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Klaus Holzkamp

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Mittel des Widerstands

15.06.2007: Die Aneignung von Kunst für und bei Peter Weiss

  
 

Forum Wissenschaft 2/2007; Foto: Reinhard Keller

Selten, wenn überhaupt je, hat ein literarisches Werk sich so grundsätzlich mit der Arbeiterbewegung, mit sozialen Bewegungen und Kämpfen, und zugleich mit einzelnen Menschen in ihnen, ihren Ansprüchen und Widersprüchen auseinandergesetzt, ohne sie dabei zu verraten oder selbst missbrauchbar zu werden. Peter Weiss’ Werk, seine individuelle wie gesellschaftliche Entstehungsgeschichte, die Bedeutung von Kunst für Weiss selbst und für Heutige rekapituliert Armin Bernhard.1



Im faschistischen Kerker schrieb der italienische Kommunist Antonio Gramsci 1930 über die Krisenerscheinungen einer Zeit, in der „das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann“. Dieser geschichtliche Spannungszustand hat sich im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts verschärft, in dessen Kontext Neuanfänge degenerierten oder im Keim erstickt wurden. Der real existierende Sozialismus ist zusammengebrochen; die herrschenden Klassen in den kapitalistischen Industriegesellschaften erklären die eigene Gesellschaftsform zum allein vernünftigen Zukunftsmodell; die Auswirkungen dieser Gesellschaftsform lassen sich schon jetzt als katastrophal bezeichnen.

Leben unter Bedingungen wachsender Entfremdung und gesellschaftlicher Vereinzelung sowie alpdruckartig wiederkehrender Regressionen in den Emanzipationsversuchen der Unterworfenen war das Grundthema des Künstlers und Sozialisten Peter Weiss, der am 10. Mai 1982 in Stockholm starb. Seine Entwicklungsgeschichte verkörpert die umgetriebene Existenz, die Fragen und die Erarbeitung von Antworten des denkenden und widerstehenden Menschen im Kapitalismus des 20. Jahrhunderts. Wie können wir unsere Identität durchhalten angesichts der von Menschenhand produzierten, riesigen Gefahren, der gewaltigen Übermacht der „zerstörerischen Kräfte“ der Gesellschaft? Was gibt uns Halt in den profit- und konkurrenzgetriebenen Stromschnellen, in denen der Stärkere überlebt, während – so Weiss – „die Keime von Hoffnung, Liebe, Wärme und Zuversicht“ in „gigantischer Verschwendung“ abzusterben drohen? Auf welche Weise können wir das in uns vorhandene utopische Potenzial gegen die permanente Enthumanisierung der gesellschaftlichen Beziehungen erhalten, um sie in neue Befreiungsversuche hinüberzuretten? Welche Bedeutung kommt in diesem Vorgang der Aneignung von Kunstwerken zu? Diese Fragestellungen durchdringen die Lebensgeschichte von Peter Weiss. In der Romantrilogie „Die Ästhetik des Widerstands“ erreichen sie den Höhepunkt kompromisslos vorangetriebener Reflexion. Weiss’ Werk richtet sich an alle, die die Welt nicht so akzeptieren wollen, wie sie ist. Es sagt all jenen den Kampf an, die uns weismachen wollen, dass die Welt notwendig so ist, wie sie ist.

Eine Sozialisation in Brüchen

Peter Weiss’ Grundsituation ist das Herausgesprengtsein aus allen nationalen Zusammenhängen und traditionalen sozialen Strukturen. Das durch den Faschismus erzwungene Exil wird nach vielen Jahren rastloser Umgetriebenheit zu einer neuen Form von „Heimat“ in Gestalt des Internationalismus.

