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Klaus Holzkamp

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Blindheit und Einsicht?

15.03.2005: Wortwechsel zum Gebrauchswert der Gouvernementalitätsstudien

  
 

Forum Wissenschaft 1/2005; Titelbild: Museum der Arbeit/Reemtsa Fotoarchiv

Den Anlass der folgenden Diskussion bildet eine Auseinandersetzung um den kritischen Gehalt der "Gouvernementalitätsstudien" (im Folg. GS), die im vergangenen Herbst auf der Tagung Neoliberalismus und Subjekt aufgenommen wurde.1 Es diskutieren Sven Opitz (im Beitrag notiert als SO), Tilman Reitz (TR) und Susanne Draheim (SD). Die Beteiligten leiten sie ein mit einer Vorbemerkung.

Eine der meistbeachteten kritischen Analysen des "Neoliberalismus" wurde im Anschluss an Michel Foucault entwickelt. Sein Begriff der Gouvernementalität,2 den er hauptsächlich in Vorlesungen der späten 1970er Jahre verwendet, wurde zunächst von englischen und amerikanischen, dann auch von deutschen AutorInnen genutzt, um die gegenwärtige Politik von Privatisierung und Deregulation zu untersuchen. Die methodische Pointe besteht dabei erstens darin, dass Politik auch jenseits des Staates wirksam wird; "Regierung" zieht sich bis in die "Selbstführung" der Individuen und setzt deren "Freiheit" laut Foucault sogar voraus. Auch die Durchsetzung entsicherter wirtschaftlicher Konkurrenzverhältnisse wäre mithin eine Form von Regierung. Ob und wie weit damit wirklich ein "Abbau" oder nur ein Scheinrückzug staatlicher Aktivität verbunden ist, ist zwischen den deutschen und den angelsächsischen GS umstritten. Zweitens geht es im Anschluss an Foucault aber auch weniger um die vollständige Beschreibung der neuen Führungsformen als um die "Rationalität", die in ihnen am Werk ist, um das "Wissen", das sie voraussetzen und hervorbringen, oder die "Programme", in denen sie verkündet werden. Gegenstand der GS sind mithin etwa Ratgeber für Manager, Unternehmen und Arbeitnehmer, Leitlinien zur Reform von Institutionen u.ä.

Spätestens hier setzt nun der Dissens mit marxistischen Analysen neoliberaler Politik ein: Während es die GS wie Foucault ablehnen, nach einer sozialen "Wahrheit" hinter den Wissensformen zu suchen, drängen ihre Kritiker darauf, den ideologischen Charakter der untersuchten Programme zu untersuchen, der neben Anleitung etwa auch Täuschung umfasst. Unter diesen Vorzeichen stand die Diskussion auf der Tagung "Neoliberalismus und Subjekt". Wir bemühen uns hier um weitere Schritte zur Klärung der Argumente und um mögliche Vermittlungen.

SO: Ich halte es zur Eröffnung unserer Debatte für sinnvoll, einerseits die strittigen Punkte zu umreißen, um uns ein Minimum an Struktur vorzugeben. Andererseits möchte ich kurz darlegen, weshalb die bereits in Werftpfuhl angeschnittenen Fragen überhaupt der weiteren Diskussion bedürfen. Oder etwas provokant gefragt: Warum ist eine Erörterung theoretischer Konzepte, die in den GS Verwendung finden, überhaupt von sozialwissenschaftlichem Interesse?

Ich behaupte, dass die Beschreibung gesellschaftlicher Sachverhalte immer auf spezifische Vokabulare angewiesen ist. Im Fall der sozialwissenschaftlichen Forschung vermag erst ein theoretisches Vokabular bestimmte Probleme präzise auf den Begriff zu bringen. Die Funktion eines solchen Vokabulars ist somit konstruktiv, im besten Fall innovativ, insofern es eine ungewohnte Sichtweise eröffnet. Zugleich zeigt sich hier ein Moment der Beschränkung. Die Entscheidung für ein Vokabular legt nämlich zu einem gewissen Grad fest, was anschließend noch sagbar ist. Weil die Inanspruchnahme eines theoretischen Vokabulars den Blickwinkel auf spezifische Weise ausrichtet, ist die jeweilige Beobachtungsweise also durch eine irreduzible Verschränkung von "Blindheit und Einsicht" (Paul de Man) gekennzeichnet. Jede empirische Untersuchung, die sich bestimmter Begriffe bedient, adoptiert mit ihnen spezifische Erkenntnisleistungen und Limitationen.

