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Längst Geschwister

15.06.2007: "Kultur" und Wirtschaft - (k)eine Mesalliance?

  
 

Forum Wissenschaft 2/2007; Foto: Reinhard Keller

Kultur und Wirtschaft, v.a. die privat organisierte, haben nach einer besonders in Deutschland verbreiteten Vorstellung wenig miteinander zu tun. Die Wirklichkeit sieht allerdings längst anders aus. Was Kultur mit der Ökonomie verbindet, welche Gruppen als Akteurinnen und Akteure darin eine Rolle spielen - worüber nicht unbedingt Einigkeit besteht - und welche Realitäten zur Kenntnis zu nehmen sind, lässt sich genauer sagen. Andreas Joh. Wiesand gibt einen empirisch unterstützten Überblick.1



Kulturwirtschaft? Nein, "Creative Industries" ist doch neuerdings der angesagte Begriff - und auch in Mitteleuropa schon Gegenstand eigener "Kreativwirtschaftsberichte". Warum halten wir uns dann nicht gleich an den derzeit einflussreichen amerikanischen Guru Richard Florida, der seine ökonomischen Theorien zum Beschäftigungswachstum wirkungsvoll als Aufstieg einer neuen "kreativen Klasse" inszeniert?2

Eine neue "kreative Klasse"?

Das Kernargument von Florida ist allerdings von eher schlichter Natur: Seit es mit traditionellen Industriezweigen bergab geht, sei die "creative economy" mit einer neuen Klasse von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dabei, ihren Platz zu übernehmen. Florida definiert diese "kreative Klasse" (die in den USA nach seiner Einschätzung bereits 30 Prozent der Erwerbstätigen ausmacht) als ein weites Spektrum qualifizierter Berufe: von Fachleuten in Technik und Naturwissenschaften über höhere Positionen im Handels- und Finanzsektor bis hin zu Beschäftigungen in der akademischen und öffentlichen Verwaltung sowie in Bereichen der Justiz und öffentlichen Sicherheit. Natürlich finden sich auch Künstler und andere Kulturberufe in dieser Auswahl - die laut Florida besonders wichtige Gruppe der "Bohemiens"; sie sollen den Städten und Regionen der westlichen Welt in ihrem wirtschaftlichen Konkurrenzkampf den nötigen innovativen Kick geben. Aber ist ein derart breiter Berufe-Mix überhaupt sinnvoll?

Floridas Konzept enthält - ähnlich wie andere ökonomische Theorien (z.B. der "human capital"-Ansatz) - statistische Indikatoren. Dies hat den Vorteil, dass man das Konzept empirisch "testen" kann, was auch bereits in verschiedenen Regionen geschehen ist. Dabei zeigt sich: Manche von Floridas Argumenten werden etwa in einer niederländischen Studie bestätigt,3 so vor allem die These, dass es zur Stimulierung des Wirtschaftswachstums weniger darum gehe, "welche oder wie viel Bildung Menschen mitbringen, sondern wo sie tatsächlich arbeiten". Abgesehen von Amsterdam bezweifelten die holländischen Forscher, dass dieses Wachstum "irgend etwas mit der Bohème oder einer anderen kreativen Gesinnung zu tun hat, die über soziale Interaktion hinausgeht". Stattdessen betonen sie einen Punkt, der von Richard Florida eher vernachlässigt wird, dafür in früheren Theorien über das Humankapital stärker im Vordergrund stand: "Urbane Vorzüge - wie beispielsweise Kulturangebote, eine ästhetisch schöne Umgebung und in Holland besonders auch die vielen historischen Bauten - machen Städte speziell für die ‚kreative Klasse‘ attraktiver."