Am 8. November 1916 wird Peter Weiss in Nowawes bei Berlin geboren; wenig später nach Bremen verzogen, lebt die Familie ab 1929 wieder in Berlin. Starke soziale Beziehungslosigkeit in der Familie drängt Peter Weiss früh in eine Welt der Phantasie. In früher literarischer Tätigkeit tritt hervor, was später auch die „Ästhetik des Widerstands“ zeigen wird: Produktion und Aneignung von Kunst dienen der Bewältigung elementarer Bedrohtheitsgefühle. Kunst, vor allem Malerei, ist ihm zunächst ein Mittel individueller Selbsttherapie gegen die Zwänge des bürgerlichen Familienlebens und destruktive zeitgeschichtliche Entwicklungen. Seine künstlerische Entwicklung setzt er im Widerstreit mit den Eltern durch. Seine Bilder aus den dreißiger Jahren sind daher oft von düsteren Visionen und Melancholie gezeichnet. Weiss versucht, der Welt Antworten auf fundamentale Fragen seiner persönlichen Existenz abzuringen.

Die Etablierung des Faschismus in Deutschland verändert schlagartig die Ausgangsbedingungen der politischen und künstlerischen Entwicklung Peter Weiss’. Der Vater, der jüdischer Abstammung ist, plant die Auswanderung. Hinzu kommt 1934, kurz vor der Emigration nach England, als weiteres traumatisches Ereignis der Tod der Schwester Margit Beatrice, zu der Peter Weiss ein sehr enges Verhältnis hatte, bei einem Verkehrsunfall. Dies alles erhöht den Drang, sich einerseits aus Familienverhältnissen zu befreien, andererseits die Trauer durch Konzentration auf Freisetzung der künstlerischen Produktivität zu überwinden. Zunächst emigriert die Familie nach England, kurze Zeit später in die Tschechoslowakei. Von dort flieht sie 1938 vor der faschistischen Bedrohung nach Schweden.

Schmerzhafte Entwurzelung kennzeichnet eine Entwicklungslinie des Exilanten, der sich aus allen Begrenzungen und Bornierungen „nationalen Denkens“ befreit und auf einen konsequenten Internationalismus zubewegt. Sein Leben lang bleibt das Verhältnis zu Deutschland ein „gestörtes“: „lch war nie Deutscher“, betont Weiss später immer wieder. Von 1936 bis 1938 studiert er an der Kunstakademie in Prag; dann besetzt die deutsche Wehrmacht das Sudetenland. 1939 folgt Peter Weiss seinen Eltern nach Schweden. Ein Großteil des malerischen Frühwerks wird im Zuge der Flucht aus der Tschechoslowakei zerstört.

Kunst wird zum identitätsstiftenden Refugium des jungen Weiss; in der „inneren Emigration der Emigration“ bleibt sie ihm als Mittel zur Selbstfindung. In den vierziger Jahren konzentriert er seine künstlerische Tätigkeit noch auf die Malerei. Distanziert gegenüber der deutschen Sprache, aber noch nicht heimisch im Schwedischen, ist es vorerst nicht möglich, das literarische Schaffensvermögen zu entfalten; 1978 notiert er seine „Verstoßung aus der Sprache“. Anfang der fünfziger Jahre versucht er als Filmemacher zu arbeiten, scheitert jedoch darin, über Filmexperimente zu neuen Ausdrucksmöglichkeiten zu gelangen. Auch die Versuche, in schwedischer Sprache zu schreiben und damit im einheimischen Literaturbetrieb Fuß zu fassen, misslingen. Schließlich bleibt Weiss keine andere Alternative als die allmähliche „Rückeroberung“ der deutschen Sprache, gegen deren Anwendung der Exilant erhebliche Widerstände aufgebaut hat, weil sie untrennbar mit den Untaten des faschistischen Deutschland verknüpft bleibt. Die Sprache, die Weiss von nun an für seine literarischen Arbeiten zurückgewinnt und neu entwickelt, ist nicht an Alltagspraxis oder Nationalismen gebunden; sie vollzieht sich „außerhalb aller regionalen und nationalen Verknüpfungen“. Mit dem Schreiben beschleunigt sich Weiss’ politischer Bewusstseinsbildungsprozess, vermittels der literarischen Produktionstätigkeit treibt er die Klärung seiner politisch-philosophischen Positionen voran, vertieft seine Einblicke in das gesellschaftlich-historische Geschehen. Zunächst Mittel der Selbsttherapie, um sich gegen eine entwicklungsfeindliche Umwelt zu behaupten, gerät Kunst ihm nun zum Experimentierfeld der Wahrheitssuche, der Reflexion weltanschaulicher Sichtweisen, zur Ausforschung der humanen und humanistischen Potenzen von Individuum und Gesellschaft in ihrer dialektischen Wechselwirkung.

