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Steigende Armut - kein Handlungsbedarf?

15.09.2005: Zweiter Armuts-und Reichtumsbericht der Bundesregierung

  
 

Forum Wissenschaft 3/2005; Titelbild: Eckhard Schmidt

1999 hatten die SPD- und Grünen-Regierungsfraktionen, frisch im Amt und noch nicht so weit wie heute von ihren damaligen (und neuerlichen) Versprechen entfernt, die Erstellung eines Armuts- und Reichtumsberichts beschlossen und von der Bundesregierung gefordert. Dieter Eißel und Carmen Ludwig prüfen, wie die Bundesregierung mit dem mittlerweile zweiten Bericht umgeht, der Folgen ihrer eigenen Politik dokumentiert.

In der Begründung für den ersten Bericht hieß es zutreffend: "Eine nationale Armuts- und Reichtumsberichterstattung ist seit langem überfällig. Die Armutsberichterstattung ist in der Bundesrepublik Deutschland verglichen mit anderen europäischen Staaten rückständig. Eine offizielle Reichtumsberichterstattung findet bislang überhaupt noch nicht statt."1

Schon zuvor hatten die Kirchen in ihrem gemeinsamen Sozialwort "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" kritisiert, dass in Deutschland nicht nur die Armut, sondern auch der Reichtum kein größeres Gewicht in der öffentlichen Debatte hat. In die gleiche Richtung zielten die vom Europäischen Rat auf seiner Sitzung vom 7. bis 9. Dezember 2000 in Nizza festgelegten Ziele für die Bekämpfung der Armut und der sozialen Ausgrenzung. Der Rat forderte die Mitgliedstaaten auf, bis Juni 2001 einen entsprechenden nationalen Aktionsplan vorzulegen.

Der Bundestag beschloss daher, die Bundesregierung zu beauftragen, dem Deutschen Bundestag regelmäßig einen Armuts- und Reichtumsbericht zu erstatten und im Jahr 2001 den ersten nationalen Armuts- und Reichtumsbericht vorzulegen. Es ging dabei nicht nur um eine genauere Datenerfassung und -kenntnis, sondern auch um die Schaffung von Grundlagen zur Bekämpfung sozialer Ausgrenzung, ganz im Sinne der Berichterstattung des zuständigen Bundestagsausschusses: "Soziale Ausgrenzung ist auch in einem wohlhabenden Land wie Deutschland anzutreffen. Eine genaue Analyse der sozialen Wirklichkeit in Deutschland ist notwendig, um Armut zielgenauer entgegenwirken und gesellschaftspolitische Reformmaßnahmen zur Stärkung sozialer Gerechtigkeit und gleicher Chancen für die Menschen ergreifen zu können."2

Der 2001 vorgelegte erste Armuts- und Reichtumsbericht hat diese Aufgabe im Wesentlichen erfüllen können. Da er jedoch nur die Datenlage bis 1998 erfasste, konnte die rot-grüne Bundesregierung nicht für die Verursachung der aufgezeigten Probleme verantwortlich gemacht werden. Der Berichtszeitraum betraf "lediglich" die Regierungszeit Kohls. Dennoch ist festzuhalten, dass der erste regierungsoffizielle Nachweis zunehmender Armut und einer wachsenden Kluft zwischen Reich und Arm in Deutschland von Rot-Grün nicht zum Anlass genommen wurde, ernsthaft die Bekämpfung der erkannten sozialen Ausgrenzung in die Tat umzusetzen. Im Gegenteil: Die Regierung Schröder setzte im Kern und zum Teil noch vehementer den neoliberalen Kurs der Umverteilung von unten nach oben der Vorgängerregierung fort. Dies betraf vor allem weitere Steuererleichterungen zugunsten der Wohlhabenden und Unternehmen.

Die bereits unter der Kohl-Regierung durch eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich entstandene Gerechtigkeitslücke war zwar einer der Gründe, die zur Ablösung dieser Regierung 1998 geführt hat. Trotz des Wahlslogans "Mehr Gerechtigkeit" hat jedoch auch die SPD-geführte Regierung die Steuerpolitik der Ära Kohl fortgesetzt. Es gibt zwar lobenswerte Erhöhungen des Kindergeldes und die Senkung des Eingangssteuersatzes, dennoch ist auch die rot-grüne Verteilungspolitik unter dem Strich unsozial und konjunkturpolitisch folgenlos geblieben.

