Diese Argumentation schien stichhaltig. Andererseits war sie äußerst unbefriedigend, insofern sie den intensiven Diskurs in meiner Praxis über die Auswirkungen auf Schule und Bildungswesen als Rhetorik abqualifizierte. Mein Ausweg: Experimente, d.h. z.B. Einführungskurse für Computerprogramme, Online-Seminare, Seminare über Cyberliteracy als neue Kulturtechnik, Gründung einer Werkstatt "Computer und Bildung", Einrichtung einer Homepage für Texte, einer newsgroup und email-Liste für den studentischen Austausch, Erstellung einer interaktiven Studienordnung mit HTML und excel, Seminare im Rahmen der Senioren-Universität und der universitären Weiterbildung.3

Meine Probleme: die auftretenden großen Unterschiede in Bereitschaft und Lernfähigkeit der Studierenden im Umgang mit Computern. Es gab keinerlei automatische Verbesserung ihrer Fähigkeiten beim Einsatz von Computern, erst recht nicht in der Fähigkeit, die in der Literatur "Computerliteracy" genannt wurde.

Ich suchte nach historischen Arbeiten über Alfabetisierung in der Hoffnung, aus der Analogie zur Computerliteracy lernen zu können. Die wichtigsten Hinweise fand ich bei Schmale, der in seiner historischen Analyse und Bewertung der Schulen der Aufklärung bereits mit der Kategorie der "Revolutionierung des Wissens" operiert.4

Schmales zentrale Aussage: Der Übergang von der Oralität zum Buchdruck ist durch die "Konfrontation zweier Wissensmodelle" geprägt. Die trotz aller Bemühungen auftretende starke Einschränkung der Alfabetisierungserfolge durch das alte Wissensmodell stehe im unmittelbaren Zusammenhang mit den unvermeidbaren Stufen des Erwerbs der neuen Kulturtechniken. Gelesen wurden z.B. zunächst nur religiöse Texte, nur bekannte Inhalte, nur große Lettern, es gab nur das laute Vorlesen in kollektiven Kommunikationssituationen, kein stilles individuelles Lesen fremder, unbekannter Texte. Selbst die übliche Unterrichtspraxis der Elementarschulen der Aufklärungszeit sei im Grunde genommen nicht der Schriftkultur, sondern der Oralkultur zuzurechnen. Schmales Fazit: Nicht die Kulturtechniken selbst erzeugen die neue Schriftkultur, sondern das von dem neuen Wissensmodell hervorgebrachte neue Kommunikationssystem Schule. Die neue Kultur also ermöglicht bzw. unterstützt in einem langen, langsamen und konfliktreichen Prozess das Erlernen der neuen Kulturtechniken und letztlich die Integration der beiden Wissensmodelle.

Die Umkehrung der traditionellen Abfolge von Kultur und Kulturtechnik schien plausibel; aber woher kam die Kultur selbst? Was macht die Schule als neue Lernkultur gesellschaftlich notwendig und allgemein? War das Modell auf die Gegenwart und die Computerliteracy als Kulturtechnik übertragbar?

Neue Fragen: zum Sinn

Wir5 befragten unsere StudentInnen: Was war wichtiger - der Besitz von Geräten und Vorerfahrung im Umgang mit ihnen oder die positive Erwartung an eine allgemeine Einführung des Mediums in die Gesellschaft? Liegt es am Medium oder an daran geknüpften (positiven oder negativen) Erwartungen gesellschaftlicher Möglichkeiten, wenn Lernbereitschaft und Lernfähigkeit der Studierenden so unterschiedlich ausfallen? Sind dann die miserablen Ergebnisse unserer »Alfabetisierungsversuche« vergleichbar mit denjenigen der Oralkultur, also erklärbar durch ihren Rückstand gegenüber der »neuen« Kultur? Worin besteht diese dann aber? Und wodurch entsteht sie?

Das uns selbst überraschende Ergebnis unserer Befragung: Es gab eine nur geringe Korrelation zwischen Computerliteracy und dem Besitz von Geräten bzw. der Vorerfahrung im Umgang mit ihnen, aber eine sehr hohe Korrelation mit den gesellschaftlichen Erwartungen der Studierenden. Die Lernschwierigkeiten traten bei negativer Sinngebung, die Lernerfolge bei positiver Sinngebung des Computers auf.