Wirklichkeit und Kunst

1947 reist Peter Weiss nach Berlin, um für eine schwedische Zeitung über die Situation im verwüsteten Nachkriegsdeutschland zu berichten. Die Eindrücke schlagen sich in dem zunächst nur in Schwedisch erschienenen Buch „Die Besiegten“ nieder, einem zeitgeschichtlichen Dokument über die geistig-mentale Gesamtlage der Deutschen nach der äußeren Befreiung vom Faschismus. Dieses Buch zeigt die noch in einem embryonalen Stadium befindliche Faschismustheorie Weiss’ an. Später wird er gesellschaftliche Strukturen in ihrer Wechselwirkung mit sozialpsychischen Prozessen als Verursachungszusammenhänge des Faschismus sowie die engen Beziehungen zwischen Kapitalismus und faschistischer Herrschaftsform herausarbeiten.

Ab Mitte der sechziger Jahre beginnt er eine bloß subjektivistische Auffassung von Leben und Kunst zugunsten einer Entdeckung der Gesellschaft zu überwinden. Dies politisiert die Lebenseinstellungen des Schriftstellers und Stückeschreibers enorm. Weiss entdeckt die Gesellschaft als konstitutiven Bezugsrahmen jeder Subjektwerdung und Selbstfindung, ein Aspekt, der in seinen frühen autobiographischen Entwicklungsromanen „Abschied von den Eltern“ (1961) und „Fluchtpunkt“ (1962) noch nicht zum Tragen gekommen war. Das Verhältnis von Geschichte und Subjektivität fließt von nun an in alle seine künstlerischen Erzeugnisse ein. Die Beziehungen von Individuum und Gesellschaft, Politik und Subjektivität, gesellschaftlichen Kräften und den Entwicklungsgeschichten der sie konstituierenden Menschen, treten in den Vordergrund und verdrängen die subjektivistische Grundlage des frühen Schaffensprozesses. Existieren, wie Weiss’ langjähriger Freund Robert Jungk formulierte, im „halbhellen Traumasyl“ des jungen Malers noch keine Kristallisationspunkte einer Politisierung, so ist nun eine Basis für die Weiterentwicklung der Persönlichkeit geschaffen. Die Bearbeitung der eigenen persönlichen Zwänge und Ängste macht ihn frei für politisches Engagement und die Entwicklung einer politischen Ästhetik: „In dem Maße, in dem ich meine eigene Entwicklungsfähigkeit erkenne“, schreibt Weiss 1965, „sehe ich auch die Veränderungsfähigkeit der Außenwelt.“ Dieser Entwicklungsweg führt ihn zunächst über die Produktion und Rezeption von Kunst zur Ausformung seiner politischen Anschauungen.