An kritischen Stimmen zu Florida und seinen Ideen fehlt es nicht. Von überbewerteten Korrelationen ist da die Rede, von einer unsachgemäßen Definition der Beschäftigungskategorien oder vom Gebrauch veralteter Zahlen aus Zeiten des dotcom-Booms vor seinem Zusammenbruch. Der Ökonomin Ann Daly zufolge besteht das Problem solch verallgemeinernder Theorien darin, "dass sie eine auf alles passende Patentlösung anbieten, wo es den einzigen Index, die einzige Berechnung, den Königsweg nicht geben kann. Unsere Welt ist dafür zu komplex und ihr Wandel zu schnell."4 Dennoch räumt sie ein, dass Floridas Glaube an die Kreativität als Motor wirtschaftlichen Wachstums zumindest "die Basis für eine ernsthafte öffentliche Debatte über kulturelles Wachstum" erweitert hat.

Auf der Suche nach Begriffen

Inzwischen gibt es eine wahre Flut unterschiedlicher Konzepte und Begrifflichkeiten. Sie wurde vor etwa einem Jahrzehnt vor allem durch einen Schlüsselbegriff ausgelöst, der im Rahmen der Wahlkampfstrategie der britischen Labour Partei eine wichtige Rolle spielte und nach ihrer Regierungsübernahme in eine Studie mündete, das "Creative Industries Mapping Document" (1998). Dieses Dokument inspirierte die Phantasie vieler weiterer Administratoren und Wissenschaftler und stellte bis dahin gebräuchliche Termini wie den der "Kulturwirtschaft" oder der "Kulturgüter" in Frage. Einige Stichworte zu Berichten, Konferenzen und kulturökonomischen Strategien aus den letzten Jahren seien angeführt: Auf der einen Seite Berichte über "Kulturwirtschaft" bzw. "Culture Industries" (z.B. fünf Berichte in NRW/Deutschland 1991 bis 2007; Schweiz 2003; Frankreich 2006; EU 2006) und "Cultural Industries Cluster" (Barcelona/Spanien 2004) sowie eine traditionelle Terminologie zu "Kulturgütern"/"Cultural Goods" (traditionell UNESCO), auf der anderen Seite Studien und Datensammlungen zu "Creative Industries" (z.B. Großbritannien 1998 bis 2005; Österreich 2000 und 2006), zu "Copyright Industries" (z.B. USA 2000; Singapur 2004) oder zur "Knowledge Economy" (z.B. Kanada 1997/2005; Finnland 2006), die Konferenz "Creative Capital" (Amsterdam 2005) und natürlich R. Floridas "Creative Class"-Konzept (2002; 2004). Dazwischen gibt es neuerdings integrierte oder "hybride" Konzepte wie "Experience Industry" (Schweden 2003), "Kreativsektor"/"Creative Sector" (z.B. Konferenz der UNESCO in Austin/Texas 2003) und Kombinationsversuche wie "Cultural & Creative Sector" (Konferenz der EU-Präsidentschaft, Lissabon 2007).

Trotz der zum Teil sehr unterschiedlichen Konzepte hinter solchen Begriffen lässt sich dennoch so etwas wie ein Konsens über die Kultur- oder Kreativwirtschaft daraus ableiten, über den noch zu reden ist.

Allerlei Hypotheken

Eine verständige Debatte über Definitionen und Begrifflichkeiten im Verhältnis Kultur und Wirtschaft konnte sich in Deutschland und in anderen Teilen Europas vor allem deshalb nur unzureichend und erst spät entwickeln, weil die wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Aspekte des Kultursektors über Jahrzehnte unterschätzt bzw. ignoriert wurden. Das erklärt sich auch daraus, dass in der europäischen akademischen Tradition Wirtschafts- und Kultursphären meist getrennt voneinander gesehen wurden. Diese Trennung lässt sich in den Geistes- und Sozialwissenschaften bis heute nachweisen, etwa bei Pierre Bourdieu oder Jürgen Habermas.5 Auch die von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer schon in den späten vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts formulierten Thesen zur "Kulturindustrie", wonach die intellektuelle oder ästhetische Produktion zunehmend Maßstäbe des industriellen Warenverkehrs übernimmt und entsprechend gesellschaftliche Befindlichkeiten beeinflusst, förderten und fördern weiterhin eher ein Abwehrverhalten gegenüber stärker integrierten Kulturmodellen, denen gerne die Nähe zu schnödem Kommerz vorgehalten wird.6