Aus dieser Erfahrung zogen wir folgende Konsequenz: Keine Einführungskurse oder Seminare über Cyberliteracy mehr, sondern Veranstaltungen, in denen die mit dem neuen Medium individuell verbundenen positiven oder negativen sozialen Utopien offengelegt und diskutiert werden konnten. Die Wiederholung unserer Befragung nach einem Seminar mit entsprechender Thematik ergab bereits signifikante Veränderungen in der Einstellung und im Lernerfolg.

Das schien Schmales Konzept zu bestätigen. Aber es blieben viele Fragen: Wie war dieser Erfolg zu erklären? Wie konnte die neue »kulturelle Realität« beschrieben werden? War dafür die Kategorie Wissen oder die Kategorie Information besser geeignet? Könnte man die wenigstens implizit medienhistorische Formationstheorie von Schmale, also den Wandel von der Oralkultur über die Buchkultur, zur »Computerkultur« fortsetzen? Welche Rolle spielen dabei die Medien Sprache, Buch und Computer? Wie verhalten sich diese Medien zu den früheren? Wie kann der Übergang von einem vorherrschenden Medium zum nächsten erklärt werden? Über welche Mechanismen verläuft dieser Übergang? Welche Rolle spielen dabei die Menschen?

Ich konzentrierte mich zunächst auf die »Informationsgesellschaft«. Neben allgemeiner Literatur zum »gesellschaftlichen Wandel« bzw. zur »neuen Gesellschaft« und den intensiven Diskussionen in TELEPOLIS über das politische Großprojekt der G7 mit der »Informationsgesellschaft«6 und seine neoliberale Dominanz waren für mich vor allem die Arbeiten von Andrea Baukrowitz, Andreas Boes und Rudolf Schmiede7 sehr hilfreich.

»Informationsgesellschaft«, so die übliche Formel, gleich Informationstechnik + Datenautobahnen + MultiMedia. Demgegenüber die Autoren: Es geht nicht um Technik. Eine Informationsgesellschaft sei vielmehr dadurch gekennzeichnet, dass Informationen in allen Bereichen menschlicher Aktivität die zentrale Rolle spielen und ihre Informationssysteme digitalisiert und in allen ihren nationalen Einzelbereichen, aber auch in ihren internationalen Beziehungen durch einen globalen Informationsraum vernetzt sind, der das menschheitliche Handeln unter die Bedingung der permanenten und unausweichlichen informierten Interaktion stellt. In dieser Perspektive geht es um die Qualität der menschlichen Arbeit unter der Bedingung digitalisierter und vernetzter globaler Informationssysteme. Es geht um die Globalisierung der Produktionsprozesse, die Auflösung des Betriebs als Produktionsform und die Schaffung neuer Arbeitsstrukturen, die Zukunft der beruflichen Strukturen, der Qualifikationen, des Ausbildungssystems und des Bildungswesens, um die Ökonomisierung der Lebenswelt, die Perspektiven des Wohlfahrtsstaates, um Formen der Partizipation an politischen Entscheidungen, um die Reformulierung der Balance von Sicherheit und Freiheit - kurz: es geht um die Frage, in welcher Gesellschaft wir morgen leben wollen. Eine Frage allerdings, die ohne Berücksichtigung der konkreten Veränderungen der gesellschaftlichen Informationssysteme nicht beantwortet werden kann. Am Beispiel der IT-Branche machen die Autoren deutlich, dass hier neue Arbeitskraftstypen mit völlig neuen Qualifikationen entstehen, für die auch das Konzept der in der Erziehungswissenschaft so beliebten »Schlüsselqualifikationen« längst nicht mehr ausreicht, so dass das bisherige Verständnis von Fachlichkeit und Allgemeinheit der Ausbildung dringend reformuliert werden müsse.