Ein radikaldemokratischer, antiautoritärer Sozialismus der Selbstverwaltung wird für Weiss’ politisches Engagement maßgebend. Seit Ende der 1960er Jahre Mitglied der schwedischen Linkspartei-Kommunisten, beschränkt er seine politische Tätigkeit nicht auf seine Parteimitgliedschaft. In Orientierung an Gramsci geht es ihm um die Herstellung großer demokratischer „Blockbildungen“ unzufriedener Menschengruppen, die menschen- und lebensfeindlichen Projekten entschlossenen Widerstand entgegensetzen. Ohne die Praxis in den Ländern des real existierenden Sozialismus zu beschönigen – in der DDR ist er zeitweise persona non grata – und die Regressionen im Befreiungskampf unterdrückter Völker zu ignorieren, geht die grundlegende Kritik Weiss’ an die Adresse des Kapitalismus: „der Imperialismus ist die höchste Form der Brutalität.“ Sozialistische Entwicklungsversuche und nationale Befreiungskämpfe in der sogenannten „Dritten Welt“ konnten sich nie frei vom Druck der kapitalistischen Industriegesellschaften entfalten. Unter den Bedingungen wachsender atomarer Aufrüstung muss sich der geschichtliche Block der Opposition auch gegen die „bewaffneten Führungsgruppen“ in Ost und West formieren. Wirkliche Veränderungen können nicht von oben dekretiert, sondern müssen von unten, von den Massen der Bevölkerungen, initiiert werden, wenn sie von Bestand bleiben sollen. In der Friedens-, Ökologie- und Frauenbewegung sieht Peter Weiss nonkonformistische Tendenzen im Entstehen begriffen, die für einen demokratischen Block gegen die „Kräfte der Zerstörung“ konstitutiv sind. In diesem Zusammenhang gebraucht er in einem seiner letzten Briefe 1982 den Begriff der „Vierten Welt“, „die sich allem Fertigen, Festgelegten, Institutionalisierten entzieht, und in der wir das Entstehen von etwas Neuem ahnen können, von neuen Verständigungsformen, neuen Ausdrucksmitteln, auch wenn wir noch nicht imstande sind, deren Zeichen zu deuten.“ Es geht zentral um die von unten zu entfesselnde Selbstbefreiung der Bevölkerungen aus dem „Todesgriff einiger Verrückter“, um Widerstand „gegen die erstarrten politischen Formen, die Parteihierarchien, den Dogmatismus, das Machtprotzen der Elite.“ Die Blockbildungen der Widerstandsbewegung, die Weiss sich vorstellt, haben keine nationale Grundlage mehr; sie sind internationalistisch zu organisieren, da Unterdrückung und Ausbeutung weltweit von denselben Mächten ausgeführt werden. Weiss’ „Vierte Welt“-Vorstellung klingt wie eine Vorwegnahme der globalisierungskritischen Bewegungen.

Im „Marat/Sade“-Stück (1964) lässt Weiss das Votum für revolutionäre soziale Veränderung (Marat) mit radikalem Individualismus (Sade) zusammenprallen. Gleichzeitig formuliert dieses Stück ein für politisch-pädagogische Bildung fundamentales Problem: Wer nicht in der Lage ist, die „Gefängnisse des Inneren“ (Sade) zu öffnen, wird keine erfolgreiche gesellschaftsverändernde Praxis aufbauen können. Das 1965 uraufgeführte Oratorium „Die Ermittlung“, das ausgewähltes dokumentarisches Material aus dem Frankfurter Auschwitz-Prozess verarbeitet, stellt die Beziehung zwischen den faschistischen Todesfabriken und der kapitalistischen Wirtschaftsorganisation her. Die Agitprop-Produktion „Gesang vom Lusitanischen Popanz“ zum portugiesischen Kolonialismus in Afrika (1967), der „Vietnam-Diskurs“ (1968) sind parteilich-dokumentarisches Theater, das sich als Modell politischer Gegenaufklärung zu den Verschleierungsstrategien der bürgerlichen Massenmedien versteht und darauf zielt, die Vorgänge der Wirklichkeit transparent zu machen. 1970 erscheint das Drama „Trotzki im Exil“, das die blinden Flecke in der Geschichtsauffassung des real existierenden Sozialismus und der organisierten Arbeiterbewegung sichtbar zu machen sucht. Es enthält wesentliche Grundgedanken der „Ästhetik des Widerstands“: die Zusammengehörigkeit von sozialer und kultureller Revolution, das Eintreten für ein Bündnis von Kunst und Politik, die Einsicht in die Komplexität gesellschaftsverändernder Aktion.

