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Klaus Holzkamp

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Was macht mein Leben gelungen?

15.09.2005: Notwendigkeit und Probleme ästhetischer Bildung

  
 

Forum Wissenschaft 3/2005; Titelbild: Eckhard Schmidt

Was Bildung ist und wozu sie dienen soll, wurde und wird - auch in dieser Zeitschrift - öfter diskutiert, häufig streitig ("… und das ist gut so"). Was aber ästhetische Bildung kenn- und auszeichnet, ist darin noch lange nicht enthalten. Stephan B. Antczack stellt seine Überlegungen als Künstler, Kunstwissenschaftler und -pädagoge vor.

Habe nun ach! Philosophie, Juristerei und Medizin, / Und leider auch Theologie! Durchaus studiert mit heißem Bemühen. / Da steh ich nun ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor;/ Heiße Magister, heiße Doktor gar, Und ziehe schon an die zehen Jahr / Herauf herab und quer und krumm, Meine Schüler an der Nase herum / Und sehe, dass wir nichts wissen können! 1

Die ersten Worte, die der Weimarer Beamte des 19. Jahrhunderts Johann W. Goethe seinem Doktor Faust in den Mund schrieb, geben nicht nur seine Wissenschaftskritik preis; sie zeigen vielmehr, wie eine solche Kritik erst in ästhetischer Form, als Kunstwerk, volle Kraft und Wirkung entfaltet. In einen profunden wissenschaftlichen Aufsatz gegossen, hätte Goethe wohl sein Fachpublikum nicht verfehlt, aber: wen würde das heute noch hinter dem Ofen hervorlocken?

Ein Kunstwerk spricht über sich hinaus: "Der Geist der Kunstwerke haftet an ihrer Gestalt, ist aber Geist nur, insofern er darüber hinausweist."2 Ein Kunstwerk braucht die Verbindung von subjektivem Interesse und objektivem Wahrheitsgehalt, um für mehr Menschen als nur den/die Künstler/in Bedeutung zu tragen. Wer im Hamburger Bahnhof nicht über die Beuys‘schen Granitblöcke stolpert bzw. vor der "größten Fettecke der Welt" wartet, sie möge ihm/ihr "etwas sagen", hat ein Problem, weil ihm/ihr ein Problem fehlt. Er/sie versteht das Kunstwerk nicht. "Jedes Kunstwerk konfrontiert uns mit einer ‚Reflexionszumutung‘. Es fordert uns auf zu verstehen."3 "Ästhetische Kunsterfahrung kann und will in ein Verstehen einmünden, die ästhetische Erfahrung anderer Gegenstände kann und will das nicht."4 Reinold Schmücker, Kunstphilosoph an der Hamburger Universität, bringt auf den Begriff, was ein Kunstwerk von jedem anderen ästhetisch wahrgenommen Gegenstand unterscheidet. Ästhetische Erfahrung richtet sich auf die sinnliche Erfassbarkeit eines Gegenstandes, um der Gewahrung seiner Eigenheit, unabhängig von der Zweckmäßigkeit dieses Gegenstandes.5 Ästhetische Kunsterfahrung will dagegen den Kunstprozess und sein Ergebnis verstehen.6 Die ästhetische Kunsterfahrung selbst strebt also nach Aufklärung. Aufklärung ist eine Angelegenheit der Bildung. Kunstwerke erschließen sich auf der Basis von ästhetischer Bildung. Wem diese fehlt, dem fehlt ein elementarer Zugang zur Kunst. Auf der Grundlage ästhetischer Bildung kann das Verstehen-Wollen gelingen. Verstehen-Wollen beinhaltet die Durchdringung der Wahrnehmung auf allen Ebenen der Sinne zur Erkenntnis und meint damit nicht rückwärtsgewandte Selbstbestätigungsaffekte (oft missverständlich als "Wiedererkennungseffekt" bezeichnet).7 Die werkimmanenten Widersprüche, die Probleme, die das Kunstwerk seinem/ihrem Schöpfer/in und den Betrachter/innen macht, lösen den Prozess der ästhetischen Kunsterfahrung aus. Dazu Adorno: "In oberster Instanz sind die Kunstwerke rätselhaft nicht ihrer Komposition sondern ihrem Wahrheitsgehalt nach. Die Frage mit der ein jegliches den aus sich entlässt, der es durchschritt- die: Was soll das alles?, rastlos wiederkehrend, geht über in die: Ist es denn wahr?, die nach dem Absoluten, auf die jedes Kunstwerk dadurch reagiert, dass es der Form der diskursiven Antwort sich entschlägt. […] Die äußerste Gestalt, in welcher der Rätselcharakter gedacht werden kann, ist, ob Sinn sei oder nicht. Denn kein Kunstwerk ist ohne seinen wie immer auch ins Gegenteil variierten Zusammenhang. […] Der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke ist die objektive Auflösung des Rätsels eines jeden einzelnen. Indem es die Lösung verlangt, verweist es auf den Wahrheitsgehalt. Das und nichts anderes rechtfertigt Ästhetik."8 Wenn sich Wahrheit subjektiv über Kunstwerke erschließt, kommt es darauf an, wer sich ihrer wie bemächtigt. Die allgemeine Kunstskepsis der linken Bewegung muss im Sinne Gramscis überwunden werden. In der Anstrengung um Hegemonie geht es um die Aufhebung der herrschaftlichen Trennung von "Denken und Fühlen".9 Den Schlüssel dazu finden wir in der Kunst.