Nicht Technik: Soziales - neue Fragen

Übertragen auf das Bildungssystem: Ist also nicht das Ziel "Schulen ans Netz"? Keine Frage der Technik? Der Ersetzung des Lehrers durch den Computer? Vielmehr eine Frage der Qualität von Bildung und Erziehung unter völlig neuen Bedingungen? Der Herausbildung neuer Lernkultur, Lehr-Lernstrukturen, Neudefinition des Lehrberufs, des Verhältnisses von Bildung und Beschäftigung, von Allgemein- und Berufsbildung?

Wie verhält sich eine solche Sichtweise zu Tenorths systematischer Reflexion? Könnte man sie ihrerseits historisieren? Müsste bzw. dürfte man Schmales Konzeption eines Wissensmodell-Konflikts so verstehen, dass man Tenorths Position dem früheren Wissensmodell und die Sichtweise von Baukrowitz/Boes dem neuen Wissensmodell zuordnen könnte? Wäre also die Diskrepanz der Sichtweisen demnach kein systematischer Problemfall, sondern der zu erwartende Normalfall und die Bestätigung einer Übergangssituation? Mit welchem Referenzrahmen wäre eine solche Historisierung möglich bzw. modellierbar? Mit welchen Methoden empirisch bearbeitbar?

Den entscheidenden Anstoß erhielt ich durch die Arbeiten von Michael Giesecke zur Medientheorie und Mediengeschichte.8 Wichtige medientheoretische und -philosophische Ergänzungen entnahm ich den Arbeiten von Bolz, Sandbote und Hartmann.

Gieseckes Intention: Verständnis der gegenwärtigen Medienentwicklung aus ihrer Geschichte.9 Seine Methode: die Analogie. Ich reduziere sein umfangreiches Werk auf die für meine Problemstellung wichtigsten Aussagen und stelle sie zugleich den üblichen Auffassungen in der Erziehungswissenschaft gegenüber (vgl. Tab. Medienverständnisse).

Folgt man diesem Ansatz, so spricht vieles dafür, Tenorths Position medientheoretisch zu historisieren. Dann lassen sich nicht nur Tenorths Schwierigkeiten mit dem neuen Leitmedium nachvollziehen, sondern auch die Probleme verständlich machen, die die Erziehungswissenschaft bisher mit dem Medium hatte und haben musste. Zugleich können damit auch die neuen Anforderungen besser verstanden werden.

Folgerungen

Ich habe aus diesem Ansatz folgende Schlüsse gezogen:

Erstens: Die von dem neuen Leitmedium ausgehenden kommunikativen Infra- und Suprastrukturen besitzen systemischen Charakter. Sie verändern das gesellschaftliche System als ganzes. Systemische Veränderungen aber sind solche, gegen die man sich nicht mehr entscheiden kann, weil sie die Grundlage jeder Entscheidung und ihre Parameter bestimmen.

Zweitens: Die systemischen Auswirkungen der Technologie des Leitmediums sind nicht auf der Ebene der Technologie auffindbar (Bateson). Anders: "Die Computertechnologie kann nicht auf der Ebene der Computertechnologie bewältigt bzw. beherrscht werden."10

Drittens: Wenn die Erziehungswissenschaft aus dem systemischen Problem ein Spezialproblem macht, dem durch Spezialisierung der Erziehungswissenschaft Rechnung zu tragen sei, dann unterläuft ihr damit nicht nur eine Verwechslung in der Hierarchie logischer Typen, vergleichbar der Verwechslung von Karte und Territorium - wie Bateson vermerkt - , sie simplifiziert damit die systemischen Erfordernisse des neuen Leitmediums zu einem Spezialfall im Rahmen des bisherigen Bildungsverständnisses.