Generell ist wohl zu sagen, dass die Empirie in dieser Art der Kulturerforschung etwas zu kurz kommt. Vielleicht wäre sonst früher aufgefallen, dass weite Teile des Kulturbetriebs schon seit jeher in privatwirtschaftlicher Form organisiert waren, so etwa das Verlagswesen; davon, dass dies zum Beispiel Vertreter der "Kritischen Theorie" daran gehindert hätte, ihre Thesen zu publizieren, ist nichts bekannt.

Das Ökonomische wurde also lange der Ökonomie überlassen, die ihrerseits die Kultur als Interessenfeld ebenfalls relativ spät entdeckte. Selbst in den USA wurden "Kulturmanagement"-Studiengänge erst seit den siebziger Jahren populär, in Europa sogar erst gut ein Jahrzehnt später. Heute hat sich die Kulturökonomik zu einer Spezialdisziplin entwickelt, die zwar an Einfluss gewinnt, der es aber nur in Ausnahmefällen gelingt, künstlerische oder kulturpolitische Maßstäbe in ihre Konzepte zu integrieren.7

In der Kulturpolitik zeigen sich ebenfalls deutliche Engführungen: Obwohl das Kultur-Sponsoring in den meisten europäischen Ländern statistisch kaum ins Gewicht fällt, wird auf das Thema "Kultur (und) Wirtschaft" oft reflexartig mit der Frage reagiert, durch welche Maßnahmen vielleicht mehr private "Sponsoren" für die Kunst und vor allem für (öffentliche) Kulturinstitutionen zu gewinnen seien, denen allmählich die gewohnten Förderetats abhanden kommen. Andererseits konzentrieren sich Diskussionen über die Kulturfinanzierung nach wie vor auf die staatlichen und kommunalen Haushalte, deren Dimensionen meist überschätzt werden.

Die Unverhältnismäßigkeit solcher Debatten wird gerade am Beispiel Deutschland augenfällig: Zwar ist kaum zu übersehen, dass wir zum Beispiel das weltweit größte System voll ausgestatteter öffentlicher Theater und Opernhäuser mit jährlichen Fixkosten von rund zwei Milliarden Euro unterhalten. Dennoch sind auch in Deutschland, bleibt man einmal bei rein finanziellen Maßstäben, die primär durch Konsum generierten Umsätze der privaten Kulturwirtschaft weit bedeutender als die öffentlichen Kulturausgaben. Mit knapp 80 Milliarden Euro übertreffen sie die Gesamthöhe der öffentlichen Kulturausgaben um das Zehnfache - und Privatspenden oder Kultursponsoring sogar um das Hundertfache.

Wer sind die "Kreativen"?

In einem kurzen Überblick können wir die unterschiedlichen Bedeutungen und Ambivalenzen der Begriffe "Kultur" und "Kreativität" nicht ausführlich diskutieren. Anthropologisch gesehen, umfasst Kultur die meisten menschlichen Ausdrucksformen, Wertesysteme und sogar institutionellen Gebilde. Dennoch sollten wir zunächst versuchen, von einer stärker praxisbezogenen Definition auszugehen, wie sie inzwischen in Europa gebräuchlich ist, etwa gemäß der Formel "Kultur & Medien PLUS". Diese müsste die Künste, die Medien einschließlich ihrer neuesten Entwicklungen und natürlich das kulturelle Erbe umfassen, und zwar ohne qualitative Vorbewertung (etwa im Sinne von "Hoch-" oder "Unterhaltungskultur").8 Mit dieser Definition könnten dann auch alle beruflichen Tätigkeiten in öffentlichen, privaten und freigemeinnützigen Betrieben oder Einrichtungen erfasst und, je nach Fragestellung, auch wieder unterschieden werden.