Wir brauchen ästhetische Bildung

Der Mensch benötigt ästhetische Bildung, wenn er/sie verstehen will, was in der Kunst, und darüber hinaus, vor sich geht. Ästhetische Bildung bietet den Schlüssel zur Öffnung und Sichtbarkeit dieses Rätselcharakters von Kunst. Doch: Was ist ästhetische Bildung? In der Literatur hat sich v. a. der Begriff "ästhetische Erziehung" eingebürgert.10 Während Erziehung per se ein hierarchisches Verhältnis (zwischen Erzieher/in und Zögling/in) ausdrückt, ist Bildung das Potenzial, mit welchem dem Menschen die inneren und äußeren (d.h. sozialen) Verhältnisse, vorstellbar und somit erkennbar werden. Bildung dient als Instrument eines Subjektes der Erkenntnis und der Gestaltung der Welt und der Optimierung der Beziehungen zu anderen Subjekten. Bildung repräsentiert bewusste und unbewusste Inhalte sowie cerebrale Vorgänge, die angeeignet, erfahren bzw. gelernt wurden und Grundlagen des Handelns bieten. Bildung ereignet sich auf verschiedenen Ebenen der Wahrnehmung. Angeeignet wird Bildung v. a. durch Lernen auf unterschiedlichen Ebenen. Lernen ist ein Prozess, in dem sich ein Mensch Inhalte und Zusammenhänge kognitiv, aisthetisch-ästhetisch und emotional aneignet und erkennt, die ihm/ihr im Verhältnis und in Beziehung zur Welt behilflich sind.11 Die Geschichte der "ästhetischen Erziehung" begann bei Schillers Briefen ("Über die ästhetische Erziehung des Menschen") von 1795.12 In historischem Zusammenhang taucht der Begriff "ästhetische Bildung" v. a. in der DDR-Pädagogik auf. SeinVerschwinden im 19. Jahrhundert wird von Diethard Kerbs als "erregendstes Kapitel der Geschichte des deutschen Bildungsdenkens" beschrieben. "Zu zeigen wäre in einem solchen Zusammenhang, wie und warum die humanistische Einschätzung der Bedeutung der Kunst für die Bildung des Menschen sich nicht länger aufrecht erhalten lässt, wie und warum aus dem für Bildung relevanten interesselosen Wohlgefallen ein uninteressiertes Schöntum wird, wie die Zerstörung des Zusammenhanges der Wirkung der Kunst mit dem Menschen als Zweck an sich eine Reihe subalterne Zwecke begünstigt und somit die Verwendungsmöglichkeit der Kunst für die heterogensten Zielsetzungen fördert, die alle darin übereinstimmen, dass sie die Funktion der Kunst für die Ermöglichung der Freiheit des Menschen überhaupt nicht mehr berühren.13

