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Klaus Holzkamp

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Genetik und psychologische Praxis

  
 

Forum Wissenschaft 4/2013; Foto: stm/Photocase

Die Suche nach den Genen für psychische Störungen ist mit dem Versprechen legitimiert worden, neue Behandlungsmöglichkeiten bereitzustellen. Doch gab es bislang weder eindeutige Gen-Funde noch wurden neue Therapieverfahren entwickelt. Vielmehr zeichnet sich ab, dass genetisches Wissen für die psychologische Praxis auch in Zukunft keine Rolle spielt. Die psychiatrische Genetik ventiliert hier nach wie vor überzogene Hoffnungen, wie Vanessa Lux kritisiert.

Psychische Störungen gelten als "genetisch" - zumindest bei denjenigen, die sich seit Jahren auf die Suche nach den Genen für Schizophrenie, Depression oder Angststörungen gemacht haben. Die Genomforschung sollte die "Krankheitsgene" finden helfen, um psychische Störungen besser behandeln oder sogar präventiv verhindern zu können. In Aussicht gestellt wurden eine effektivere Medikation, die Verringerung der Nebenwirkungen von Psychopharmaka und die diagnostische Anwendung von Gentests, sodass Risikoträger früh erkannt und therapeutisch behandelt werden könnten.

Erste Zeitungsmeldungen bestärkten diese Hoffnungen. Eine Zeit lang hagelte es Schlagzeilen, nach denen das Gen für "Alkoholismus", "Schizophrenie", "Depression" oder "ADHS" "gefunden", "identifiziert" oder "entdeckt" worden sei.1 Geht man von der medialen Darstellung aus, stand das Geheimnis des Psychischen um die letzte Jahrtausendwende kurz vor der Entschlüsselung. Psychologische Praktiker schienen dringendst dazu aufgerufen, sich dieses genetische Wissen anzueignen und bei ihren Behandlungsstrategien zu berücksichtigen.2

Doch die Berichterstattung zur Genomforschung hat sich geändert. Die Sicherheit der alten Tage ist neuen Unsicherheiten gewichen. Mittlerweile liest man, "›Das‹ Schizophrenie-Gen existiert […] nicht", und es gebe "[d]och kein ›Depressionsgen‹". Stattdessen heißt es: "Gene lernen aus Stress", "wir steuern die Gene, durch unseren Lebensstil" und "Die Gene sind kein Schicksal, sondern wunderbar wandelbar".3 Bereits 2000 äußerte sich Steven E. Hyman, damaliger Direktor des US-amerikanischen National Institute of Mental Health, des weltweit größten staatlichen Geldgebers für die Erforschung der genetischen Grundlagen des Psychischen: "Gone is the notion that there is a single gene that causes any mental disorder or determines any behavioural variant".4 Doch ging auch er weiter davon aus, dass die Aufklärung der genetischen Komponente psychischer Störungen bei deren Behandlung helfen und somit die klinische Praxis davon profitieren werde. Den widersprüchlichen Zeitungsmeldungen zu Gen-Funden stehen somit ungebrochen hoffnungsvolle Zukunftsszenarien von einer verbesserten Praxis gegenüber. Was steckt hinter diesem Wandel im Gen-Diskurs? Wie nehmen psychologische Praktiker diese Entwicklungen wahr? Welchen Anforderungen sehen sie sich gegenüber? Und welche Umgangsstrategien mit dem Gen-Diskurs praktizieren sie?

Das "Gen" löst sich auf

Der Wandel im medialen Gen-Diskurs gründet auf einem Wandel des Gen-Konzepts in der Genomforschung. Die Theorie vom Gen als monokausale Ursache für die Eigenschaften eines Organismus ist in die Krise geraten. Seit dem Ende des Humangenomprojekts wird immer deutlicher, dass sich aus der Sequenz der DNA nicht direkt ihre Funktionsweise und damit ihr Verhältnis zum Phänotyp ablesen lässt. Das von Francis Crick formulierte "zentrale Dogma der Molekularbiologie", die Annahme einer Entsprechung und monokausalen Beziehung von DNA, RNA und Proteinen, ist nicht mehr aufrecht zu erhalten. Das klassische Gen-Modell, nach dem ein Gen ein spezifischer, funktioneller DNA-Abschnitt ist, der ein bestimmtes phänotypisches Merkmal prägt, gilt als widerlegt. Beim Versuch der Funktionsbestimmung einzelner Abschnitte der DNA zeigte sich, dass die Interaktion zwischen den übrigen Zellelementen, zwischen einzelnen DNA-Sequenzen, der Zelloberfläche und dem unmittelbaren zellulären Umfeld für die Genexpression, also die phänotypische Wirkungsweise der DNA, von zentraler Bedeutung sind. Die moderne Genetik steht vor einem Paradox: Je mehr über die Beziehungen zwischen Genotyp und Phänotyp bekannt wird, umso undeutlicher werden sie.