Ästhetische Geschichtsschreibung

Peter Weiss’ literarisches Hauptwerk, die Romantrilogie „Die Ästhetik des Widerstands“, konzentriert die kulturellen, ästhetischen und politischen Erfahrungen, die sich in der Entwicklungsgeschichte des Künstlers in der Auseinandersetzung mit der ihn umgebenden Welt verdichtet haben. „Die Ästhetik des Widerstands“ beschäftigt sich auf den ersten Blick mit dem Ablauf und dem Scheitern des sozialistischen Widerstands gegen den Faschismus. Der Roman umfasst die Jahre 1937 bis 1945. Seine Erzählstruktur nimmt die Dialektik von äußeren geschichtlichen Verläufen und inneren Triebkräften und Entwicklungsbedingungen des Widerstands auf. Der Ich-Erzähler referiert und reflektiert, präsentiert und artikuliert die Entwicklungsgeschichte der Arbeiterbewegung in ihren Fortschritten und Regressionen, in ihren emanzipatorischen Intentionen und faktischen Bornierungen, in ihrer gesamten Spannbreite zwischen fruchtbarer Dialektik und stationärem Dogmatismus. Vor dem Pergamonfries in Berlin beginnt die Romanhandlung mit einem Diskurs der drei Widerstandskämpfer Horst Heilmann, Hans Coppi und dem Ich-Erzähler über die in diesem antiken Kunstwerk dargestellten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Danach führt die Handlung in den spanischen Bürgerkrieg, wo das Arbeiter-Ich in einem Rekonvaleszenzheim der Internationalen Brigaden arbeitet. Nach deren Auflösung reist die Ich-Figur über Paris nach Schweden, erlebt das Münchener Abkommen, den faschistischen Überfall auf die Tschechoslowakei, den Hitler-Stalin-Pakt und letztlich den Zusammenbruch des organisierten Widerstands gegen den Faschismus in Deutschland. Stets werden die Lesenden hierbei konfrontiert mit dem Gegensatz zwischen einer Utopie der Einheit einer geschichtlichen Blockbildung gegen die nationalistischen und faschistischen Kräfte und dem tatsächlichen Versagen der Arbeiterbewegung vor der faschistischen Bedrohung.

Nur bei oberflächlicher Betrachtung mag „Die Ästhetik des Widerstands“ als ein Roman erscheinen, der sich mit einer abgeschlossenen historischen Epoche auseinandersetzt. Dies ist eine wesentliche Sinnschicht, wenngleich nicht die entscheidende. Den Marxisten Weiss interessiert an der Vergangenheit die Beziehung von deren konstitutiven Prinzipien und Strukturen für die Gegenwart und Zukunft. Es geht ihm nicht um eine antiquarische, museale Umgangsweise mit Geschichte, sondern darum, die historischen Vorgänge in ihrer aktualen Wirksamkeit und Fortdauer aufzubereiten. Die Ereignisse in der „Ästhetik des Widerstands“ stellen „eine Parallele zum ganzen Bewusstseinsprozess dar, wie er sich heute weiterhin abspielt.“ Ging es im Faschismus um einen Kampf gegen die äußere Repression, so muss der Widerstand heute die Erziehung und Bildung gegen die „innere Unterdrückung“ einschließen, wie sie durch die „industriell-kulturelle Herrschaft“ auf subtilem Wege organisiert wird. Weiss erschließt so einen Einblick in die Bildungsgeschichte der Arbeiterbewegung, wie er keiner Historiographie gelingen kann. Denn anders als Geschichtswissenschaft dringt Kunst als ästhetische Geschichtsschreibung zu tabuisierten, ausgeblendeten, begrifflich nicht zugänglichen Regionen des gesellschaftlichen Daseins vor, macht die unterirdische Geschichte transparent, ermöglicht den Nachvollzug des Fühlens und Denkens, eines Leidens und Hoffens der handelnden Akteurinnen und Akteure. Diese ästhetische Geschichtsschreibung macht Atavismen kenntlich, die auch heute noch die Praxis emanzipatorischer Bewegungen durchdringen, Atavismen, die ins Bewusstsein eingeholt werden müssen, um sie im Interesse an einer emanzipatorischen Handlungsfähigkeit auflösen zu können. So wird die Aufbereitung der Kultur des Widerstands und darin der Bildungsgeschichte der Arbeiterbewegung zum Reflexionsmodell unseres eigenen Entwicklungsganges und Bildungsprozesses in emanzipatorischen Bewegungen.