Autonomie versus Funktion

Anteil daran hatte der Begriff von der "Autonomie der Kunst", dessen historische Aufgabe in der Befreiung von inhaltlichen Vorgaben durch den/die Auftraggeber/in bestand.14 Reinold Schmücker kritisiert die Autonomiethese der Kunst (Adorno gilt als einer ihrer modernen Verfechter) in ihren verschiedenen Varianten und schreibt ihr eine ganz bestimmte Funktion zu: "Sie dient - in jeder ihrer Spielarten - der Nobilitierung von Kunst."15 Erst die Lösung vom Autonomiebegriff lässt überhaupt die Frage zu, ob Kunst in Bildungsprozessen eine Funktion übernehmen kann. Schmücker unterteilt die Kunst in generelle und potenzielle Funktionen. Generelle Funktionen sind die ästhetische und kunstästhetische Funktion, als potenzielle Funktionen gelten die kunstinterne (Traditionsbildung, Innovation, Reflexion, Überlieferung) und die kunstexterne Funktion (Distanzierung, Erinnerung, Erkenntnis, Identitätsbildung, Motivation, Ökonomie, Politik und Religion, Therapie, Unterhaltung usw.). Er schreibt, dass Kunst als Stärke ausspielen kann, "was ihr in Bildungsprozessen, deren Ziel die Vermittlung von Tätigkeiten und Wissensbeständen ist, als Schwäche ausgelegt werden wird: die in ihr genuinen, der kunstästhetischen Funktion angelegte stete Tentativität, deretwegen der ‚Griff zur Kunst’ in Bildungsprozessen immer mit der Gefahr verbunden ist, dass Zwecke verfehlt und vorgegebene Ziele nicht erreicht werden". Bernd Kleimann, Philosoph aus Hannover, konstatiert: "Was Kunst - und nur sie - vermag, ist nicht-propositionale, also nicht-satzförmig, sondern in der Erfahrung vollzogene Reflexion von Perspektiven auf Dinge aller Art. Oder einfacher formuliert: Kunst lässt uns erfahren, wie wir die Welt sehen."16 Will ein Mensch verstehen, welche Bedeutung ein Kunstwerk hat, wird er/sie versuchen, es in seinem persönlichen System der Ordnung (von Welt) zu kategorisieren. Das setzt voraus, dass er/ sie in der Lage ist, Wertungen vorzunehmen, d. h. Entscheidungen und Urteile treffen zu können. Der Mensch braucht die Fähigkeit zur Kritik. Hier setzte auch Adorno an: "Den Wahrheitsgehalt begreifen postuliert Kritik. Nichts ist begriffen, dessen Wahrheit oder Unwahrheit nicht begriffen wäre, und das ist das kritische Geschäft. Die geschichtliche Entfaltung der Werke durch Kritik und die philosophische ihres Wahrheitsgehalts stehen in Wechselwirkung."17

Gert Selle, Kunstpädagoge und em. Professor an der Carl von Ossietzky-Universität in Oldenburg, äußert seine Skepsis gegenüber verbaler Reflexion. Er kritisiert: "Im Gerede über das Gesehene verschwinden dann die sichtbaren und unsichtbaren Bilder, und man darf ungestraft behaupten, dass Kunstunterricht infolge seiner Wortgläubigkeit oft gerade die entstehenden Bilder zerstört, über die vielleicht besser nichts gesagt würde."18 Er behauptet, gerade das "Angebot an Schwersehbarkeit und Nichtverstehbarkeit" rufe das Interesse des Betrachters hervor 19Werden Wahrnehmung und Erkenntnis ins Verhältnis gesetzt, ist der Gedanke schlüssig: Sehen-Lernen und Verstehen-Wollen geraten durch Schwersehbarkeit und Nichtverstehbarkeit in Widerspruch zu Bekanntem und münden in einer subjektiven Lernproblematik (K. Holzkamp).20 Daraus resultiert für die ästhetische Bildung und die an ihr beteiligten Institutionen die Aufgabe, Bedingungen zur Entdeckung subjektiver Lernproblematiken in ästhetischer Sphäre den Grund zu legen. Sehen- und Lesen-Lernen von Kunst sind mehr als Reflexion durch gesprochene und/oder geschriebene Sprache. Sehen- und Lesen-Lernen von Kunst bedeuten Wahrnehmung und Sensibilisierung mit allen Sinnen. Diese geschieht auf konstruktive Weise (Synthese-Kunst-Schöpfung) und auf destruktive (Analyse-Sprache-Denken).