Die beobachtbaren oder angenommenen Abläufe werden bislang durch unterschiedliche Gen-Modelle interpretiert, die unvermittelt nebeneinander stehen. Die Einheit aus DNA und Funktion, die das klassische Gen-Modell ausgemacht hat, wird aufgegeben. Das Gen, wie wir es kennen, ist im Begriff sich aufzulösen. Ein Beispiel hierfür ist das Gen-Modell einiger Forscher des ENCODE, eines der Nachfolgeprojekte des Humangenomprojekts, das auf die Funktionsaufschlüsselung der DNA zielt. Die ENCODE-Forscher geben das Charakteristikum des Gens als funktioneller Einheit auf. Das Gen wird auf einen spezifischen DNA-Ort reduziert.5 Dadurch werden sie dem Umstand gerecht, dass ein und dasselbe Gen unterschiedlichen biologischen Funktionen dienen kann. Demgegenüber gehen Klaus Scherrer, vom Institut Monod, und Jürgen Jost, vom MPI für Mathematik in den Naturwissenschaften den umgekehrten Schritt und stellen die funktionelle Einheit des Gens in den Mittelpunkt ihres Modells.6 Dafür müssen sie jedoch das Gen vollständig von einer eindeutigen Verortung auf der DNA ablösen. Ein Gen ist bei ihnen nur noch das funktionelle Molekül der Boten-RNA, das z.B. an der Synthese eines Proteins in der Zelle beteiligt ist. Hierfür entsteht es allerdings erst kurz bevor es gebraucht wird, unmittelbar an seinem Wirkungsort in der Zelle, und zerfällt danach gleich wieder. Die DNA ist in diesem Konzept nur noch ein Element unter vielen anderen, die in einem komplizierten Netzwerk von Wechselwirkungen das Gen erst hervorbringen.

Gemäß solchen komplexen Gen-Modellen ist es nicht möglich, die genetischen Faktoren zu identifizieren ohne die Faktoren zu kennen, die die Genexpression regulieren. Die Versuche zur Funktionsbestimmung einzelner DNA-Sequenzen haben eine enorme Komplexität der zellinternen Reaktionsketten, in die die DNA eingebunden ist, offen gelegt. Diese werden bereits von neuen biologischen Spezialdisziplinen wie der Epigenetik systematisch erforscht. In den Blick geraten sind dabei auch Umwelt- und kulturelle Faktoren, darunter Ernährung, Infektionen, Stress und traumatische Erlebnisse, und ihre Wirkung auf die Genexpression. Hier gibt es bereits erste Hinweise darauf, dass unsere Lebensumstände die Art und Weise, wie die DNA "abgelesen" wird, mit beeinflussen. Damit ist die Frage danach, ob ein Merkmal "ererbt" oder "erworben" ist, nun auch vonseiten der Molekularbiologie endgültig als falsch erklärt worden. Der ausbleibende Erfolg, die Gene des Menschen zu entschlüsseln, die deutlich gewordene Komplexität der molekulargenetischen Prozesse auf Zellebene und ihre Sensibilität gegenüber Umwelteinflüssen haben dazu geführt, dass die Genomforscher selbst den genetischen Determinismus infrage stellen.

Verschiebung im biologischen Determinismus

Doch ist mit der Aufkündigung dieser genetischen Variante des Determinismus der biologische Determinismus noch lange nicht obsolet. Nicht die molekulargenetischen Zellprozesse, sondern die neuronalen Verkopplungen stehen nun im Mittelpunkt einer biologisch-deterministischen Erklärung des Menschen, wie auch der gegenwärtige Boom der Neurowissenschaften zeigt. Zu beobachten ist eine Verschiebung der Ebenen, auf der die biologische Determination angenommen wird: weg von der genetischen hin auf die physiologische Ebene. Diese wird wiederum als Produkt einer genetischen Disposition plus Umweltfaktoren und Entwicklungsprozessen vorgestellt.