Der Begriff "Kreativität" ließe sich ähnlich eingrenzen und würde freilich auf jede Form komplexer Innovation oder intellektueller Flexibilität auf den Schauplätzen von Wissenschaft und Geschäftsleben passen. Hier ist die Frage relevant, ob es gerechtfertigt ist, Kunst und damit Künstler/innen gänzlich aus dem Kontext einer "Kreativwirtschaft" auszublenden, wie dies teilweise geschieht (z.B. im Entwicklungskonzept "Creative Salzburg"). Wenn nur noch Designer, Management-Berater oder Werbeleute das Attribut von "Kreativen" für sich beanspruchen (dürfen), wären in der Tat die schlimmsten Befürchtungen der Gegner allzu enger Verbindungen zwischen Kultur und Wirtschaft eingelöst - und die Kreativität auf die Bereitstellung eines funktionalen oder erlebnisträchtigen Ambientes reduziert. Eigentlich ist doch kaum zu übersehen, dass künstlerische Arbeitsergebnisse heute, vermittelt nicht zuletzt über das Design, ständig in Wirtschaftszweige aller Art einfließen und oft geradezu als Motor für Innovationen und auch technische Neuerungen gelten können. Stephen Wilson weist darauf hin, dass die Macht der künstlerischen Arbeit in einem frühen Stadium einer neuen Technologie teilweise auf dem kulturellen Akt beruht, "sie für die eigene kreative Produktion und Kommentierung in Besitz zu nehmen. So erinnert etwa die frühe Geschichte der Computergrafik und -animation in mancher Hinsicht an die Verhältnisse bei der Entwicklung der Fotografie und des Kinos."9

Die Politik, aber auch multinationale Firmen der Kultur- und Medienwirtschaft beginnen, diese potenzielle Macht der künstlerischen Forschung und Produktivität zu erkennen: "Technologie beeinflusst Musik und Musik beeinflusst Technologie. Der beste Beweis dafür ist der iPod" - so der Chef des Warner-Konzerns, Edgar Bronfman, auf einer Tagung in Aspen im Jahr 2005.

Berichte als Brücken

Definitionsprobleme und komplexe Fragen der statistischen Abgrenzung - u.a. die ungenügende europaweite Harmonisierung der Kulturstatistik - haben punktuelle oder vergleichende Analysen zur wirtschaftlichen Bedeutung und Struktur der Kulturwirtschaft nicht verhindert. In Deutschland wurden sie vor allem auf regionaler Ebene erarbeitet. Das muss nicht unbedingt ein Manko sein, wenn es etwa darum geht, vorhandene Probleme oder Potenziale und mögliche Synergien der Kulturwirtschaft auch mit öffentlichen und ‚freien‘ Trägern kultur- und medienbezogener Aktivitäten möglichst konkret zu benennen und Fördermaßnahmen besser darauf auszurichten.

Maßstäbe haben zunächst die Berichte der Arbeitsgemeinschaft Kulturwirtschaft für das Land Nordrhein-Westfalen gesetzt.10 Zur "Kulturwirtschaft" zählen hier Privatbetriebe und selbstständige Berufsangehörige, die in Teilmärkten der Künste und der Medien sowie angrenzenden Tätigkeitsfeldern arbeiten. Dabei lassen sich grob folgende Segmente - mit zum Teil recht heterogener Binnenstruktur - unterscheiden: Kulturwirtschaft im engeren Sinne (Buchmarkt, Musikwirtschaft, Musical, die wirtschaftliche Aktivität freischaffender Künstler/innen), Kultur-/Medienwirtschaft im weiteren Sinne (z.B. Architektur- und Designateliers) sowie ergänzende Teilbranchen mit großer Relevanz für Kultur und Medien - je nach aktuellen Untersuchungszielen (etwa der "Kultur-Tourismus" oder die "Kultur-Bauwirtschaft" vom Kirchenbau bis zu Handwerksbetrieben in der Denkmalpflege).