Motiv und Gegenstand

In den Prozessen der Analyse und Entstehung von Kunst ist die Dialektik von Motiv und Gegenstand wichtig. Das Motiv ist Anlass, Vorbild bzw. Werkzeug des/r Künstlers/in und führt zum Gegenstand (Inhalt). In diesem Sinne gibt es keine "gegenstandslose" Kunst. Jedes Kunstwerk beinhaltet Gegenstand. Inhaltlich und/oder formal ist Kunst ohne "Gegen-Stand" unmöglich, weil ohne ihn die Beziehung von Subjekt und Objekt (d. h. von Künstler/in und Kunstwerk) ins Leere geht und kein Prozess stattfindet. Motiv und Gegenstand bestimmen das Interesse für das Kunstwerk. Stehen Motiv und Gegenstand in einem Spannungsverhältnis, erscheint das Kunstwerk spannend.21 Ist diese Beziehung identisch oder soweit von einander entfernt, dass sie von Betrachter/innen nicht mehr fassbar ist, verliert das Kunstwerk Aufmerksamkeit und Bedeutung (im Kunstentstehungsprozess ist auch der/die Künstler/in zeitweise Rezipient/in des eigenen Werkstücks).22 Auf dieser Ebene wirkt das Problem der ästhetischen Bildung. Eine breite ästhetische Bildung lässt dem rezipierenden Subjekt weiten Spielraum in der Sinnkonstruktion von Kunstwerken, deren Grundlage die Erfassung des Verhältnisses von Motiv und Gegenstand ist. Die Kontemplation lässt Variationsvielfalt zu und befindet sich in gelassener Haltung zum Erkenntniswert. Besteht ein Mangel an ästhetischer Bildung wird in der Regel nur ein enges Verhältnis von Motiv und Gegenstand als "Kunstwerk" anerkannt.23 Als Gegenstand ist jener Sinn-Zusammenhang zu begreifen, mit welchem sich ein/e Künstler/in subjektiv oder objektiv, bewusst oder unbewusst, beschäftigt bzw. auseinandersetzt. Der Gegenstand ist gewissermaßen das, was bei Hegel oder Adorno den Geist oder Wahrheitsgehalt meint. Im besten Falle wird das entstehende Kunstwerk für den/die Künstler/in selbst zum Objekt der Erkenntnis. Ein Kunstwerk ist vom Bewusstseinsstand seines/ihrer Schöpfers/in relativ unabhängig. Manches Kunstwerk erschließt sich erst Jahre nach dem Ableben eines/einer Künstlers/in. Die enge Beziehung von Motiv und Gegenstand kann ein Hinweis darauf sein, dass sich der/die Künstler/in von seinem Produkt noch nicht genügend distanziert hat.24 Ist das der Fall, verliert das Kunstwerk an Bedeutung. Andererseits kann mangelnde Distanz von Motiv und Gegenstand gewollt sein. Die Kunstproduktion ist ein Seiltanz in der Antizipation der Rezeption, eine vorweggenommene Beurteilung des Kompetenzgefüges derer, die das Kunstwerk betrachten und bewerten. Der/die Künstler/in steckt in einem Dilemma. Er/sie berücksichtigt die Reaktion der Öffentlichkeit und muss sich gleichzeitig von ihr befreien. Er/sie muss sich ständig auf Probleme einstellen und sich für neue Lösungen bereithalten. Ein gutes Kunstwerk überrascht die Wahrnehmung, verstrickt in Widersprüche, verunsichert und sensibilisiert.

Ästhetische Bildung: grundlegend

Warum ist die Beschäftigung mit Kunst für einen gebildeten Menschen unabdingbar? Eine erstaunliche Antwort findet sich im neuen Rahmenlehrplan Kunst für die Grundschule für Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern: "Ästhetisch-künstlerische Lernprozesse sind Sinngebungsprozesse. Die Schülerinnen und Schüler lernen durch ästhetisch-künstlerische Aneignung der Wirklichkeit die Welt zu hinterfragen und sich dabei ihrer selbst und der sinnlich-wahrnehmbaren Phänomene zu vergewissern. Sie erschließt sich Antworten, indem sie verschiedene Deutungen mithilfe ästhetisch-künstlerischer Vorgehensweisen ausloten und sich selbst zu anderen in Beziehung setzen. Dabei bilden sie ein kritisches Urteilsvermögen aus."25

Es geht darum, ästhetische Erfahrung26 mit ihren erkenntnistheoretischen und erkenntniskritischen Potentialen27 ins Zentrum des pädagogischen Prozesses zu rücken, und zwar für Alle. Vorsicht sei aber gegenüber Forderungen nach einer "musischen Bildung" geboten, weil diese "die Kunst und das Ästhetische zum schmückenden Beiwerk des herrschenden Bürgertums herabgewürdigt" habe bzw. sie antisemitisch mystifiziere und völkisch ausrichte.28 Sie gehört nicht in das Repertoire einer kritischen Ästhetik und Kunstpädagogik. Es muss darum gehen, künstlerische Strategien in den gesamten Lernprozess einzubringen. Dabei geht es nicht in erster Linie um die standespolitische Ausweitung der Kunstpädagogik. Solange künstlerische Strategien in Unterrichtskonzepten und Bildungsprogrammen vorkommen (z.B. an der Laborschule Bielefeld, wo die Kinder statt im traditionellen Kunstunterricht im Lernbereich Wahrnehmen und Gestalten ihren Unterricht "wahrnehmen"), ist die ästhetische Bildung derer, die sie wollen, gesichert.29