Streitpunkt: Ideologie

Erst vor diesem Hintergrund gewinnen unsere Fragen meiner Ansicht nach an Brisanz. Denn möglicherweise zeigt sich im Rahmen ihrer Diskussion, wie die GS die konstitutive Aporie von Blindheit und Einsicht gestalten. Konkret geht es um die Frage, ob sie zu globale und daher idealisierende Beschreibungen sozialer Formationen produzieren. Dadurch, so der zu prüfende Einwand, werde suggeriert, dass die Regierung an der Stelle des Subjekts immer reibungslos funktioniert. Wie aber ist Kritik im Vokabular der GS dann noch zu fassen? Ist das im Neoliberalismus zum selbstverantwortlichen Handeln angerufene Subjekt nur ein Exekutivorgan der ihm auferlegten Regierungskalküle? Im Zentrum dieses Kontinuums an Strittigkeiten steht schließlich euer Vorwurf, die Fokussierung der GS auf die Programmebene verdecke die vielfältigen Realitäten im Vollzug dieser Programme.

SD/TR: Tatsächlich glauben wir, dass die GS insgesamt zu globale, möglicherweise "idealisierende" Aussagen über die soziale Wirklichkeit bzw. die sie mitprägendenden Regierungsformen machen. Der Grund scheint uns nicht nur in den Untersuchungsgegenständen (Managerliteratur, Politikprogramme …) zu liegen, sondern im theoretischen Anspruch der (deutschen) GS selbst, die sich zumeist als eine Theorie "mittlerer Reichweite" begreifen. Das klingt bescheiden, transportiert aber ein ziemlich starkes Vertrauen in die Selbständigkeit und die Relevanz des untersuchten Bereichs. So schreiben etwa Bröckling/Krasmann/Lemke: "Programme formen die Realität, indem sie Diagnosen stellen und Therapien empfehlen. Sie prägen Wahrnehmungs-, Beurteilungs- und Handlungsweisen, indem sie Ziele anvisieren und Verfahren bereitstellen, um diese zu erreichen oder ihnen zumindest näher zu kommen. Sie rufen Menschen an, sich als Subjekte zu begreifen und sich in spezifischer Weise - kreativ und klug, unternehmerisch und vorausschauend, sich selbst optimierend und verwirklichend usw. - zu verhalten, und fördern so bestimmte Selbstbilder und Modi der ‚inneren Führung’. […] Die hier vorgelegten Beiträge untersuchen nicht, ob Programme wirken, sondern welche Wirklichkeit sie schaffen."3 Dabei fließen zwei ziemlich heterogene Gedanken zusammen: Einerseits geht es um eine selbst auferlegte Beschränkung in der Materialbasis (denn zu überprüfen, ob bestimmte Ratgeberhinweise u.ä. wirklich ‚ankommen’, wäre zu aufwendig für akute theoretisch-politische Eingriffe), andererseits wird dann aber ziemlich unvermittelt angenommen, dass ‚Programme’ ‚Wirklichkeit schaffen’, indem sie irgendwie - z.B. durch ihr bloßes Vorhandensein - die Wahrnehmung von Selbst und Welt formen. Das letztere ist nun nicht einfach eine vage, noch weiter zu klärende Annahme, sondern erweist sich als regelrechter Radiergummi für alle möglichen Formen von Konflikt und Antagonismus. In den Programmen, die ‚Diagnosen stellen und Therapien empfehlen’, ist nämlich bereits ziemlich viel akut Umstrittenes getilgt. Welcher Ratgeber möchte schon alle Sollbruchstellen seiner Erfolgsrezepte offen legen, welches Reformprogramm würde auf absehbare Umsetzungsprobleme und erwartbare Ablehnung hinweisen? Die GS scheinen diese Tendenz nun eher noch zu verstärken als zu durchbrechen; in der Regel besteht ihre Strategie nämlich darin, die Programme durch Zuspitzung und Totalisierung zu skandalisieren. Man soll verstärkt wahrnehmen, was man oft ohnehin schon denkt, wenn man das neoliberale Newspeak hört: "Jeder ein Unternehmer, ständig für sich selbst verantwortlich - was für ein unzumutbarer Dauerstress", oder auch: "360-Grad-Evaluation, jeder beobachtet jeden - das bedeutet doch die totale Kontrolle!" Diese Umkehrung hat sicher heilsame Effekte, verdeckt jedoch, dass oft bereits auf der Ebene der Programme um eben diese Anforderungen gestritten wird.