Viertens: Der Versuch, die sich gerade erst herausbildende Informationsgesellschaft und ihre fundamentalen Veränderungen aus einer sozialwissenschaftlichen Analyse der Einführung von Computern zu verstehen, gleicht der Absicht, "aus den Herztönen des Ungeborenen im Bauch einer Schwangeren auf dessen berufliche Zukunft zu schließen". "Wirklich tiefgreifender sozialer Wandel lässt sich nur aus einer Makroperspektive begreifen".11

Fünftens: Die systemischen Erfordernisse des neuen Leitmediums für die Bildung können nur im Rahmen einer solchen makroperspektivischen Gegenüberstellung und nur mit Hilfe analogisierender Verfahren präzisiert werden. Das Ergebnis (vgl. Tab. zu Buch- bzw. Informationsgesellschaft):

Insgesamt wird meine These durch die Medientheorie eher bestätigt: Die klassischen Elemente des erziehungswissenschaftlichen Medienverständnisses (vgl. die Gegenüberstellung) sind Bestandteile des Wissensmodells der Buchkultur. Das reifizierte Medienverständnis der Erziehungswissenschaft lässt ihr gar keine andere Wahl, als die digitale Technik wie eine weitere Phase der technischen Entwicklung zu interpretieren und dann entweder deren vermeintliche Möglichkeiten für die Optimierung des alten Weltbildes zu nutzen (so die Mediendidaktik) oder seine drohenden Veränderungen medienkritisch zu verhindern (so die Medienpädagogik).

Als konservatives Modell markiert sie zwar die objektiv drohenden Verluste des Wandels und erfüllt so (sicherlich ohne es zu wollen) die in der Auseinandersetzung um die Gestaltung der gesellschaftlichen Zukunft unverzichtbare kritische Funktion der notwendigen Sozialisierung des Mediums. Zugleich aber läuft sie Gefahr, sich von der systemischen Realitätsveränderung immer mehr zu entfernen und abzuschotten. Die ihr verbleibende Zukunft wäre dann eine gesellschaftliche Nischenexistenz - vergleichbar dem Märchenerzähler in der Buchgesellschaft, dessen früher zentrale gesellschaftliche Vermittlungsfunktion von anderen gesellschaftlichen Kommunikationssystemen übernommen wurde. Weder kann sich aber die Erziehungswissenschaft eine Fortsetzung ihrer medientheoretischen Abstinenz leisten, noch kann sich die Gesellschaft eine abstinente Erziehungswissenschaft leisten. Aber auch hier gilt letztlich das Wort Gorbatschovs von der strafenden Geschichte bei Verspätungen.

Nachwort:

"Worüber sprach man bei der Konferenz, Marshall?", fragte ich. "Ach, über die Automation", war die Antwort. "Weißt du", sagte er dann, "es war gerade so, als ob die Pferdekutscher um 1905 eine Versammlung einberufen hätten, um über die gesellschaftlichen Folgen des Automobils zu diskutieren. Ein Professor hält eine sehr gelehrte Vorlesung über die Umschulung von Pferden. Ein anderer legt statistische Unterlagen vor, um nachzuweisen, dass durch das Automobil die Nachfrage nach Pferden und ihren Wert stark steigen werden; man werde ja soviel mehr als bisher brauchen, um Automobile aus dem Graben zu ziehen."12


Anmerkungen

1) Vgl. dazu vor allem die Arbeiten von Stefan Krempl, Martin Rost, Rudolf Stichweh und Michael Nentwig und seine umfangreiche Bibliographie vorwiegend amerikanischer Literatur.

2) Heinz-Elmar Tenorth, Revolution der Medien, Tradition des Lernens, Versuch über die Ungleichzeitigkeiten. In: Hanuschek, Sven, Nina Ort, Kirsten Steffen und Rea Triyandafilidis (Hrsg.) (1999): Die Struktur medialer Revolutionen. Festschrift für Georg Jäger. Peter Lang, S. 118-127.

3) Alle Praxisversuche zusammen mit meinem Kollegen Dr. Johannes Werner Erdmann.

4) Schmale/Dodde: Revolution des Wissens? Europa und seine Schulen im Zeitalter der Aufklärung 1750 bis 1825.

5) Zusammen mit Dr. Erdmann.