Theoretisches und praktisches Ringen um eine künstlerische Position, bzw. ihre Ergründung, bedingen einen Standpunkt. Der Standpunkt ist die Ausgangsposition, von der aus Bewegung möglich wird. Die Veränderung des Standpunktes, Bewegung, macht Kunst erst zur Kunst. Wie Joseph Beuys es ausdrückte: "Wer nicht denkt, fliegt raus!". Analysieren, Auseinandersetzen, Ausprobieren, Beten, Denken, Diskutieren, Entdecken, Forschen, Gestalten, Lernen, Lesen, Malen, Rechnen, Sehen, Schreiben, Tätigsein, Trainieren, Üben, Wahrnehmen, Wiederholen, Zeichnen und Zusammensetzen: all das ist Bestandteil von Kunst. Kunst im Prozess verkörpert eine Haltung, auf die es im Leben ankommt und die ihren Sinn ausmacht. In diesem Sinne ist ästhetische Bildung eine politische (im Beuys’ schen Sinne: plastische) Aufgabe. Es ist die Aufgabe, zur Beschäftigung (Analyse und Synthese) mit Kunst anzuregen, zu motivieren, Lust zu wecken. Es geht darum, künstlerisch-ästhetische Selbstbewegungen freizulegen und Selbstblockierungen aufzulösen. Der künstlerische Prozess stellt sich oft widerständig dar. Das Material passt nicht, Techniken funktionieren nicht oder werden nicht beherrscht, Zeit und Geld reichen nicht aus usw. Ständig gilt es, Probleme zu lösen und bereit zu sein, neue, nicht vorhergesehene Lösungen zuzulassen.

Den Aufklärungscharakter von Kunst brachte Joseph Beuys auf den Punkt:30 "Kunst ist eine Art von Freiheitswissenschaft. […] Also Kunst als Freiheitswissenschaft erst einmal, und infolge dessen auch Kunst als Urproduktion oder als die Basisproduktion für alles weitere."31

Für Beuys war Kunst ein plastischer Vorgang, ein gestalterischer Prozess. Das "Schälen eines Kohlrabis" galt ihm ebenso als gestalterischer, kreativer Prozess und damit als Kunst. Seine Auffassung kulminierte in der Aussage, jeder Mensch sei ein Künstler. Seine anthroposophische, vom philosophischen Standpunkt her idealistische Grundhaltung sollte seine Verdienste um den "erweiterten Kunstbegriff" nicht schmälern. Es ist immer auch die Frage, welchen Aspekt eines Kunstwerkes ich in meiner subjektiven Problematik berücksichtigen will. Über die emanzipatorischen Gesichtspunkte schrieb die Potsdamer Professorin für Ästhetische Erziehung Meike Aissen-Crewett treffend: "Kunst hat immer eine anarchische Komponente, sie lässt sich letztlich nicht von den Herrschenden einfangen, bedeutet für diese immer eine Gefahr. So haben Diktaturen zu allen Zeiten die Künste kontrolliert. Das Ermutigende ist, dass aber die Künste zu allen Zeiten die Diktaturen überlebt haben."32

Kunst als Teil von Kultur

Künste sind Erscheinungsformen der Kultur. Zu anderen Erscheinungsformen der Kultur gehört die Ökonomie. Künste sind künstlerische Produktionen jeder Art: Ausstellungswesen (Galerien und Museen), Bildende Künste, Film, Literatur, Musik, Museen, Sport, Tanz und Theater. Die Künste nehmen im Verhältnis zur Ökonomisierung der Welt eine Schlüsselstellung ein. Kunst und Ökonomie verkörpern einander entgegen gesetzte Prinzipien. Während die Ökonomie sich per Definition mit dem Mangel befasst, vertritt die Kunst das Prinzip des Reichtums: nur wer aus dem Vollen schöpft und sich von der Angst vor dem Mangel befreit, wird ansprechende künstlerisch-ästhetische Lösungen für die Probleme der Welt finden. Dieses Wechselverhältnis markiert den Bereich der Kultur. Kultur ist gewissermaßen der Austragungsort der Auseinandersetzung von Kunst und Ökonomie, von ästhetischer Bildung und Weltaufschluss. Kunst und Ästhetik definieren den Kernbereich der Kulturpolitik.33 Ästhetische Bildung ist der zentrale Kern kultureller Bildung.34 Dieser Begriff feiert in der Bildungspolitik derzeit Konjunktur, seitdem der Deutsche Kulturrat unter der Leitung von Max Fuchs und mit seinem Geschäftsführer Olaf Zimmermann auch von der Bundespolitik ernst genommen wird.