Ein Aspekt, der uns später noch beschäftigen wird, kann das vielleicht zusätzlich verdeutlichen: Thematisch scheint es den GS besonders um eine "Enteignung" subjektiver, alltäglicher Mikropolitiken zu gehen. Eine Besonderheit neoliberaler Rhetorik und Politik besteht ja offenkundig darin, dass sie (früher) widerständige Praxis, von der Spontaneität bis zur Selbstorganisation, systemimmanent umdeutet und einsetzt. Nur tragen die GS zugleich durch ihre Methodik dazu bei, dass sich die Lage so darstellt; sie erfassen soziale Praxis ja überhaupt erst, wenn sie zur ‚Regierungsvernunft’ geronnen ist, ob als Gesetz, Bildungskonzept oder Tagungsprogramm. Die Enteignungsdiagnose wird also methodisch verdoppelt: Zu den hegemonialen Kräfte der gegebenen Situation kommen die Befunde der GS selbst, die am Ende das widerständige Potential (etwa der sozialen Bewegungen) vollständig gezähmt und entzahnt in der Regierungsstruktur aufgehen sehen. Insgesamt inszenieren die GS damit einen Theorie-Praxis-Kurzschluss, von Cathren Müller treffend als Top-Down-Modell bezeichnet, der alle realen und argumentativen Konfliktlinien und sozialen Kämpfe unsichtbar macht. Die Blindheitseffekte der Theorie scheinen uns also erheblich zu sein. - Vielleicht erläuterst du noch einmal genauer, welche Einsichten dadurch auf der anderen Seite gewonnen werden.

Macht, Rationalität, Subjekt

SO: Ich denke, die Attraktivität des Ansatzes lässt sich zunächst an der Theoriearchitektur verdeutlichen. Diese fügt drei Elemente zusammen: Erstens eröffnet sie ein eigenes Register der Macht. Macht wird nicht gemäß der Tradition als Substanz oder Eigentum gedacht, sondern als Kräfterelation. Sie ist immer binär codiert und daher nicht statisch. Daraus folgt, dass der Widerstand ein unverzichtbares Moment der Macht darstellt. Zweitens lenkt der Begriff der Gouvernementalität den Blick darauf, wie diese Dynamik der Machtverhältnisse ihre jeweilige Ausrichtung erfährt. Denn jede Regierung vollzieht eine Strukturierung des Feldes möglicher Handlungen und sie tut dies im Kontext spezifischer Rationalitätsformen, über die sie nicht verfügt, die sie aber in eine operative Struktur übersetzt. "Rationalität" meint demnach nicht im klassischen Sinn, dass bei gegebenen Zwecken die Suche nach effizienten Mitteln zu erfolgen hat (oder umgekehrt), sondern dass Mittel und Zwecke selbst gemäß unterschiedlicher Formen der Regierungsrationalität variieren. Die GS hegt also eine besondere Aufmerksamkeit für Prozesse der Emergenz: Statt einfach von quasi-naturgegebenen Problemen auszugehen, fragen die GS, wie verschiedene soziale Bereiche durch die Problematisierung bestimmter Denk- und Handlungsformen als regierbare konstituiert werden. Drittens korrespondiert mit alledem ein sehr anspruchsvoller Subjektbegriff. Das Subjekt ist im Unterschied zur abendländischen Tradition kein dem Sozialen vorgelagerter Ankerpunkt, von dem aus eine ahistorische Wahrheit begründet wird. Vielmehr stellt sich das Subjekt als eine im Werden begriffene soziale Immanenzform dar. Es ist unhintergehbar in die Spiele des Wahren und des Falschen eingefasst, die es durch sein eigenes Sprechen aufrecht erhält. Um als ein für andere anerkennbares Subjekt in Erscheinung zu treten, muss es sich einerseits also im Kontext spezifischer Rationalitätsformen situieren. Andererseits füllt es diese Rationalitäten nie aus, sondern verschiebt sie in ihrer Anwendung. Es führt ein impulsives Moment in sie ein, flieht ihnen, schlägt potentiell Fluchtlinien. Zusammenfassend ließe sich daher sagen, dass diese drei Komponenten - Macht, Rationalitätsformen, Subjektivitäten - im Begriff der Gouvernementalität gewissermaßen rotieren und sich theoretisch von ihm aus entfalten lassen.