Hinsichtlich der Datenaufbereitung weitgehend vergleichbare Berichte wurden etwa in Bremen-Nordniedersachsen (1999), Sachsen-Anhalt (2002) und Schleswig-Holstein (2004) sowie in einigen Städten realisiert. Berichte mit anderer, eher dem Konzept der "creative industries" folgender und damit um zusätzliche Branchen wie etwa Telekommunikation oder Werbewirtschaft erweiterter Methodik wurden unter anderem für die Länder/Stadtstaaten Hessen (2003 und 2005), Hamburg (2006), Berlin (2006) und die Region Stuttgart (2005) vorgelegt. Zwei Trends zeichnen sich dabei ab: Eine Reihe von Berichten widmet sich ganz oder überwiegend bestimmten Spezialthemen, die gelegentlich sogar vom Kernthema der Kulturwirtschaft wegführen können.11 Einige andere, so die in NRW oder ähnlich in Berlin, verstehen sich weniger als behördliche Information (oder PR) und eher als Ressourcen für die Zusammenarbeit breiterer Initiativen innerhalb der Kulturwirtschaft, etwa im Sinne eines "work in progress".12

Zentrale Berichtsergebnisse

Trotz ihrer Unterschiede in Definitionen und Vorgehensweisen belegen deutsche und ausländische Kulturwirtschaftsberichte doch relativ einheitlich einige wirtschaftlich wie auch kulturell relevante Tatsachen, darunter etwa eine im Vergleich zu anderen Sektoren erstaunliche wirtschaftliche Dynamik der privaten Kultur- und Medienbetriebe; die wichtige Rolle der Kulturwirtschaft als Arbeitsmarktfaktor, teilweise auch gegen allgemeine Trends; geringe Betriebsgrößen, eine Vielzahl von Neugründungen und in aller Regel tätige Inhaber; die entscheidende Rolle selbstständiger Künstler/innen, Autor/innen, Designer/innen etc. für die Produktion und teilweise auch die Vermittlung von Inhalten ("content") sowie für die Lancierung von Innovationen in komplexen Märkten; eine in den meisten Branchen/Betrieben vergleichsweise geringe Kapitalintensität (was naturgemäß auch negative Auswirkungen haben kann, etwa für Investitionen oder Marketingaktivitäten); intensive Verbindungen oder Komplementärverhältnisse mit dem öffentlichen und gemeinnützig getragenen Kulturleben; eine große Offenheit der meisten Akteur/innen für die Integration neuer Technologien sowie zunehmend europäisch-grenzüberschreitende Kooperationsbeziehungen in vielen Branchen.

Es ist vor diesem Hintergrund wohl kein Zufall, dass die Initiative für Kulturwirtschaftsberichte in Deutschland zunächst von Wirtschaftsbehörden ausging. Obwohl es keine Patentrezepte für ihren Erfolg gibt, erkannte man mit Hilfe dieser Berichte die Kulturwirtschaft zunehmend als eine interessante Kategorie in der regionalisierten Strukturpolitik. Einige Berichte verdeutlichten auch, dass Betriebe der Kulturwirtschaft wichtige Voraussetzungen oder Verbundleistungen für die Entwicklung anderer Branchen schaffen, dabei unter anderem für den Fremdenverkehr ("Kulturtourismus") und die Konsumgüterindustrie.