Ergebnisse …

Zunächst muss festgestellt werden, dass der 2. Bericht noch stärker als der erste eine breite Informationsbasis zu vielen Aspekten zur Verfügung stellt: Dies betrifft nicht nur die Verteilung von Einkommen und Vermögen, sondern auch die besondere Lage der Familien, die Schlüsselfunktion von Bildung, die Lage der Migranten und Migrantinnen, den Zusammenhang von Armut und Partizipation, Gesundheit und Beschäftigung.

Im Ergebnis stellt der Bericht fest, dass auch seit 1998, dem Jahr des Regierungswechsels, die Schere zwischen Armut und Reichtum in Deutschland zugenommen hat. Dies ist u. a. am so genannten GINI-Koeffizienten zu erkennen, der

Verteilungen abbildet (0 = Gleichverteilung, 1 = Alleinbesitz einer Person). Dies betrifft sowohl die Einkommens- als noch stärker die Vermögensverteilung (bei letzterer stieg der GINI-Koeffizient von 0,665 auf 0,675). Die Daten des zweiten Armuts- und Reichtumsberichts enden im Jahr 2003. Bis zu diesem Jahr stehen zudem Informationen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), die alle fünf Jahre erhoben wird, zur Verfügung.

Besonders von Armut betroffen sind dabei Arbeitslose und Alleinerziehende; auch die Zahl der Kinder, die unterhalb der Armutsschwelle leben, hat sich erhöht: Gegenwärtig müssen mehr als 1 Million Kinder von Sozialhilfe leben (6,6%; 1980 waren es dagegen nur 2,1%).

Im Detail zeigt sich die Armutsentwicklung einzelner Gruppen wie in Tab. 1 dargestellt. Während die Armut zunahm, hat sich zur gleichen Zeit der Vermögensanteil der oberen 10% erhöht. Insgesamt 46,8% des gesamten Nettovermögens werden von nur 10% der erwachsenen Bevölkerung gehalten. Der Anteil des oberen Zehntels ist gegenüber 1998 um gut zwei Prozentpunkte gestiegen. Die wachsende Schieflage zwischen Arm und Reich wird durch die EVS bestätigt, wobei zu beachten ist, dass bei dieser statistischen Erfassung die reichen Haushalte mit einem Einkommen von mehr als 18.000 Euro pro Monat nicht erfasst werden (Tab. 2).

Sicherlich kann gesagt werden, dass ohne staatliche Transferleistungen die Armut noch erheblicher wäre. So trugen vor allem die Aufstockung der Transfers für Familien um 20 Mrd. Euro auf 60 Mrd. Euro und insbesondere auch die Erhöhung des Kindergeldes (für das erste und zweite Kind) auf 154 Euro dazu bei, dass die Armut der Alleinerziehenden um 15 Prozentpunkte und bei Kindern um 9 Prozentpunkte reduziert wurde. Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich ist trotz dieser positiven Daten jedoch offensichtlich und wird zu Recht der Regierung zur Last gelegt.

Die negative Bilanz des zweiten Armuts- und Reichtumsberichts belastet die Bundesregierung. Sie sucht nach Rechtfertigungen und Begründungen, um zu verhindern, dass diese negative Bilanz ihrer Politik, d.h. vor allem ihrer Steuer- und Arbeitsmarktpolitik, angelastet wird. In ihrem Kommentar zum 2. Armuts- und Reichtumsbericht muss die Bundesregierung zugestehen, dass Armut und soziale Ausgrenzung nicht nur Randphänomene sind, sondern auch die Mitte der Gesellschaft bedrohen.3 Sie weiß auch um die zentralen Aussagen des Berichts, nämlich dass ein gestiegenes Armutsrisiko trägt, wer von Arbeitslosigkeit betroffen oder allein erziehend ist sowie in Familien mit Migrationshintergrund lebt. Nach Ansicht der Regierung habe ihre Verteilungspolitik jedoch nichts mit der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich zu tun. Der Anstieg des Armutsrisikos zwischen 1998 und 2003 von 12,1% auf 13,5% sei demzufolge "nicht etwa auf eine ‚unsoziale’ Politik zurückzuführen. Hauptursache von Armut und sozialer Ausgrenzung ist das schwache Wachstum der vergangenen Jahre und daraus folgend die gestiegene Arbeitslosigkeit."4