Defizitäre physiologische Strukturen können - im Gegensatz zu den Genen - durch Medikation, Ernährung, Lebensführung und Psychotherapie verändert werden. Anders als der genetische Determinismus ist dieser physiologische Determinismus damit anschlussfähig an Individualisierungsdiskurs, Fitnesshype und Aufforderungen zum Selbstmanagement. Durch Training, Ernährung, Medikation und Psychotechniken solle jeder das Beste aus der eigenen genetischen Disposition herausholen. Laut dem Humangenetiker Jörg Schmidtke ist die darin angelegte "Tendenz zur Individualisierung von Risiken und zu Entsolidarisierung" nicht nur "denkbar", sondern "z.T. auch schon spürbar". Allerdings verbindet auch er damit die "Hoffnung", dass die Kenntnis ihrer genetischen Disposition "von den Menschen in vorausschauender, angepasster Weise zur Erhaltung der Gesundheit genutzt wird".7

Diese veränderte Perspektive schlägt sich auch im Krankheitskonzept nieder. Das biologische Krankheitsmodell ist abgelöst worden. Derzeit dominiert das biospychosoziale Modell psychischer Störungen und zwar in Form von Vulnerabilitäts-Stress-Modellen, wie sie etwa von Joseph Zubin und Bonnie Spring Mitte der 1970er Jahre für Schizophrenie entwickelt wurden. Das aus der Psychiatrie stammende Krankheitsmodell wird mittlerweile auch für komplexe körperliche Erkrankungen etwa des Herz-Kreislauf-Systems, für Diabetes oder auch Krebs verwendet. Konnte bei Zubin und Spring Vulnerabilität auch durch Sozialisationsprozesse erworben werden, wurde das Konzept im Kontext der Genomforschung auf eine genetische Vulnerabilität verengt. Es ermöglicht, der fehlenden direkten Kausalität zwischen Genotyp und Phänotyp gerecht zu werden, ohne die Annahme von Krankheitsgenen aufgeben zu müssen. Die genetische Vulnerabilität fungiert dabei als "Platzhalter" bis zur endgültigen Aufklärung der Rolle der DNA in der Entstehung etwa einer psychischen Störung.

Die Vorstellung von einer Vulnerabilität trägt dabei einerseits dem Umstand Rechnung, dass der DNA nicht die alleinige Krankheitswirkung zugeschrieben werden kann: Die Rede von den Krankheitsursachen ist durch die Rede von Krankheitsrisiken ("risk factors") ersetzt worden. Andererseits ermöglicht das Konzept die implizite Fortsetzung auch des genetischen Determinismus, da Vulnerabilität grundsätzlich als eine Eigenschaft des Individuums ("trait") vorgestellt wird, die zwar nicht unveränderbar, aber äußerst stabil ist. Sie ist im Individuum verortet, endogen, und bleibt latent bestehen bis zur Aktivierung durch einen externen Stressor.

Die Auswirkungen der Gene bzw. "genetischen Risikofaktoren" auf den Phänotyp werden damit zwar nicht mehr als unbeeinflussbar gefasst, Biologie ist nicht mehr Schicksal. Dafür wird das Krankheitsmodell aber auch auf vorher nicht-genetische Erkrankungen und Leidenszustände ausgeweitet. Dadurch, dass die Gene nicht alleine die Ursache bilden, können Vulnerabilitäts-Stress-Modelle auch für so eindeutig durch gesellschaftliche Ereignisse verursachte psychische Krisensituationen wie das Trauma verwendet werden. Die psychosoziale Dimension wird aufgewertet. Gleichzeitig wird aber die Suche nach Genen auf alle psychischen Problemlagen ausgeweitet.