Expansives Lernen

In einem Workshop "Leben Lernen ohne Herrschaft"35 musste ich kürzlich registrieren, wie sehr auch "linke" Studierende den bürgerlichen Bildungsbegriff internalisiert haben.36 In den geäußerten Vorstellungen war Bildung etwas, das "von außen" heran getragen und summiert wird. Bildung wird im Bewusstsein als "angehäuftes Wissen" konstruiert, ästhetische Erfahrung und subjektive Aneignung haben in diesem Bildungsverständnis keinen Platz. Die Studierenden reproduzieren, was der Lehrbetrieb an Schule und Universität ihnen vorexerziert. Die anschließende Debatte mit Frigga Haug und Ines Langemeyer warf die Frage auf, was dem Subjekt im Lehr- und Lernprozess zuzumuten sei. Obwohl die Haug‘sche Kritik an der subjektwissenschaftlichen Auslegung des Lernens von Klaus Holzkamp nicht Kern ihres Vortrages war, wurde sie zum Gegenstand der Diskussion. Frigga Haug und Ines Langemeyer betonten - nicht zuletzt aufgrund ihrer Erfahrungen im Lehrbetrieb - die Wichtigkeit von Impulsen und Anforderungen für und an das Subjekt durch den/die Lehrer/in. Wie stark und geschickt dies getan wird, ist für den Bildungsprozess mitunter entscheidend. Will eine Lehrkraft "expansives Lernen" fördern, geht das nur, wenn sie Angebote macht. Andernfalls ist sie eins, zwei, drei dabei, mittels "defensiver" Lernstrategien bestehende Macht- und Hierarchieverhältnisse zu reproduzieren. Fehlt dem Subjekt das Interesse, ist "expansives Lernen" sinnlos.

In seiner subjektwissenschaftlichen Grundlegung des Lernens entschied sich Klaus Holzkamp bewusst dafür, "bei der folgenden Erarbeitung unseres expansiven subjektwissenschaftlichen Lernkonzeptes die Grundbestimmungen des Lernens nicht in früheren Stadien der Ontogenese, sondern in der Welt- und Selbstsicht von ‚je mir’ als Lernsubjekt zu suchen […]. Dabei muss - wenn wir die aufgewiesene Weltlosigkeit der traditionellen Lerntheorien überwinden wollen- vor allem anderen das Lernen als möglicher Zugang des Lernsubjektes zur sachlich-sozialen Welt gesellschaftlicher Bedeutungszusammenhänge verständlich gemacht werden können."37 Er wählte ein (lern-)problematisches und umstrittenes Beispiel zur Darstellung dessen, was er "expansives Lernen" nannte und veranschaulichte es am Beispiel seiner persönlichen Aufschlüsselung der Schönberg’schen Orchestervariationen.38 Was nutzt mir all mein Wissen, wenn es im Leben nicht zur Freude und Bewältigung meiner Lebensproblematik reicht? Selbst wenn ich mich auf die Prämissen bürgerlicher Lebensweise einlasse(n muss) und "Erfolg und Karriere" anstrebe: was ist Inhalt und Sinn meines "Erfolges" und meiner "Karriere"? Was macht mein Leben gelungen? Es sind dies die zentralen Fragen der ästhetischen Bildung.


Anmerkungen

1) Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil, Stuttgart 1983, 1971, S. 13.

2) Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 2003, 1970, S. 137.

3) Vgl. Klaus Mollenhauer: Ist ästhetische Erfahrung möglich? In: Zeitschrift für Pädagogik, 34 (1988), S. 457. Vgl. Reinold Schmücker: Was ist Kunst? Eine Grundlegung, München 1998, S. 56.

4) Vgl. ebd., S. 59.

5) Vgl. ebd., S. 53.

6) Vgl. ebd., S. 59.

7) Vgl. Meike Aissen-Crewett: Ästhetisch-aistheitsche Erkenntnis als Ziel der ästhetisch-aisthetischen Erziehung: Kunst als Erkenntnis, in: Grundriß der aisthetisch-ästhetischen Erziehung, Potsdam 1998, S. 109-132. Vgl. Klaus Holzkamp: Sinnliche Erkenntnis. Historischer Ursprung und gesellschaftliche Funktion der Wahrnehmung, 5. Aufl., Frankfurt/M. 1985.

8) Theodor W. Adorno, S. 192/193.