… und Rechtfertigungen

Die Verdienste versucht sich die Regierung auf einem anderen Feld zu holen: "Dieser Bericht ist ehrlich in der Sache. Es ist das Verdienst der rot-grünen Bundesregierung, mit dem Armuts- und Reichtumsbericht zu sagen, wo die Probleme liegen und wie wir sie lösen wollen", erklärte der Parlamentarische Staatssekretär im Bundessozialministerium Franz Thönnes. Man verweist sogar auf positive Entwicklungen: "Der Bericht zeigt: Der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland geht es nach wie vor gut. Im internationalen Vergleich steht der deutsche Sozialstaat sogar mit an der Spitze. Im EU-Durchschnitt liegt die Armutsquote mit 15 Prozent über der deutschen Quote. Nur Dänemark und Schweden weisen EUROSTAT zufolge eine noch niedrigere Armutsquote auf.5 Die Armut in Deutschland wird damit durch den internationalen Vergleich zu relativieren versucht. Eine Abschwächung stellt nicht zuletzt die regierungsoffizielle Antwort auf die Frage "Was heißt arm?" dar: "Was arm und reich bedeutet, hat viel mit Wertüberzeugungen zu tun. Im streng wissenschaftlichen Sinne ist Armut deshalb eigentlich nicht messbar. In Gesellschaften wie der unsrigen liegt das durchschnittliche Wohlstandsniveau deutlich über dem physischen Existenzminimum (‚absolut arm’). Armut wird daher zumeist auf einen mittleren Lebensstandard bezogen (relative Definition des Armutsrisikos). Das tut auch der Armutsbericht. Nach der dort zugrunde gelegten Definition der Europäischen Union gilt als ‚arm’, wer weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens zur Verfügung hat. In Deutschland liegt die so errechnete Armutsrisikogrenze bei 938 Euro im Monat. Wer darunter liegt, ist also arm. Der Bericht belegt, dass Armut in den meisten Fällen kein permanenter Zustand ist und das Ausmaß der Ungleichverteilung in Grenzen gehalten werden konnte."6 Auch die Tatsache, dass inzwischen das frühere Thema der Altersarmut (vorerst!) nahezu obsolet ist, wird als positives Ergebnis des Berichts gewürdigt. In der Tat ist "entgegen dem allgemeinen Trend das Risiko der Einkommensarmut unter den Älteren (65 und älter) von 13,3 Prozent auf 11,4 Prozent zurückgegangen. Auch der Anteil der Älteren an den Sozialhilfebeziehern lag 2002 mit 1,3 Prozent deutlich unter dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung (3.3 Prozent)."7

Eine besondere Herausforderung stellt die Feststellung des Berichts dar, dass Familien besondere Lasten und ein höheres Armutsrisiko tragen. Hier besteht die Bundesregierung darauf, dass sie in den vergangenen Jahren viel getan habe: "Unter anderem wurde das Kindergeld erhöht, Familien steuerlich entlastet, ein Kinderzuschlag eingeführt und die Kinderbetreuung ausgeweitet. […] Das seit Jahresbeginn geltende neue Sozialhilferecht senkt das besonders hohe Armutsrisiko von Alleinerziehenden: Die Regelsätze für Kinder unter sieben Jahren wurden erhöht. Darüber hinaus erhalten bedürftige Alleinerziehende einen Mehrbedarfszuschlag. Dies hilft erstmals 70.000 allein Erziehenden mit einem Kind ab sieben Jahren und fast 10.000 allein Erziehenden mit mehreren Kindern."8 Um weitergehenden Forderungen entgegen zu treten, sehen sich RegierungsvertreterInnen veranlasst, auf Ursachen von Familien und Kinderarmut hinzuweisen, die nicht durch Transfers zu beheben seien. So äußerte die zuständige Ministerin für Familien: "Die unzureichende Förderung von Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern kann durch mehr staatliches Geld nicht beseitigt werden. Familien, die oft schon seit Generationen in Armut leben, brauchen besondere Maßnahmen, um die Kreisläufe ‚vererbter‘ Armut zu durchbrechen. Schuldnerberatung und Beratung für Haushaltsführung zum Beispiel spielen hier eine wichtige Rolle."9 Diese Feststellung ist sicherlich zutreffend, es besteht jedoch die Gefahr, dass mit allzu häufigen Hinweisen auf diese Defizite die Schuld an der Misere von sozialer Ausgrenzung den Betroffenen zur Last gelegt wird. Opfer werden auf diese Weise zu Tätern gemacht.