Vor diesem Hintergrund möchte ich an die von euch kritisierte Funktion des Programms in den GS anknüpfen. Ich stimme euch so weit zu, dass es unbefriedigend ist, wenn eine beliebige Auswahl von Ratgebertexten zum gouvernementalen Programm erklärt und dann kurzerhand auf eine gesellschaftsweit wirksame Regierungspraxis geschlossen wird. Aber ist damit schon der Ansatz an sich desavouiert? Oder reichen nicht eher Korrekturen im Forschungsdesign der GS aus, um derartigen Kurzschlüssen vorzubeugen? Angesichts dieser Fragen würde ich vorschlagen, zunächst zu klären, für welches Problem der Rekurs auf Programme eine Lösung sein könnte. Ich denke, dass das Programm in den GS als Schlüsselkonzept fungiert, durch das die einzelnen Analysen den Zugriff auf soziale Tatbestände organisieren. Es handelt sich also um ein Theoriestück, auf das man nicht einfach verzichten kann - falls doch, müsste man funktionale Äquivalente finden.

Unter einem Programm verstehe ich im Anschluss an das angeführte Zitat jene signifikanten Operatoren, durch die die soziale Praxis, vermittelt über entsprechende Technologien, mit Führung ausgestattet wird. Eine derart abstrakten Bestimmung des Konzepts schließt aus, dass nur Ratgeber oder ähnliche Texte als Programme behandelt werden können. Selbst die Verengung auf Texte überhaupt scheint mir noch einem Diskursbegriff anzuhängen, wie Foucault ihn in den 70er Jahren aufgegeben hat, als er begann, sich verstärkt für Arrangements von Gesagtem und Ungesagtem zu interessieren. In diesem Sinne wäre Foucaults berühmte Analyse des Panopticon eine Programmanalyse: Nicht alleine Benthams Textcorpus, sondern vor allem die Anordnung der Mauern wird von Foucault auf das ihnen inhärente programmatische Kalkül hin gelesen. Man hat es also immer mit materiell-semiotischen Knoten zu tun.

Ein solches Verständnis des Programms hat Konsequenzen für das Vorgehen der GS, die ich kurz an der von euch angesprochenen Regierungstechnik des 360°-Feedbacks verdeutlichen will. Statt bei der Ratgeberliteratur zu beginnen, könnte man beispielsweise bei der Büroraumgestaltung ansetzen. Man würde wahrscheinlich insbesondere im Bereich der immateriellen Arbeit bemerken, dass die panoptische Parzellierung relativ offenen Arbeitsräumen gewichen ist, die das gegenseitige Sich-Beobachten, Sich-Informieren und Sich-Irritieren provozieren. Man könnte zum einen analysieren, inwiefern dies den Rationalitätsprinzipien des kognitiven Kapitalismus’ entspricht. Vor allem wäre die These zu prüfen, dass die Beurteilungssysteme die gegenseitige Sichtbarkeit voraussetzen, virtuell fortsetzen und re-panoptisieren. Man könnte etwa die verwendete Software analysieren: Welche Kommunikationswege werden vorgegeben? Welche Parameter stehen zur Auswahl? Was gilt als Leistung und was als Mangel? Dazu wird man anhand der jeweiligen Konzepte, die die Verfahren anleiten, herausfinden, welche externen Akteure - etwa Psychologen oder Pädagogen - hinzugezogen werden, welche Macht-/Wissen-Prozeduren diese anleiten und welche Konsequenzen die Ergebnisse der Erhebung nach sich ziehen. Schließlich wird man sich sehr genau anschauen müssen, wie die Einzelnen in dem derart konturierten strategischen Feld agieren: Verhalten sie sich konform? Welche Folgeprobleme erzeugt ein konformes Verhalten an anderen Stellen im Arbeitsalltag? Oder sabotieren sie die programmatische Struktur - und falls dem so ist, wie wird diese Sabotage zu einer Reorganisation der Technik genutzt?