6) Bangemann 1994

7) Andrea Baukrowitz/Andreas Boes, Informationsgesellschaft. Kurzer Abriss über die Geschichte eines schillernden Begriffs. Referat zum Seminar" Arbeit in der Informationsgesellschaft. Entwicklung der Qualifikationsanforderungen und der beruflichen Strukturen" im Rahmen des Weiterbildungsstudiums Arbeitswissenschaft der Universität Hannover, Marburg 1998. w2.wa.uni-hannover.de/Ref01.html ; dies., Informatisierung der Arbeit, a.a.O., w2.wa.uni-hannover.de/Ref02.html ; dies., Allgemeine Veränderungen der Arbeit in der Informationsgesellschaft, a.a.O., w2.wa.uni-hannover.de/Ref03.html ; dies., Qualifikationswandel in der Informationsgesellschaft, a.a.O., staff-w2.wa.uni-hannover.de/Ref04.html ; dies., Neue Arbeitskraftstypen in der IT-Industrie, www.uni-marburg.de/~boes/texte/ARB-IT4.html ; dies., Wider die Mär einer humanen Arbeit in der Informationsgesellschaft, in: FifK Kommunikation 4/1997, S. 18-23. staff-www.uni-marburg.de/~boes/texte/artfiff.html ; Andreas Boes, Zukunft der Arbeit in der Informationsgesellschaft, Marburg 1996. staff-www.uni-marburg.de/~boes/texte/bamberg.html ; Ders., Neue Möglichkeiten zur politischen Gestaltung der Informationsgesellschaft? Marburg 1997. staff-www.uni-marburg.de/~boes/texte/stand1.html ; Andrea Baukrowitz/Andreas Boes/Bernd Eckhardt, Herausforderung ‚Informationsgesellschaft‘. Die Aus- und Weiterbildung von IT-Fachkräften vor einer konzeptionellen Neuorientierung, in: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 28 (1995)2, S. 239-251. staff-www.uni-marburg.de/~boes/texte/mittab.html ; Rudi Schmiede (Hrsg.), Virtuelle Arbeitswelten. Arbeit, Produktion und Subjekt in der ‚Informationsgesellschaft‘, Berlin 1996 sowie die dort versammelten Beiträge; T. Malsch/U.Mill (Hrsg.), AbBYTE. Modernisierung der Industriesoziologie, Berlin 1992; Vgl. auch Saskia Sassen, Die globale Ökonomie, 1997. www.heise.de/bin/tp/issue/dl-artikel.cgi?artikelnr=6188&mode=html

8) Bolz, Norbert: Theorie der neuen Medien. München: RabenVerlag 1990; ders.: Die Sinngesellschaft. Düsselsdorf: ECON 1997; Giesecke, Michael: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Studie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt a. Main, 1998; ders.: Geschichte, Gegenwart und Zukunft sozialer Informationsverarbeitung, in M. Fassler, "Alle möglichen Welten. Virtuelle Realität- Wahrnehmung - Ethik der Kommunikation", München, Fink-Verlag 1999; ders: Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel. Studien zur Vorgeschichte der Informationsgesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp; ders.: Als die alten Medien noch neu waren. Medienrevolutionen in der Geschichte. In: Weingarten, Rüdiger (Hrsg.): Information ohne Kommunikation? Die Loslösung der Sprache vom Sprecher. Frankfurt am Main 1990: Fischer, S.75-98.

9) Dass im Übrigen Giesecke bei seiner analytischen Betrachtung die Herrschaftsfrage nicht ausklammert, wird besonders deutlich, wenn man die Perioden seines - hypothetischen - Übergangsmodells im einzelnen betrachtet.

10) U. Bracht

11) Giesecke, Nachwort

12) Peter F. Drucker, in: McLuhan, Marshall (1995): Die magischen Kanäle. Understanding Media. Basel/Dresden: Verlag der Kunst (Orig. 1964), S. 12 Eine ausführliche Literaturliste können weitergehend interessierte LeserInnen bei der Redaktion anfordern.


Prof. Dr. Georg Rückriem ist Hochschullehrer an der Universität der Künste in Berlin. Seinem Beitrag liegt ein bisher unveröffentlichter Vortrag zu Grunde. Er hielt ihn bei der Veranstaltung der Philipps-Universität Marburg und des Hessischen Rundfunks "30 Jahre Funkkolleg Erziehungswissenschaft - Bilanz und Perspektiven einer Disziplin", die vom 19. bis 20. Oktober 2001 stattfand.

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