In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 18.7.2004 hatte die Ministerin noch deutlicher ihren Standpunkt vertreten: Auf die Frage "Kennen Sie den Alltag solcher Familien?" lautete ihre Antwort: "Ich habe in der ‚Bild’-Zeitung über eine Familie gelesen, die mit ihren sechs kleinen Kindern immerhin pro Monat einen Betrag von rund 1700 Euro zur Verfügung hat. Die Mutter sagte, sie brauche täglich 50 Euro für Lebensmittel, sonst müssten die Kinder hungern. Das kleinste wurde noch gestillt, das älteste war acht Jahre alt. Auf dem Tisch lag eine Packung Toastbrot und Erdnussflips, von den Kindern hungrig betrachtet. Ein Kinderzimmer war zu sehen, ohne Poster an der Wand, kein Spielzeug, nichts. - Und Sie packte sofort das Mitleid? Nein. Ich habe mich sehr geärgert und einen Brief geschrieben: Ich sei bereit, für einen ganzen Monat einen Speiseplan aufzustellen - früh, mittag, abend plus Zwischenmahlzeit. Die Eltern bekommen zwischendrin mal eine Flasche Bier, ein Eis für die Kinder ist auch noch drin, und das würde monatlich nicht mehr als 900 Euro kosten. Den Plan für zwei Tage habe ich beispielhaft mit Preisen aus meinem Supermarkt aufgeführt. Außerdem habe ich mich bereit erklärt, zu dieser Familie zu fahren, um zu erklären, wie man so etwas macht. Das kam leider nicht zustande. - Was hätten Sie der Familie vorgeführt? Ich wäre in die Küche gegangen und hätte geschaut, was die für Töpfe haben, hätte mir angeschaut, ob die Frau überhaupt kochen kann. Und dann wäre Armutsprävention in dieser Familie gewesen, ihr und ihm beizubringen, wie man eigentlich einen Haushalt führt."10 Der Realitätsbezug scheint der Ministerin abhanden gekommen zu sein.

Insgesamt sieht es so aus, als ob die Regierung keinen weiteren Handlungsbedarf für die Armutsbekämpfung sieht. Nicht zuletzt habe die Regierung ja auch durch ihre seit 1998 eingeleitete Steuerpolitik den Armen geholfen. So gingen von der Steuerreform Entlastungswirkungen für geringe Einkommen aus. Die Regierung führt in diesem Kontext die Senkung des Eingangssteuersatzes von 25,9 auf 15,0% zwischen 1998 und 2005 an und verweist auf die Anhebung des Grundfreibetrages von 6.322 Euro (1998) auf 7.664 Euro (ab 2004). Die Steuergeschenke an die Unternehmen, insbesondere Kapitalgesellschaften und an die oberen Einkommensgruppen, werden dagegen im Kommentar verschwiegen. Diese steuerliche Inszenierung der Umverteilung nach oben ist jedoch im Wesentlichen Anlass für Kritik unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen, vor allem der Gewerkschaften und Kirchen.

Umverteilungen die Menge

Zunächst einmal soll das wahre Ausmaß der Steuer- und Umverteilungspolitik verdeutlicht werden. Betrachtet man die Steuerentlastungen von 1998 bis 2005 nach Einkommensgruppen, dann ergeben sich Daten wie in Tab. 3.

Vergleicht man die Steuerentlastung der rot-grünen Regierung nach Einkommensklassen, muss man feststellen, dass ein Einkommensmillionär (verheiratet ohne Kinder) von 1998 bis 2005 um 102.500 Euro entlastet wurde, während BezieherInnen von Durchschnittseinkommen in Höhe von 30.000 Euro pro Jahr nur einen Steuernachlass von 1.563 Euro erhielten.

Allerdings muss man festhalten, dass bei Verwirklichung des CDU/CSU-Sofortprogramms zur Steuerpolitik die Geschenke für die hohen Einkommensbezieher noch üppiger ausgefallen wären: So wäre z.B. bei einer Million Einkommen die Entlastung mit 162.000 Euro noch um nahezu 60% höher ausgefallen als bei Rot-Grün. Dies kann jedoch keine Rechtfertigung für die rot-grüne Steuerpolitik bedeuten. Allein die letzte Entlastungsrunde von 2005 hat einem ledigen Millionär ein Steuergeschenk von 30.891 Euro gebracht; für den Durchschnittsverdiener mit 30.000 Euro Jahreseinkommen lag die Reduktion dagegen nur bei -147 Euro.11 Insgesamt ist die Steuerentlastung an den Lohnsteuerzahlern eher vorbeigegangen, während die Kapitaleinkünfte profitieren konnten (siehe Tab. 4).