Ich spiele den Ball deshalb noch einmal zurück: Seht ihr eine Möglichkeit, eure Kritik für eine Modifikation des GS-Blicks fruchtbar zu machen oder reicht das Drehen forschungspragmatischer Stellschrauben eurer Ansicht nicht aus?

SD: Deine Frage scheint mir auf die von den GS schon öfter vorgeschlagene empirische Erweiterung des analytischen Blicks zu zielen. Auf diese Weise ließen sich, wie von Dir vorgeschlagen, strategische Arrangements an der Schnittstelle von Kommunikation und Subjektivierung untersuchen, etwa durch qualitative Interviews oder teilnehmende Beobachtung. Dieser Ansatz ist sehr begrüßenswert. Dennoch bleibt zu fragen, was die möglichen Forschungsergebnisse - also Aussagen über organisatorische Abläufe und Arbeitsbedingungen, gegenseitiges Beobachten und Bewerten, meinetwegen das gesamte kontrollgesellschaftliche "Unternehmensprogramm", inklusive psycho-sozialer Personalentwicklungsmethodik - zum Verständnis machtförmiger Strategien beitragen, die zwar niemand mehr hundertprozentig kontrollieren kann, die aber einigen Akteuren mehr nutzen als anderen. Hier möchte man doch auch wissen, wer die "Gewinner" sind, wenn schon keine "Urheber" zur Stelle zu sein scheinen. Lassen sich die Strategien nicht doch zumindest annäherungsweise zurechnen, gibt es Korrelationen zwischen initiierenden und gewinnenden "Kräften"? André Gorz hat z.B. darauf hingewiesen, dass einige der gouvernemental raffiniertesten Formen der Arbeitsorganisation wieder zurückgenommen wurden, weil sie die Stellung der Belegschaft zu sehr gestärkt hatten. In der Foucaultschen Anordnung (übrigens auch bei Butler u.a.) gibt es dagegen eigentlich nur noch zwei Pole: die autorlose Kontrollstruktur, ob sie nun Dispositiv, Strategie oder auch ‚Programm’ heißt, und die einzupassenden Subjekte, die dann z.B. ihre Plätze im ergonomisierten Büro einnehmen. Aber gerade wenn es mehr als einen Urheber gibt, müsste man doch eigentlich auch die Auseinandersetzung um die Bürogestaltung abbilden können. Oder noch einmal anders gefragt: Wo genau endet die "Programmebene", und wie genau kommt sie zustande?

Welche "Macht", welche "Strategien"?

Auch wenn man aber die gouvernementale Versuchsanordnung transparenter Arbeitsplatz akzeptiert, ergeben sich Schwierigkeiten. Sobald die Subjekte den Raum betreten und ihn sich individuell und kollektiv aneignen, können sie, meinst Du, entweder konform handeln oder das Arrangement sabotieren - was dann wieder neue Führungstechniken provoziert. Wichtig wäre aber, dass sie vermutlich auch einfach Chaos, Dysfunktionalität und fehlende Anschlussfähigkeit hervorbringen. Natürlich ist diese Annahme hier bloße Spekulation, sie soll nur die oft nahe gelegte Permanenz von Produktivität und Verwertbarkeit ein wenig anders akzentuieren. Ich befürchte nämlich, dass für die GS - überspitzt gesagt - letztlich jede Bewegung des Subjektes, jedes Sprechen, jede Entscheidung ins Raster von Selbst- oder Fremdregierung eingepasst werden könnte. Interessanter wäre es stattdessen, sich "von unten" (Grounded Theory, Ethnomethodologie?) anzuschauen, welche "Macht" und welche "Strategien" die Befragten in den produktiv-kommunikativen Arrangements selbst erkennen, welche Vorstellungen von konformen Verhalten sie sich machen, wie groß sie ihre Handlungsspielräume einschätzen etc. Möglicherweise ließen sich von diesen empirischen Befunden aus Rückschlüsse auf die programmatische Wirksamkeit ziehen, die allerdings aus vielen heterogenen Elementen herauspräpariert werden müssten. Zumindest entstünde auf diese Weise ein Spannungsverhältnis zwischen vermuteter Regierungsimmanenz und partikularen Perspektiven, das etwas Bewegung in die verfranste Diskussion bringen könnte.