Weiss’ Roman führt uns mitten durch die „Epoche der Ambivalenz“, eine geschichtliche Epoche, die auch heute noch nicht abgeschlossen ist. Die „Ästhetik des Widerstands“ konfrontiert uns mit einer Bildungsgeschichte, einem „Massenschicksal“ unter den Bedingungen der Ambivalenz. Unter „Epoche der Ambivalenz“ versteht Weiss eine geschichtliche Phase, in der die Suche nach historischer Wahrheit unter den Voraussetzungen stärkster ideologischer Entstellungen der Wirklichkeit und intellektuell-emotionaler Verunsicherungen organisiert werden muss. Der Roman verknüpft die Subjektentwicklung einzelner Personen mit den entscheidenden historischen Ereignissen dieser Epoche. Die Figuren erleben die Preisgabe der Spanischen Republik, die Moskauer Prozesse, den Hitler-Stalin-Pakt usw. Sie sind gezwungen, diese Ereignisse für sich auszudeuten, zu einer Bewertung der geschichtlichen Entwicklungen zu kommen, sie emotional und intellektuell zu verarbeiten. Eine abschließende, zufriedenstellende, endgültige Beurteilung der auf sie eindringenden Ereignisse ist vorerst jedoch nicht möglich. Denn einerseits wird der politische Bildungsgang der Widerstehenden behindert durch die Verfälschungen der bürgerlichen Propaganda. Andererseits erschweren die ideologischen Verhärtungen in und zwischen den Arbeiterorganisationen und -parteien die emanzipative Selbstfindung. Die Zwiespältigkeit im Bildungsprozess der Widerstehenden wird erzeugt durch die Gegensätze, die in den Reihen sozialistischen Widerstands aufeinanderprallen. Einerseits erfordert der Kampf gegen den Faschismus unbedingte Loyalität gegenüber der eigenen Allianz. Andererseits ist radikale Kritik der eigenen Praxis eine nicht hintergehbare Voraussetzung der Verhinderung totalitärer und autoritärer Tendenzen in der Arbeiterbewegung selbst. In dieser äußerst prekären Grundsituation befinden sich die Subjekte der Romanhandlung: Sie müssen die Wahrheit finden – und bei diesem Versuch zwangsläufig scheitern. Diese ambivalente Struktur lastet wie ein Alptraum auf den Widerstehenden, bewirkt ihre innere Zerrissenheit und bedroht beständig ihre Identität.

Kunst als Element des Lernens

Dass es ihnen dennoch möglich wird, ihre Situation zu deuten, ihre eigene Rolle im Weltgeschehen zu reflektieren und zu bestimmen sowie die eigenen Handlungsperspektiven zu ermitteln, hat zur Grundlage, dass das Zwiespältige in ihrem Erleben und in ihren Erfahrungen nicht geleugnet, sondern in den Interpretationsvorgang selbst einbezogen wird. Es geht um einen politischen Bildungsgang, in dem das Subjekt „alles in Zweifel setzt und trotzdem nie eine Sache verrät, aber durch seine Zweifel auch immer in Konflikt mit allen Seiten gerät.“ Werden die Zweifel, das Zwiespältige, die Widersprüche ignoriert, dann vermögen die Individuen nicht, zur Wahrheit vorzudringen; in der Konsequenz reproduzieren sie den Atavismus und die autoritären Muster in der eigenen Allianz. Wo starke Widersprüche, gegensätzliche Anforderungen, doppelwertige Gefühlssituationen auf die Subjekte freigesetzt werden, können Antworten nur „im Bewusstsein der Ambivalenz“ gefunden werden. Mit diesem Verständnis von gesellschaftlicher Bewusstseinsbildung hat Peter Weiss in der „Ästhetik des Widerstands“ einen bedeutenden Beitrag zur Konzeptualisierung einer politischen Bildung geleistet, die die Eingleisigkeit und Starrheit und damit die Wirkungslosigkeit vieler politischer Bildungsmodelle aufzulösen in der Lage sein könnte.

Der Kern der Romantrilogie bezieht sich neben diesem „Lehrgang“ in dialektischem politischem Lernen auf die edukativen, bildenden und politisierenden Momente von Kunst. Erziehungs- und Bildungsgehalte kultureller Traditionsbestände meinen diejenigen Momente von Gegenständen, die für die aktuale Subjektentwicklung der Menschen wirksam sein können. „Die Ästhetik des Widerstands“ hebt künstlerische Produktionen als zentrale Kristallisationspunkte des kulturellen Lern- und Bildungsganges der Romanfiguren hervor. Die Entstehungszeiten der behandelten Kunstwerke reichen von antiken Gesellschaften bis zur modernen bürgerlichen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts: Pergamonaltar, Dantes „Divina Commedia“, Géricaults „Floß der Medusa“, Picassos „Guernica“, Goyas „Erschießung der Aufständischen vor Madrid“, Dürers „Melancolia“, um nur einige wenige zu nennen.