Empfehlungen

Sicher wäre es verfehlt, eine Umsetzung aller Vorschläge in den diversen Berichten im Verhältnis 1:1 zu erwarten; manche sind ohnehin "programmbegleitend", reagieren also mehr auf politische Maßnahmen, als dass sie neue empfehlen würden. Andere betreffen eher Fragen einer grundsätzlichen Neuorientierung der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Kulturpolitik. Letzteres gilt teilweise für die NRW-Kulturwirtschaftsberichte, für deren Inhalt nicht das Ministerium, sondern unabhängige Fachleute aus Universitäten und Forschungseinrichtungen13 verantwortlich zeichnen. Dennoch lassen sich auch für NRW beispielhaft einige Projekte nennen, die entweder direkt auf Empfehlungen der Berichte zurückgehen oder Defizite aufgreifen, die dort benannt wurden. So beteiligten sich an der StartART-Gründungsinitiative des Landes NRW für Kunst und Kulturwirtschaft, die den Weg in die Selbstständigkeit durch betriebswirtschaftliche Beratung und Qualifizierung fördern sollte, in drei Wettbewerbsrunden (2001 bis 2003) 333 Existenzgründer/innen mit insgesamt 227 Unternehmenskonzepten. Die meisten davon zielten auf kulturwirtschaftliche Dienstleistungen, 22 Prozent auf Existenzgründungen für künstlerische und Designtätigkeiten. 21 Konzepte wurden mit einem Zuschuss prämiert. Das Programm erhielt in der Fachpresse gute Noten. Ein Landeswettbewerb zur Einrichtung kultureller Gründerzentren, Modellprojekte zur Nutzung kulturwirtschaftlicher Angebote für den Tourismus, Kulturwirtschaftstage und Branchenforen sowie die Förderung einer Beteiligung an Auslandsmessen und die Stärkung endogener Potenziale in der Kultur- und Kreativwirtschaft ("Clusterbildung"), z.B. der Ausbau der Zeche Zollverein als Design-Kompetenzzentrum, sind weitere Beispiele für solche praktischen Konsequenzen.

Diese Beispiele sollen nicht den Eindruck erwecken, es ließe sich mit Statistiken über eine dynamische Kultur- und Medienwirtschaft und ihre Fortschreibung in offiziösen Berichten nahezu alles an politischen Strategien und Fördermaßnahmen begründen, was jeweils gerade auf dem Markt en vogue ist oder von Interessengruppen hartnäckig gefordert wird. Grundsätzlich gilt wohl, dass nur dort eine öffentliche Förderung gerechtfertigt ist, wo an reale Marktpotenziale bzw. besondere Erfahrungen bei den Erwerbstätigen - ein "kulturelles Kapital" im Sinne von Pierre Bourdieu - angeknüpft werden kann oder Nachteile und Wettbewerbshemmnisse auszugleichen sind. Eine leistungsfähige Kulturwirtschaft lässt sich also nicht schematisch für alle Branchen und Regionen aus dem Boden stampfen.

Zu dieser Einsicht kam 2002 der erste Kulturwirtschaftsbericht für das Land Sachsen-Anhalt. Dessen wirtschaftliche Lage und vor allem die auch durch hohe Arbeitslosigkeit bedingte geringe Kaufkraft ließen keine Empfehlungen für einen flächendeckenden Aufbau kulturwirtschaftlicher Infrastrukturen etwa im Buch-, Kunst- oder Musikmarkt zu. Allerdings wurde ein großes Potenzial im Kulturtourismus, bei der Produktion von Designgütern (Bauhaus-Tradition) und in der Medienwirtschaft ausgemacht. Letzteres galt insbesondere für Betriebe mit Aufgaben in der Gestaltung, der Produktion und beim Management von "Content" für die Neuen Medien - auch andernorts eine wichtige, Ressourcen schonende Entwicklungschance.

Vorschlag: "Kreativsektor"

Obwohl es künftig noch schwieriger wird, den privatwirtschaftlichen Bereich statistisch sauber von anderen Kultur- und Medienaktivitäten abzugrenzen, bleibt gerade dies eine wichtige Aufgabe entsprechender Berichte. In Deutschland existiert traditionell eine stärkere Arbeitsteilung zwischen Kulturangeboten mit öffentlichem Auftrag und privatwirtschaftlichen Aktivitäten als in vielen anderen Ländern - und dies soll nach den Vorstellungen sowohl der betroffenen Einrichtungen und des größten Teils der Kulturwirtschaft wie auch breiter Bevölkerungskreise so bleiben.