Am Rande bemerkt: Im strengen GS-Verständnis wären diese qualitativen Forschungsergebnisse wohl selbst gefährdet, eine Rolle in der iterativen Optimierung von Arrangements zu spielen, deren Funktionieren sie anprangern (z.B. die Studien von Voß/Pongratz zur Figur des "Arbeitskraftunternehmers").

TR: Im Zweifelsfall kommt man natürlich mit den kleinteiligen Interviews usw. nicht über das ohnehin schon Vermutete hinaus - das sollte der Ehrlichkeit halber festgehalten werden. Empirie wäre vor allem wichtig als Kontrollinstanz für allzu klaustrophobische Thesen. Weiterhin möchte ich noch zwei kurze begriffliche Bemerkungen hinzufügen. Erstens zur Theoriearchitektur: Ja, wenn es gelingt, Rationalitäten im Plural durchsichtig zu machen, ist das ein echter Fortschritt (wenn dann auch das alte wissenssoziologische Problem auftaucht, dass man sagen muss, weshalb trotzdem Verständigung möglich ist), und ja, auch Subjektivität(en) sollte man besser als historisch-sozial verschieden begreifen - wenngleich sich fragt, wer außer einigen Kantianern das heute nicht tut. Beim Machtbegriff allerdings gibt es eine Schwierigkeit, die zuletzt wohl Jan Rehmann dargelegt hat: Solange ich nicht erfahre, welche bestimmten Verhältnisse er fassen soll, kann man ihn so oft, so radikal und so relational erneuern wie man will - ich halte das dann für bestenfalls irrelevant, im schlimmeren Fall für Begriffsmetaphysik. Die Macht gibt es nicht, auch nicht die Weise, in der die Macht wirkt, und der flexibelste Machtbegriff hilft nicht weiter, wenn Verfügungsgewalt oder Gruppenvorrechte dann doch nur durch simple Disziplinar- oder Verbotsmethoden gefestigt werden. Vollends seltsam scheint es mir, ausgerechnet einen relationalen Machtbegriff vorzubringen, wenn nicht klar ist, um welche konkreten Beziehungen es gehen soll. Eine zweite Bemerkung zum Panoptikum als Programm: Problematisch dürfte Foucaults Analyse gerade deshalb sein, weil es eben nur einen Plan dieser Architektur gibt; Bentham kann die englische Regierung in zwanzig Jahren Verhandlung nicht zur Realisierung bewegen. Lassen wir einmal dahingestellt, dass Foucault auch den Plan sehr selektiv liest, also z.B. Benthams Kalkulation ökonomischer Ausbeutungschancen gar nicht erwähnt. Die prinzipielle Schwierigkeit scheint mir zu sein, dass wir in diesem Programmstadium einfach eine Strategie mit zunächst einem Autor haben (andere kommen in der tatsächlich regen Rezeption hinzu), während wohl jeder Umsetzungsversuch zu erheblichen Kämpfen um Struktur und Funktion des Projekts geführt hätte. Es liegt hier also aus mehr oder minder kontingenten Gründen genau die Blindstelle vor, auf die auch Susanne hingewiesen hat: wie die tatsächlichen, nicht bloß auf dem grünen Tisch entworfenen Führungsarrangements zustande kommen, bleibt ungeklärt.

SO: Es stimmt, dass Benthams Plan nie eins zu eins realisiert wurde. Das heißt jedoch nicht, dass es lediglich ein Formblatt dieser Architektur gibt, das weitab der Welt in irgendwelchen Archiven schlummert. Das panoptische Prinzip wurde vielmehr an unterschiedlichsten Orten in unterschiedlichsten Varianten umgesetzt. Das aber nur nebenbei.