Die Zeche für die staatlich inszenierte Umverteilung bezahlten am Ende die Lohnsteuerzahler: Die Lohnsteuer macht inzwischen allein über 35% aller Steuereinnahmen aus. Eine ähnliche Dynamik weisen noch die Umsatzsteuern auf, während die Vermögenssteuer ausgesetzt wurde und die übrigen Gewinnsteuern unter dem Strich zurückgingen. Betrachtet man die Steuerentwicklung nach 1990 genauer, so zeigt sich, dass das Mehraufkommen von 388,3 Mrd. DM im Wesentlichen aus der wachsenden Lohnsteuer (+149,9 Mrd. DM) und den um 121,3 Mrd. DM ebenfalls wachsenden Umsatzsteuern (= Mehrwert- und Einfuhrumsatzsteuer) finanziert wurde, während die Gewinn- und Vermögenssteuern rückläufig sind. Dies ist sicherlich auch darauf zurück zu führen, dass die Wohlhabenden und international operierenden Unternehmen - unter Ausnutzung aller möglichen legalen Tricks und sicherlich auch durch illegale Steuerflucht - viel größere Möglichkeiten haben, ihre Steuerabgaben zu gestalten, während die Lohnsteuer an der Quelle direkt abgezogen wird. Im Kern ist dieser Rückzug der Wohlhabenden und Unternehmen aus der Finanzierung öffentlicher Angelegenheiten jedoch Folge bewusster neoliberaler Politik.

Die SPD hat mit dieser Umverteilungspolitik entgegen ihrem Wahlversprechen von 1998 die Frage nach sozialer Gerechtigkeit missachtet und kann nicht einmal konjunkturpolitische Erfolge zu ihrer Rechtfertigung vorweisen. Im Gegenteil: dadurch, dass die Massennachfrage ebenso beeinträchtigt wurde wie die Handlungsfähigkeit der öffentlichen Haushalte, sind mögliche Wachstumsimpulse ausgeblieben. Eine andere Verteilungspolitik hätte daher sowohl die Kaufkraft der unteren Einkommensgruppen durch höhere Transfers stärken können und damit auch über eine höhere Binnennachfrage zum Abbau der Arbeitslosigkeit und der damit verbundenen Armut beitragen können.

Im Kern kritisieren dies auch die Gewerkschaften. So sieht etwa der DGB im Armutsbericht vor allem eine Aufforderung zum Handeln. Es ist dringend nötig, so Ursula Engelen-Kefer, dass Bund, Länder und Kommunen

Finanzierungsspielräume für neue Investitionen schaffen, um das Armutsrisiko nachhaltig zu bekämpfen.12 Diese Forderung kollidiert jedoch mit den finanziellen Auswirkungen der Steuergesetze, die im wachsenden Umfang zu Steuerausfällen führte: Nach Ausfällen von 37,7 Euro (2004) wird im Jahr 2005 mit einem Minus von 46,3 Mrd. Euro gerechnet13. Zur privaten Armut gesellte sich die öffentliche.

Die Gewerkschaft ver.di ist in ihrem Kommentar noch eindeutiger: "Der neue Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung ist ein Armutszeugnis rot-grüner Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die massiven steuerlichen Entlastungen für Unternehmen und Hochverdiener haben nicht dazu geführt, dass es zu mehr Investitionen und Arbeitsplätzen gekommen ist. Dafür gibt es mehr Arme und reichere Reiche."14 Diesem Votum ist kaum etwas hinzu zu fügen.


Anmerkungen

1) Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Nationale Armuts- und Reichtumsberichterstattung, BtDrs 14/999, S. 243

2) Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung vom 5.7.2001, BtDrs 14/6628, S. 251f.

3) www.bundesregierung.de/E-Magazin-Beitrag/-,413.803807/dokument.htm

4) Ebenda.

5) Ebenda.

6) Ebenda.

7) Ebenda.

8) Ebenda.

9) Bundesministerin Renate Schmidt, Pressemitteilung vom 1.3.2005 anlässlich des 2.Armuts- und Reichtumsberichts.

10) FAZ Sonntagszeitung, 18.7.2004, S.45.

11) BMF: Steuerentlastung - Deutschland bewegt sich! Berlin 2004.

12) Pressemitteilung vom 2.3.2005.

13) Eigene Berechnung nach BMF: Datensammlung zur Steuerpolitik 2004, S. 58.

14) Wirtschaftspolitische Informationen, Nr. 2/2005, März 2005.


Prof. Dr. Dieter Eißel ist am Institut für Politikwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen tätig. - Carmen Ludwig M.A. ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet am gleichen Institut der Gießener Universität im EU-Forschungsprojekt PROFIT.

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