Hier könnten wir sogar vom Musterland der "creative industries" lernen, dem Vereinigten Königreich. Dort unterstehen dem für Kultur, Medien und Sport zuständigen Kabinettsmitglied sowohl ein "Minister für Kreativwirtschaft und Tourismus" mit Verantwortung für hauptsächlich marktorientierte Aktivitäten wie auch ein "Kulturminister", zuständig u.a. für die Künste, Denkmalpflege, Museen und Bibliotheken, Architektur oder kulturelle Aspekte der Bildungs-, Regional- und Sozialpolitik, also für Aufgaben, wie sie viele andere Kulturminister in Europa kennen. Die Londoner Konstruktion erkennt also die wachsende Relevanz von Marktkräften für die Entwicklung im Kultur- und Medienbereich ebenso an wie die Tatsache, dass die Rolle staatlicher oder geförderter Einrichtungen und die Mitwirkung zivilgesellschaftlicher Akteur/innen nicht verdrängt werden kann, sondern teilweise sogar gestärkt werden sollte.

Vor dem Hintergrund empirischer Studien und internationaler Konferenzen kann damit für die Diskussion und weitere Begriffsklärung die Abgrenzung eines "europäischen Kreativsektors" vorgeschlagen werden. Abgesehen von einem "kreativen Kernbereich", der die in der Regel flexibel und in wechselnden Rechtsformen arbeitenden Künstler/innen und Fachkräfte aus Kultur und Medien umfasst, lassen sich dort folgende Arbeitsfelder unterscheiden:

a) mit überwiegend privatwirtschaftlicher Orientierung die Kultur- und Medienwirtschaft i.e.S. (z.B. Buch-, Kunst- u. Musikmarkt, Film, Privat-Radio/TV), Architektur und Design sowie ergänzende Branchen (z.B. Druckereien, Musikinstrumente, Kunsthandwerk, je nach Definition auch Teilbranchen wie "Kultur-Tourismus" etc.);

b) Institutionen und Betriebe mit öffentlichem Auftrag und meist auch Trägerschaft wie Kultureinrichtungen (Theater, Museen, Bibliotheken etc.) und der öffentlich-rechtliche Rundfunk, Einrichtungen der kulturellen Bildung und Ausbildung sowie die Kulturverwaltung;

c) ein zivilgesellschaftlich-gemeinnütziger bzw. informeller Bereich, u.a. mit soziokulturellen Einrichtungen und Angeboten (einschließlich Laiengruppen, Immigranten etc.) sowie Service- und Förderaktivitäten (z.B. Verbände, Stiftungen).

Entsprechende Grundelemente finden sich wohl in den meisten europäischen Ländern, bei allerdings wechselnder Bedeutung im jeweiligen Arbeitsmarkt. Die große Anzahl öffentlicher Theater und Medieneinrichtungen (Radio und Fernsehen, häufig finanziert durch Gebühren) unterscheidet diese Abgrenzung am auffälligsten von den USA, wo solche Einrichtungen in der Regel privatwirtschaftlich organisiert sind.

Definitionen müssen so offen und flexibel sein, dass sie Querverbindungen angemessen berücksichtigen und, je nach Art der Fragestellung oder Aufgabe, erweiterungsfähig bleiben. Dies betrifft etwa die zunehmenden grenzüberschreitenden Austauschbeziehungen, Konzentrationstendenzen und ebenso neue, ökonomisch relevante Arbeitsfelder. Als Beispiel sind die "kreativen" Aktivitäten bei der Entwicklung von Computerspielen zu nennen: Nachdem dafür eigene statistische Kategorien fehlen, ist es besonders wichtig, dem Design einen prominenten Platz in kultur- oder kreativwirtschaftlichen Konzepten zuzuweisen und die hier Berufstätigen möglichst vollständig zu erfassen.