Ich denke, dass Susanne eine entscheidende Differenz der GS gegenüber klassischen Formen der Kritik angesprochen hat. Die GS beschreiben ihre Gegenstände tatsächlich nicht, indem sie einen mächtigen Akteur oder einen grundsätzlichen Widerspruch unterstellen, die die Emergenz sozialer Ordnung determinieren. Ein derart kausales Schema, anhand dessen immer auf eine Ursache durchgerechnet wird, erscheint zu einfach. Die GS fragen also nicht: Wer oder was steckt dahinter? Stattdessen hat sich eine Umstellung auf Wie-Fragen durchgesetzt: Wie funktioniert die Führung der Führungen in einem bestimmten Bereich? Wie rationalisiert sie spezifische Techniken und Praktiken im Verhältnis zu Zielen, Fehlerdiagnosen und Korrekturmaßnahmen? Und wie werden dabei Subjekte in einem Verhältnis zueinander platziert? Auf diese Weise gerät auch die Relation von "Gewinnern" und "Verlierern" in den Blick. Denn weil der Machtbegriff die Beziehungen zwischen Subjekten einblendet, erlaubt er es auch darzulegen, wie ein Regierungsverhältnis spezifische Asymmetrien aufspannt. Der Rekurs auf Macht fokussiert ja gerade jene Art von asymmetrischem Verhältnis, das den Widerstand einzudämmen versucht, sich jedoch bei Gelingen dieses Unterfangens selbst abschafft, weil es sich dann zu einem unproduktiven Herrschaftsverhältnis verfestigt. Heute haben wir es vor allem mit Machttechnologien zu tun, die der Freiheit zum Widerstand eine bestimmte Form geben und den Widerstand als Produktivkraft nutzen wollen. Dass auch dies nicht auf ein Gleichgewicht, sondern auf Asymmetrien hinausläuft, liegt auf der Hand.

Subjekt und Subjektbegriff

Damit berühre ich einen weiteren, von euch angesprochenen Punkt. Ihr kritisiert, die Subjekte würden aus Sicht der GS allzu reibungslos in die Mühlen der Gouvernementalität "eingepasst". Um diesem Eindruck entgegen zu wirken, würde ich das Problem ein wenig anders stellen. Zunächst einmal ist das Subjekt für die GS nicht einfach vorsozial gegeben. Sie fragen also nicht, was mit einem Subjekt geschieht. Stattdessen ist von Interesse, wie Subjektivität innerhalb sozialer Prozesse hergestellt wird. Weil kein Subjekt über das Soziale verfügt, entsteht es zum einen erst in der Unterwerfung unter bestehende Konventionen. Um handlungsfähig zu werden, muss der Einzelne ein Moment fundamentaler Passivität durchlaufen. Ein illustratives Beispiel hierfür ist die Geschlechterordnung: Nur unter der Bedingung der Vergeschlechtlichung gemäß bestimmter Normen vermag ich als intelligibles Subjekt zu erscheinen. Andererseits ist dieser Vorgang der Subjektivierung nicht als einmaliges und damit mechanisches Ereignis zu denken. Subjektivierung vollzieht sich in der Zeit, das Subjekt wird als temporalisierte Kategorie gefasst. Jedes Subjekt muss die sozialen Normen immer wieder in der Praxis wiederholen - und hierbei stellen sich zwangsläufig Abweichungen von der Norm ein, die dazu führen, dass die Norm, wenn sich derartige Abweichungen durchsetzen, selbst verändert hervorgebracht wird. Ein solcher Subjektbegriff sprengt somit die reine Dichotomie von aktiv/passiv und besitzt eine prinzipielle Sensibilität für Devianzen.