Peter Weiss schreibt der Kunst eine wesentliche Bedeutung im Kontext einer emanzipativen Subjektentwicklung im kulturellen Selbstentfaltungsmodell der „Ästhetik des Widerstands“ zu. Kunst enthält Orientierungen, die die menschlichen kreativen Kräfte in ihrer Gesamtheit beanspruchen. Sie folgt nicht der Logik einer entfremdeten Alltagspraxis, muss sich nicht auf die normierten Rezeptionsmuster einlassen, die die Gesellschaft kultiviert. Kunst durchbricht herkömmliche Aneignungsformen, wälzt – oftmals schockhaft – tradierte Wahrnehmungsweisen um, schreckt uns auf aus dem gewohnten Gang des Alltagslebens. Sie setzt nicht nur partielle Anteile des menschlichen Subjekts in Bewegung, sondern seine gesamte Sinnlichkeit, seine emotionalen Schichten, sein Denken. Kunstwerke provozieren die Umstellung unserer Wahrnehmung und die Deutung des in ihnen Dargestellten. Kreativität und Produktivität werden herausgefordert im Unterschied zu formalisierten Lernprozessen. Kunst wirkt der Aushöhlung der Phantasie entgegen, sie speichert das utopische Potenzial vergangener Generationen. Wirkliche Kunstwerke aus der Sicht von Weiss zeichnen sich durch Tiefenschärfe, Mehrschichtigkeit und Vieldeutigkeit aus, sie leuchten Regionen des Daseins aus, die dem begrifflich-diskursiven Denken verborgen bleiben. Sie dringen „bis in die Tiefen der Menschheitsgeschichte und des menschlichen Charakters“ vor, vermitteln uns einen anderen Zugang zu Geschichte als „erteilter Geschichtsunterricht“ (Brecht, ÄdW 2, S.230). Die Kunstwerke, die Weiss für seinen Roman ausgewählt hat, enthalten subversive Erinnerungsanteile: Erinnerung an die unabgegoltene Leidensgeschichte der Menschen, die Gewaltförmigkeit der historischen Entwicklung, die skandalösen Unterschlagungen bürgerlicher Geschichtsschreibung. Die politischen Bildungswirkungen ergeben sich in der „Ästhetik des Widerstands“ nicht direkt über die in Kunstwerken liegenden politischen Inhalte. Politisch relevant werden ästhetische Produktionen dann, wenn sie in den Subjekten Wahrnehmungsweisen und Bewusstseinsformen verändern und diese damit zu neuen Einsichten befähigt haben. Ästhetische Erziehung und politische Bildung sind hier untrennbar miteinander verknüpft.