Weniger wichtig ist, ob wir dann etwa von einem "Kultursektor" oder einem "Kreativsektor" sprechen, solange nur alle mit Kultur und Medien im weiteren Sinne verbundenen Aktivitäten berücksichtigt werden. Private, öffentliche und informelle Angebote, ihre unterschiedlichen Aufgaben, Maßstäbe und Probleme müssen auch in Zukunft möglichst klar erkennbar bleiben, möglicherweise sogar jeweils noch stärker überprüft werden. Geschieht dies nicht oder nicht ausreichend, wie in manchen der erwähnten Berichte und Bestandsaufnahmen, könnten einige Angebote bald mangels "Unterscheidbarkeit" in Gefahr geraten und eine bislang noch vielfältige kulturelle Öffentlichkeit Schaden nehmen.

Anmerkungen

1) Diesem Beitrag liegt ein längerer Text zugrunde, der 2006 in "Aus Politik und Zeitgeschichte", hg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, erschien Nr. 34/35. .

2) Richard Florida, The Rise of the Creative Class - and how it’s transforming work, leisure, community and every day life, New York 2002; ders., The Flight of the Creative Class, New York 2004.

3) Vgl. Gerard Marlet/Clemens van Woerkens, Skills and Creativity in a Cross-section of Dutch Cities, Stichting Atlas voor gemeenten, Utrecht School of Economics, Universität Utrecht, Discussion Paper Series 04 - 29, 2004.

4) Ann Daly, Richard Florida’s High-class Glasses, in: Grantmakers in the Arts Reader, Sommer 2004.

5) Vgl. Pierre Bourdieu, The Field of Cultural Production: Essays on Art and Literature, Cambridge 1993; Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M. 1988.

6) Vgl. Heinz Steinert, Kulturindustrie, Münster 1998; neuerdings auch Therese Kaufmann und Gerald Raunig, Europäische Kulturpolitiken vorausdenken, Wien 2002 (www.eipcp.net/policies/text/concept_de.htm ), die im "Hype der ‚Creative Industries‘ eine Tendenz" erkennen wollen, nach der ökonomische Interessen "das kritische, partizipatorische und politische Potenzial kultureller Inhalte" verdrängen.

7) Eine solche Ausnahme ist etwa David Throsby, Economics and Culture, Cambridge 2001.

8) Mehr über diese Zusammenhänge bei Danielle Cliche/Ritva Mitchell/Andreas Joh. Wiesand, Creative Europe, Bonn 2002.

9) Vgl. Stephen Wilson, Information Arts: Intersections of Art, Science and Technology, Cambridge 2002.

10) 1992, 1995, 1998, 2001, 2006; 2007 in Vorbereitung.

11) Vgl. etwa den 2. Hessischen Kulturwirtschaftsbericht: Kultursponsoring und Mäzenatentum in Hessen, hrsg. von den Hessischen Ministerien für Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung sowie für Wissenschaft und Kunst, Wiesbaden 2005.

12) So explizit der Bericht der Senatsverwaltungen für Wirtschaft, Arbeit und Frauen und für Wissenschaft, Forschung und Kultur (Hrsg.), Kulturwirtschaft in Berlin - Entwicklung und Potenziale 2005, Berlin 2005.

13) Bei den bisherigen NRW-Berichten waren dies vor allem die Universitäten Dortmund und Witten-Herdecke, das Büro STADTart, das Zentrum für Kulturforschung, der Arbeitskreis Kulturstatistik und das ERICarts-Institut.


Dr. phil.Andreas Joh. Wiesand leitet das Zentrum für Kulturforschung in Bonn und ist Executive Director des European Institute for Comparative Cultural Research (ERICarts). Er lehrt zudem als Professor Kulturmanagement/Kulturpolitik an der Hochschule für Musik und Theater, Hamburg.

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