Der Genomforschung fehlt Praxisrelevanz8

Diese paradoxe Situation setzt psychologische Praktiker unter Druck. Einerseits herrscht der Eindruck, mehr über Einfluss und Wirkungsweise der Gene wissen zu müssen. Mindestens die nächste Generation von Praktikern müsse diese Dinge lernen, um den Anschluss nicht zu verlieren. Sonst werde "der Zug ohne sie abfahren", wie eine Psychiaterin eines Universitätsklinikums formuliert. Andererseits wird die in den Zukunftsszenarien betonte Praxisrelevanz des genetischen Wissens von Praktikern sehr skeptisch beurteilt. So formuliert eine in einem Großkrankenhaus tätige Psychiaterin: "Selbst wenn wir dazu heute in der Lage wären [die genetischen Faktoren zu bestimmen; V. L.], sehe ich noch nicht, wie das die Art und Weise ändern würde, wie wir Patienten behandeln". Und eine teilweise auch in der genetischen Forschung tätige Praktikerin erklärt: "In meiner klinischen Praxis nutze ich das genetische Wissen nicht wirklich."

Zwar ist die Idee, bei Vorliegen einer genetischen Disposition für eine psychische Störung frühzeitig durch Psychotherapie (z.B. für Familienangehörige von Betroffenen) oder Medikation (darunter z.B. auch die Gabe von Vitaminen und anderen Nährstoffen) im Sinne eines Gen-Managements zu intervenieren, durchaus präsent unter psychologischen Praktikern. Zumeist wird eine solche präventive Behandlung aber als nicht praktikabel und als unrealistisch angesehen. Die genetische Diagnostik sei nicht nur zu kostenintensiv, sondern auch in ihren Vorhersagen nicht präzise genug.

Angesichts der medialen Aufmerksamkeit, die Forschung zur Genetik psychischer Störungen erfährt, wäre zudem zu erwarten, dass Praktiker vonseiten ihrer Klienten mit Fragen zur Genetik der von ihnen erlebten psychischen Krisen konfrontiert seien. Dies ist nicht der Fall. Betroffene und Angehörige beziehen sich nur selten auf die Gene oder eine genetische Vulnerabilität als Ursache für ihren psychischen Zustand oder den ihrer Angehörigen. Auch nach genetischen Tests wird selten gefragt.

Ursache hierfür ist wahrscheinlich, dass die Praktiker meist schon bei der ersten Begegnung mit ihren Klienten gegen die Vorstellung einer biologischen Determination argumentieren. Selbst unter Psychiatern ist es üblich, im Erstgespräch psychische Störungen als nur zu einem Teil biologisch und immer auch psychosozial verursacht darzustellen. Dabei wird herausgehoben, dass auf beiden Ebenen interveniert werden könne: auf der biologischen Ebene durch Medikation und auf der psychosozialen Ebene durch Psychotherapie. Solche häufig am Anfang einer Behandlung stehenden Gespräche dienen aus Sicht der Praktiker dazu, vereinfachenden Informationen aus den Medien etwas entgegenzusetzen. Die Vorgehensweise lässt sich als weit verbreitete "Schiene" interpretieren, mit der Praktiker versuchen, gendeterministischen Sichtweisen entgegenzuwirken.

Es geht dabei nicht nur darum, die Veränderbarkeit des psychischen Leidenszustands zu betonen. Zugleich sollen die Betroffenen auch dazu bewegt werden, "Verantwortung für ihre Krankheit" zu übernehmen. Dies wird als wichtiger Schritt für die Entwicklung von Bewältigungsstrategien bewertet. Diese Verantwortungsargumentation ist aber durchaus ambivalent. Einerseits kann die Wiedergewinnung von Einfluss auf die problematisch gewordene Lebenssituation, die damit angesprochen ist, da sie möglicherweise zu einer Verbesserung der Situation führt, im Interesse der Betroffenen sein. Andererseits besteht hier die Gefahr der Individualisierung und Personalisierung: Bei Ausbleiben einer Besserung kann dieses als Resultat der mangelnden Verantwortungsübernahme den Betroffenen selbst in die Schuhe geschoben werden.

Andere Praktiker nutzen den Vergleich mit körperlichen Krankheiten, um die Annahme einer genetischen Determination zu relativieren. Sie wollen damit unterstreichen, dass Erkrankungen, die eine biologische Grundlage haben, dennoch behandelbar sind. Dabei thematisieren sie oft auch, dass "die Störung" nicht immer "geheilt" werden könne. Es gehe stattdessen darum, die Symptome so zu managen, dass ein tolerabler Zustand erreicht wird, mit dem die Person ihren Alltag bewältigen kann, ähnlich der Behandlung chronischer Schmerzen. Diese Relativierungsstrategie führt jedoch auch in die Irre. Im Gegensatz zu Krankheiten wie Diabetes, bei denen eindeutig ist, dass die gesundheitsbedrohenden Symptome durch einen Mangel an Insulin verursacht sind und dieser Mangel durch die Gabe von Insulin ausgeglichen werden kann, steht ein solcher Nachweis für den Bereich der psychischen Störungen weiterhin aus.