Diese Sensibilität gilt es nun insofern zu nutzen, da Grund zu der Annahme besteht, dass Subjektivierung im Kontext gouvernementaler Felder eher brüchig abläuft. Wirkt die Geschlechterordnung gesellschaftsweit, funktioniert eine Technik wie das Beurteilungssystem am Arbeitsplatz nämlich verhältnismäßig lokal. Zu erwarten sind deshalb Kollisionen verschiedener Normenregime, wenn widerstreitende Anrufungen den Einzelnen adressieren, denen er irgendwie - sei es durch innere Aushandlungsprozesse, Prioritätensetzungen oder routinierte Schizophrenie - gerecht werden muss. Darüber hinaus lässt sich zeigen, dass die meisten Regierungstechniken auch inhärente Aporien aufweisen. Ein typisches Beispiel aus dem Bereich der Arbeit besteht etwa darin, dass in Unternehmen die Norm der Kundenorientierung immer wieder in Konflikt mit der Forderung nach absoluter Identifikation mit dem Betrieb gerät. Die empirische Forschung kennt viele Fälle, in denen Angestellte glauben, das Unternehmen gegen die als unverschämt empfundenen Forderungen des Kunden verteidigen zu müssen, aber auch Fälle, in denen sie unter Berufung auf das Kundenwohl Direktiven der Geschäftsführung entgegentreten. Alles in allem wird man also eher davon ausgehen müssen, dass die Regierung gegen den Optimismus der Programme auf der Grundlage der Programme permanent scheitert, dysfunktional wirkt oder sich an Konfliktlinien aufreibt. Verschiedene empirische Forschungen dokumentieren zudem, dass die Subjekte derartige Ambivalenzen und Grauzonen ganz gezielt einsetzen. Bei Beurteilungsverfahren werden zum Beispiel unter den Angestellten nur Mittelwerte angegeben, die jeder Aussagekraft entbehren. Das Feedbacksystem läuft dann leer, ohne dass ein offener Boykott, der möglicherweise negative Sanktionen nach sich ziehen würde, riskiert werden müsste. Wichtig ist nur zu erkennen, dass derartige taktische Widerstände nicht in einem Jenseits angesiedelt sind, sondern irreduzibel auf die Strategien der Regierung bezogen sind. Die Taktik bleibt eine Kunst des Augenblicks, deren Winkelschläge vom Terrain des Anderen ausgehen und dort Reaktionen provozieren.

All das birgt schließlich Konsequenzen für das Konzept des Programms. Wenn Programme zugleich Symptome und Matrizen der Gouvernementalität sind, so sind sie doch keinesfalls der Garant, geschweige denn der Beweis für ein reibungslosen Funktionieren. Man könnte sozial wirksame Programme auch als Sedimentierungen vergangener Kämpfe begreifen. Und jedes erneute Aufbrechen der in ihnen nur kläglich verdeckten Inkohärenzen stellt sie infrage, so dass man sie wahrscheinlich bald umschreiben wird. Programme bilden somit hegemoniale Strukturen ab, die immer schon dabei sind, überholt zu werden. Sie wollen eine Hegemonie operationsfähig machen und festschreiben, sind damit selbst ein Einsatz im Spiel der Kräfte, durch das sie immer schon längst ruiniert worden sind. Man sollte Programme also als Ruinen ansehen und entsprechend analysieren.


Anmerkungen

1) Forschungs-, Informations-und Bildungsstelle beim Bund Demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi) e.V./Helle Panke zur Förderung von Politik, Bildung und Kultur e.V./Rosa Luxemburg-Stiftung - Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung e.V.: Neoliberalismus und Subjekt. Gesellschaftliche Anforderungen, subjektwissenschaftliche Analysen, politische Perspektiven. Akademie, 17.-21. September 2004, Werftpfuhl bei Berlin

2) von "gouvernemental": regierungsmäßig

3) Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke: Glossar der Gegenwart. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004, S. 12


Susanne Draheim arbeitet derzeit an einer soziologischen Dissertation zur diskursanalytischen Untersuchung aktueller bildungspolitischer Leitvokabeln wie Selbstkompetenz und Lebenslanges Lernen. Sie ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der FH Brandenburg im Fachbereich Informatik und Medien. - Sven Opitz ist Politikwissenschaftler in Hamburg; er promoviert in Soziologie zu "Inklusion/Exklusion - Randgänge einer Theorie sozialer Ein- und Ausschließung". Sein Forschungsschwerpunkt sind Schnittstellen von Systemtheorie und poststrukturalistischer Theorie. - Dr. Tilman Reitz ist Philosoph; er arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Jena. Seine Arbeitsgebiete: Politische Philosophie, Gesellschaftstheorie, Ästhetik.

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