9) Vgl. Andreas Merkens: Erziehung und Bildung im Denken Antonio Gramscis. Eckpunkte einer intellektuellen und politischen Praxis, in: Institut für Kritische Theorie (Hg.): Antonio Gramsci: Erziehung und Bildung, Hamburg 2004, S. 37

10) "Ästhetische Erziehung ist eine Lernorganisation zur Aneignung und Weiterentwicklung soziokultureller Aktivitäten. Ziel der Ästhetischen Erziehung als pädagogischer Zurichtung von Lernmilieus in soziokulturellen Feldern ist aktives Wahrnehmungsverhalten und interessenorientierte selbstbestimmte Kommunikation in tendenziell autonomen Teilöffentlichkeiten mit Wirklichkeitscharakter. Ästhetische Erziehung organisiert Produktionsbereiche für authentische Erfahrung und ästhetisches Lernen mit emanzipatorischer Tendenz und mit der Teilfunktion der Ausbildung gesellschaftlich wirkungsvoller Ausdrucks- und Artikulationstechniken." - Hans Mayerhöfer/Wolfgang Zacharias: Ästhetische Erziehung, Lernorte für aktive Wahrnehmung und soziale Kreativität, Reinbek 1976, S. 109; zit. n.: Hartmut von Hentig: Ergötzen, belehren, befreien. Schriften zur ästhetischen Erziehung, München-Wien 1985, S. 65.

11) Vgl. Holzkamp: Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung, Frankfurt/M./New York 1995. Vgl. auch Karl-Heinz Braun/Konstanze Wenzel: Lernwidersprüche und pädagogisches Handeln, Bericht der 6. Internationalen Ferien-Universität Kritische Psychologie, 24.-29. Februar 1992 in Wien, Marburg 1992;. Frigga Haug: Lernverhältnisse. Selbstbewegungen und Selbstblockierungen, Hamburg 2003; Ute Osterkamp (Hg.): Lernverhältnisse: Kategoriale, theoretische und methodische Probleme des Lernens und Lehrens, Forum Kritische Psychologie 48, Hamburg 2005.

12) Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Theoretische Schriften, Köln 1999, S. 250-348.

13) Diethard Kerbs: Historische Kunstpädagogik. Quellenlage, Forschungsstand, Dokumentation, Köln 1976, S. 45 bzw. 46.

14) Vgl. Martin Wanke: Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers, Köln 1985. Vgl. auch Werner Busch (Hg.): Funkkolleg Kunst, Weinheim/Basel 1984/85.

15) Reinold Schmücker: "Der Griff zur Kunst" - ein Kunstgriff in Bildungsprozessen? In: Karl Emert/Dieter Gnahs, Horst Siebert (Hg.): Kunst-Griffe. Über Möglichkeiten künstlerischer Methoden in Bildungsprozessen, Wolfenbüttel 2003, S. 28.

16) Bernd Kleimann: Künste, Kunst, Kunstvermittlung oder was vermag die Kunst? Wolfenbüttel 2003, S.38.

17) Theodor W. Adorno, S. 194.

18) Gert Selle: Sichtbares und unsichtbares Bild, in: Gerd Schäfer/Christoph Wulf (Hg.): Bild - Bilder - Bildung, Weinheim 1999, S. 248

19) Ebd., S. 251.

20) "Ausgangspunkt […] sind demnach im Begründungsdiskurs bestimmte, sich aus meinem Handlungsvollzug ausgliedernde Problemsituationen, in denen das Subjekt einerseits ‚gute‘ Gründe hat, auf eine bestimmte Weise zu handeln, andererseits aber die Problemsituation so nicht zu bewältigen vermag […].", Holzkamp: Lernen, S.182.

21) "Angebot an Schwersehbarkeit und Nichtverstehbarkeit"! Vgl. G. Selle, S.251. 22) Ein/e Künstlerin wird kaum in der Lage sein, ein Kunstwerk zu schaffen, wenn er/sie nicht in der Lage ist, allgemeine Problemstellungen von Menschen mit ästhetischen Mitteln zu erfassen und zu bearbeiten. Der/die Künstler/in wird jeweils bemüht sein, formale und inhaltliche Aspekte des ästhetischen Problems mit seinen/ihren Mitteln der ästhetischen Kunsterfahrung zu lösen. Ästhetische Probleme befinden sich mit den konkreten Problemen des Inhalts in ständigem und engem Wechselverhältnis. Kunst ist die ästhetische Äußerung von Subjekten in Bezug auf das Denken (Struktur), die Gesellschaft (Kultur) bzw. die Umwelt (Natur).