Schon weil die Interventionen der Praktikerinnen und Praktiker gerade darauf zielen, Veränderung zu initiieren oder zu unterstützen, müssen sie eine gendeterministische Sichtweise zurückweisen. Je nach professioneller Handlungsebene und institutionellem Kontext stehen medikamentöse, psychotherapeutische oder situationsbezogene Interventionen im Zentrum der Behandlungsstrategie - jedoch mit gleichem Anspruch auf Veränderbarkeit der psychischen Leidenssituation. Der klassische genetische Determinismus und das Motto "Biologie ist Schicksal" sind in der Praxis keine handlungsleitenden Prämissen.

Vulnerabilität als Ansatzpunkt für Diskriminierung?

Trotz ihrer deutlichen Zurückweisung der Praxisrelevanz genetischen Wissens gehen die Praktiker davon aus, dass sich gendeterministische Annahmen weiter verbreiten könnten. Befürchtet wird dabei, dass durch die Ergebnisse der Genomforschung die Diskriminierung von Menschen mit psychischen Störungen verschärft werden könnte. Die größte Gefahr wird allerdings nicht im Bereich der institutionellen Diskriminierung (z.B. bei Versicherungen oder im Bereich der Arbeit) gesehen, sondern in der Alltagsdiskriminierung.9 Für die Betroffenen wird die allgemeine Stigmatisierung psychischer Störungen, mit der sie in den unterschiedlichen Lebensbereichen bereits konfrontiert sind, voraussichtlich auch in Zukunft im Vordergrund stehen. Diese kann durch eine stärker biologische Interpretation jedoch verschärft werden.

Gerade die neueren Vorstellungen von genetischen Risikofaktoren und einer genetischen Vulnerabilität böten eine Angriffsfläche für Diskriminierung. Eine Psychiaterin eines Universitätsklinikums formulierte hierzu: "Ich habe diese nicht Angst, aber diese Ahnung, dass sich herausstellen wird, dass Schizophrenie eine Störung ist, bei der viele kleine Dinge nicht in Ordnung sind. Und daraus könnte jemand schließen, dass das schwächere Menschen sind. Das ist die Kehrseite davon. Einerseits kann man sagen, ›sie haben nicht genug Dopamin, ihre neuronalen Synapsen sind nicht ausreichend, ihre Glutamatwerte weichen ab‹; man kann es so sagen. Oder man kann sagen, ›die sind in der Summe nicht in Ordnung.‹ Ich befürchte also, dass, wenn wir nicht ein oder zwei oder drei oder vier große Sachen finden, die nicht stimmen, wie bei anderen Krankheiten, wenn wir sagen, psychische Krankheiten sind genau das - viele kleine Dinge -, dann könnten Leute zu diesem Schluss kommen. […] Sie werden letztlich zu ›Menschen zweiter Klasse‹."

Sogar in Zeiten, in denen die Genomforschung selbst den genetischen Determinismus zurückweist und auf der Suche nach neuen Konzepten ist, hat eine biologisch-deterministische Erklärung des Menschen und die an ihr ansetzende Diskriminierung potenziell weiter Konjunktur. Umso wichtiger ist es, überzogenen Hoffnungen auf eine durch genetisches Wissen verbesserte Behandlung psychischer Leidenszustände, wie sie in verschiedenen Zukunftsszenarien, in den Medien und der Populärkultur immer noch kolportiert werden, etwas entgegenzusetzen.