Inszeniert wird das Geschehen zwischen Kunstwerk und aneignenden Subjekten als ein schöpferischer Bildungsprozess. Der Diskurs der drei Widerstandskämpfer vor dem Pergamonfries führt einen ästhetisch-politischen Bildungsgang modellhaft vor. Keine kontemplative Betrachtung wie in der traditionellen Kulturarbeit kennzeichnet den Aneignungsprozess; vielmehr müssen wir, wie Hans Coppi formuliert, die Kunst „gegen den Strich behandeln“ (ÄdW 1, S.41). Zwar analysieren die im Widerstand Kämpfenden die historische Bedeutung und die ideologische Funktion dieses antiken Monuments für die damalige Situation: Sie versuchen, seine Wirkungsweise nachzuerleben und nachzuvollziehen. Aber die kreative Schicht des von Weiss angelegten Aneignungs- und Lernprozesses besteht primär darin, den künstlerischen Gegenstand in Beziehung zur eigenen Lebenssituation zu setzen, ihn auf seine aktuelle Relevanz für die geschichtliche Situation, in der die drei Lernenden stehen, zu befragen. Kunstwerke erhalten für uns und für unsere Situation nur dann einen Sinn, wenn wir sie mit unseren Erfahrungen und Entwicklungspotenzialen anreichern und so zu neuen (politischen) Erkenntnissen gelangen. Der Pergamonfries ist so für die aneignenden Individuen kein toter Gegenstand, vielmehr fordert er sie zur Klärung ihres Selbstverständnisses, zu aktiven Antworten auf die politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen ihrer Epoche heraus. Er wird wiederbelebt im Vollzug seiner aktiven, kreativen Rezeption und Interpretation durch die Selbstentwicklungskräfte der aneignenden Subjekte. Im Lernvorgang im Pergamon-Museum wird der Bruch mit traditionaler Bildung konkretisiert: Indem wir uns nicht damit begnügen, den geschichtlichen Sinn eines Kunstwerks zu identifizieren, sondern mit seiner Hilfe unsere Gegenwart durchdringen, werten wir den ursprünglichen Charakter des antiken Monuments um und sind in die Lage versetzt, eine produktive „Umkehrung“ einzuleiten. Der Pergamonaltar bleibt nicht länger Dekoration der Stärke eines Herrschergeschlechts, verborgene Dimensionen und Aspekte kommen zum Vorschein: „Und nach längerem Schweigen sagte Heilmann, dass Werke wie jene, die aus Pergamon stammen, immer wieder neu ausgelegt werden müssten, bis eine Umkehrung gewonnen wäre und die Erdgebornen aus Finsternis und Sklaverei erwachten und sich in ihrem wahren Aussehn zeigten.“ (ÄdW 1, S.53) Diese Umkehrung ist der im Kontext der ästhetisch-politischen Bildung vollzogene Bruch mit einer herrschaftskonformen Aneignung von Geschichte.

Eigene Knechtschaft überwinden

Ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod hat die Auseinandersetzung mit Peter Weiss’ Werk an Aktualität und Relevanz gewonnen. ,,Jede Lüge die wir hinnehmen, ist unsre eigne Lüge“, schrieb er in seinem 1970 verfassten Buch „Rekonvaleszenz“ (erschienen 1991) und legt damit unsere Mitverantwortung am Fortbestand des Teufelskreises von Ausbeutung, Herrschaft und Unterdrückung, von Militarismus, Gewalt und Naturzerstörung offen. Über uns selbst und durch uns hindurch werden die gesellschaftlichen Verhältnisse aufrechterhalten und wiederhergestellt: Wir wählen unsere „Einpeitscher“ selbst. Die Mittäterschaft der Opfer ermöglicht erst die Etablierung von Inhumanität und Barbarei. Weiss orientiert auf die Wahrnehmung unserer verinnerlichten Knechtschaftsmechanismen als einer Voraussetzung umfassender Befreiung. Angeklagt sind wir immer auch selbst: in unserer Duldsamkeit, unserer Bestechlichkeit, unserer Gleichgültigkeit. Unsere sinnlichen und intellektuellen Fähigkeiten, die oftmals noch brachliegen, müssen und können der Knechtschaft entgegengesetzt werden. Neue Formationen geschichtlicher Blockbildungen gegen die hegemonialen Kräfte des erstarkenden Konkurrenzdenkens werden jene Fähigkeiten dringend benötigen. Dem Gift der Konkurrenz ist nur das einer selbstbestimmten solidarischen Bildung gewachsen, die selbst wiederum auf neue soziopolitische Bewegungen angewiesen sein wird.

Anmerkung

1) Dieser Beitrag ist die neu bearbeitete und gekürzte Fassung eines längeren Essays, der anlässlich des zehnten Todestages des Schriftstellers in Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, Jg. 31, Nr. 127 (1992), S.31-45, erschien.


Prof. Dr. Armin Bernhard ist Hochschullehrer für Allgemeine Pädagogik an der Universität Duisburg-Essen. Er arbeitet insbesondere zu kritischer Erziehungs- und Bildungstheorie, Pädagogik und globalen Problemen, Demokratischer Reformpädagogik.

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