23) Bemerkenswert, dass im akademischen Umfeld der DKP eine Ästhetik formuliert wurde und gefeiert wird, die genau dieses enge Verhältnis von Motiv und Gegenstand fordert. Jede Form, die sich nicht sofort erschließt, wird dabei als banal und belanglos diffamiert. Gefordert wird direkte Bezugnahme auf eine "Ästhetik des Widerstandes". Was dem nicht standhält, sei bürgerlich. Meine Kritik an diesen Positionen Werner Seppmanns, der als großer Verfechter der Dialektik gilt, resultierte in seinem Ärger über den "unvermittelten" Abdruck meiner Kritik in den Marxistischen Blättern (5/2004) und lustigerweise in dem Vorwurf, ich hätte von DDR-Kunst keine Ahnung.

24) Das Problem der Distanz von Künstler/in und Werk war ein Diskussionspunkt in einem Gespräch mit Johannes Stüttgen. Ich danke ihm für Anregung und Debatte.

25) Vgl. RLP Kunst für Berlin-Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern Grundschule, Potsdam 2003, S. 20.

26) Vgl. Aissen-Crewett, S. 109 ff.

27) Ebd., S. 31.

28) Ebd., S. 57.

29) Dazu gab es einen interessanten Streit zwischen Diethard Kerbs und Hartmut von Hentig; vgl.: Hartmut von Hentig, ebd., S. 367-399.

30) Joseph Beuys war ein Künstler, der es verstand, seine Kunst in den Kontext politischer Diskurse zu stellen und sie zum Inhalt der Diskurse zu machen. Sein politisches Engagement begann in der Hochschulpolitik, bezog sich auf Innen- und Kulturpolitik, er äußerte sich zur Menschenrechts- und Umweltpolitik. Es mündete in der Gründung der Grünen Partei. Er definierte seine politische Tätigkeit als Teil seiner künstlerischen Arbeit (soziale Plastik), und so waren seine Auftritte immer auch ein gutes Stück Selbstinszenierung. Selten übrigens beherrschte jemand das Kunst-Marketing so gut wie Beuys. Davon könnten sich viele Künstler/innen eine Scheibe abschneiden.

31) Joseph Beuys, in: Volker Harlan: Was ist Kunst? Werkstattgespräch mit Joseph Beuys, 3. Aufl. 1988, Stuttgart 1986, S. 15.

32) Aissen-Crewett, S. 60.

33) Vgl. Max Fuchs: Kunst, Kultur, Ökonomie und Politik in Zeiten der Globalisierung. Aktuelle Theorie und ihre Bedeutung für die Kulturpolitik - Eine Skizze, in: www.kulturrat.de/texte/mf-Kunst-Kultur-Oekonomie und Politik.htm , S. 29 (1-50).

34) "Kulturelle Bildung bietet Zugangsmöglichkeiten für alle Kinder und Jugendlichen. Unbegabte Kinder gibt es nicht, in jedem steckt die Möglichkeit, Kunst und Kultur genussvoll zu erleben und selbst zu machen. Der spielerische Umgang mit Kunst und Kultur ermutigt Kinder und Jugendliche, neue Welten zu entdecken und sich damit auseinander zu setzen. Langzeitstudien haben erwiesen, dass kulturelle Bildung dazu befähigt, sich auch in anderen Lernbereichen erfolgreicher zu nähern. Sie fördert die Identifikation mit der Schule, sowie die Motivation und Leistungsbereitschaft in allen Fächern." Deutscher Kulturrat: Chancen der Kulturellen Bildung nutzen! Stellungnahme des DKR zum Ausbau der Ganztagsschulen, in: www.kulturrat.de/aktuell/Stellungsnahmen/ganztagsschule.htm , S. 2.

35) Tag der "alternativuni potsdam": 16.6.2004.

36) Der Workshop wurde von Marcel Krüger, Uni Wuppertal, dem fzs-Vorstand, "interflugs" und mir geleitet.

37) Holzkamp, Lernen, S. 180.

38) Holzkamp, Lernen, S. 180.


Stephan B. Antczack studiert an der Universität Potsdam Bildende Kunst, Geschichte und Pädagogik. Seine politischen Schwerpunkte sind die Bildungspolitik (Lehrer/innenbildung) und Kulturpolitik. Er war Stipendiat der Rosa-Luxemburg-Stiftung und ist aktiv in der studentischen Selbstverwaltung. In Brandenburg ist er bildungspolitischer Sprecher des BDK - Fachverband für Kunstpädagogik e.V.

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