Anmerkungen

1 Siehe z.B. Ulrich Dewald 2001 (16. Oktober): "Anti-Alkoholismus-Gen entdeckt", in: wissenschaft.de. Verfügbar unter: www.wissenschaft.de/wissenschaft/news/drucken/151741.html[29.7.2010].; o.V. 2005 (01. Februar): "Schizophrenie-Gen identifiziert: Veränderungen im Dopamin-Rezeptor-Gen beeinflussen Gehirnstoffwechsel", in: scinexx. Das Wissensmagazin. Verfügbar unter: www.scinexx.de/wissen-aktuell-2316-2005-02-01.html [29.7.2010]; Oliver Creutz & Wolfgang W. Merkel 2007 (16. April): "Zappelphilipp - die Gene sind schuld", in: Welt Online. Verfügbar unter: www.welt.de/wissenschaft/article812024/Zappelphilipp_die_Gene_sind_schuld.html [29.7.2010]; oder mit rassistischer Konnotation: Wolfgang Weitlaner 2002 (17. September): "Gen für Alkoholismus gefunden: Kaukasier sind trinkfreudiger als Juden", in: innovations-report. Verfügbar unter: www.innovations-report.de/html/berichte/studien/bericht-12930.html [29.7.2010].

2 Siehe Bernhard Scholten 2004: "Die Ergebnisse der Humangenetik - eine Herausforderung an die klinische Psychologie", in: Ders. (Hg.): Gentherapie statt Psychotherapie? Kein Abschied vom Sozialen!, Tübingen: 9-26; E. V. Lapham, C. Kozma, J. O. Weiss, J. L. Benkendorf & M. A. Wilson 2000: Genetics in Medicine, 2 (4): 226-231.

3 Der Reihe nach zitiert aus: H. Wewetzer 2009 (02. Juli): "Schizophrene Gene", in: Zeit Online. Verfügbar unter: www.zeit.de/online/2009/27/schizophrenie-erbgut[29.7.2010]; o. V. 2009 (01. Juli): "Doch kein ›Depressionsgen‹: Genstudien bei komplexen Erkrankungen wenig aussagekräftig", in: NZZ Online. Verfügbar unter: www.nzz.ch/nachrichten/forschung_ und_technik/doch_kein_depressionsgen_1.2865421.html [29.7.2010]; B. Abrell 2009 (09. November): "Gene lernen aus Stress - Frühgeburtliche Traumata haben lebenslange Wirkung auf Gedächtnisleistung, Emotion und Antrieb", in: Innovations- report. Verfügbar unter: www.innovations-report.de/html/berichte/biowissenschaften_chemie/gene_lernen_stress_fruehgeburtliche_traumata_haben_143114.html [29.7.2010]; Jörg Blech 2010 (09. August): "Das Gedächtnis des Körpers", in: Der Spiegel, Nr. 32: 110-121.

4 S. E. Hyman 2000: "The genetics of mental illness: implications for practice", in: Bulletin of the World Health Organization, 78 (4): 455-463, hier: 455 u. 460.

5 M. B. Gerstein, C. Bruce, J. S. Rozowsky D. Zheng, J. Du, J. O. Korbel et al. 2007: "What is a gene, post-ENCODE? History and updated definition", in: Genome Research,17 (6): 669-681.

6 K. Scherrer & J. Jost 2007: "Gene and genon concept: Coding versus regulation. A conceptual and information-theoretic analysis of genetic storage and expression in the light of modern molecular biology", in: Theory in Biosciences, 126 (2-3): 65-113.

7 Jörg Schmidtke 2004: "Die Konsequenzen des Humangenomprojekts für die Medizin", in: Bernhard Scholten (Hg.): Gentherapie statt Psychotherapie? Kein Abschied vom Sozialen!, Tübingen: 39-55, hier: 54 u. 48.

8 Die in diesem und im folgenden Abschnitt wiedergegebenen Einschätzungen und verwendeten Zitate entstammen einer Expertenbefragung von Praktikern aus der psychosozialen Arbeit, die ich im Rahmen meines Dissertationsprojekts durchgeführt habe. Eine ausführliche Darstellung der Ergebnisse findet sich in: Vanessa Lux 2012: Genetik und psychologische Praxis, Wiesbaden.

9 Von Einzelnen wurde auch ein Zusammenhang von alltäglichen Denkweisen und Formen institutioneller Diskriminierung thematisiert.

Vanessa Lux, Dr. phil., Dipl.-Psych., promovierte an der Freien Universität Berlin zur Bedeutung der modernen Genetik für die psychologische Praxis. Sie ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin und arbeitet derzeit zur Bedeutung der Epigenetik für die Entwicklungspsychologie und das psychologische Traumakonzept (Kontakt: vanessa.lux@fu-berlin.de).

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