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»Wissenschaft ist also ein prinzipielles Gegen-den-Strom-Schwimmen.«

Klaus Holzkamp

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Forum Wissenschaft

Zum Unterleib von Wettbewerbssystemen

15.05.2006: Wissenschaft, Leidenschaft, Selbstobjektivierung

  
 

Forum Wissenschaft 2/2006; Titelbild: Michael Meyborg

Wie die AkteurInnen des Dings aus dem wirklichen Leben - Wissenschaft - sich mit diesem bewegen, was es mit ihnen tut und sie mit ihm, mag zunächst den Gesetzen der Rationalität gehorchen. Auf den zweiten Blick erweist sich, dass die proklamierten - und im Bewusstsein der ProtagonistInnen auch tatsächlich verfolgten - Ansprüche bzw. Ziele von Qualität und Hochleistung unter den Bedingungen des vorfindlichen Wettbewerbssystems nicht erreicht werden können. Hans-Jochen Luhmann verweist auf Erfahrungen mit Wettbewerb und entzaubert einschlägige Wissenschaftsrats-Vorschläge.

In Mut zur Utopie hat Georg Picht formuliert: "Geistesgeschichte lehrt, dass die Vernunft ihre höchsten Tugenden - ihre Klarheit, ihre Besonnenheit, ihre Nüchternheit und ihre Unbestechlichkeit - aufs Spiel setzt, wenn sie in den Bereich eindringen will, aus dem sie selbst hervorgegangen ist. Deshalb […] ist Wachsamkeit geboten."1 Und die erste Grundthese in A. M. Klaus Müllers Diesseits und Jenseits der Wissenschaft heißt: "Wissenschaftliche Realität ist Teil des Lebens."2

"Wissenschaft ist Leidenschaft, / die durch Leiden Wissen schafft." Diese Verszeile, von dem Historiker Alexander Demandt qua Übertragung aus einer Volksweisheit3 formuliert, bringt die im Laufe der Jahrhunderte immer deutlicher werdende Ambivalenz der neuzeitlichen Wissenschaft recht präzise auf den Punkt.

Im Vers wird zunächst, in der ersten Zeile, gegen die herrschende Selbststilisierung der Wissenschaft festgehalten, dass sie als Ganzes ein Geschehen gleichsam aus dem Unterleib heraus ist, also nicht etwa etwas rational Gesteuertes. Das heißt nicht, dass die moderne Wissenschaft nicht rational sei, das Gegenteil ist der Fall: Sie ist rational durch und durch - aber eben auch nur das. Extern, hinsichtlich ihrer Steuerung, ihrer Ziele also, die sie, wenn sie gesetzt sind, dann in aller Rationalität verfolgt, ist die Zunft ‚Wissenschaft‘ ohne Leitung durch die Ratio; das kann ein jeder leicht erkennen, der Erkenntnismöglichkeiten dafür gibt es viele, am nächstliegenden ist die auf der persönlichen Ebene: Man zwicke nur VertreterInnen dieser Zunft an einem geeigneten ‚Akupunkturpunkt‘, und schon reagieren die nicht mehr kühl und abwägend, sondern mit ‚Leidenschaft‘. Ein Akupunkturpunkt liegt z.B. da, wo der Sinn einer speziellen wissenschaftlichen Aktivität oder eines speziellen wissenschaftlichen Zugangs zur Wirklichkeit im Kontext des Lebens in Frage gestellt wird. Q.e.d.

Modell des in der zweiten Verszeile Geschilderten ist die Wissenserlangung qua Experiment an lebendigen Wesen, vor allem durch Tierversuche, und das insbesondere dann, wenn diese statistisch angelegt sind - dann erfordern sie eine hohe Zahl von Opfern. In solchen Konstellationen wird in einem wörtlichen Sinne Wissen geschaffen unter In-Kauf-Nahme des Leidens der Mitkreatur - im Extremfall wird ihr das Leben ausgetrieben, damit Wissen gemäß dem neuzeitlichen Ideal von Wissen entsteht, damit ‚sicheres‘ Wissen möglich wird. Ob es aber sicheres Wissen von Leben ist, ist schon strittig, ob es gar Leben sicherndes Wissen ist, ist völlig ungeklärt bis hin zu unwahrscheinlich. Das Verständnis von bzw. der Glaube in diese Art von Sicherheit erweist sich damit als abgründig. Meine persönliche Vermutung von der herrschenden Grundstruktur geht dahin: Es besteht eine ‚trade off‘-Beziehung zwischen Sicherheit des Wissens und Sicherheit des Lebens, man kann die eine nur zu Lasten der anderen maximieren.

Nun besteht die Klimax der Entwicklung neuzeitlicher Wissenschaft offenbar darin, dass wir dank ihrer in ein Zeitalter der ‚wissenschaftlich-industriellen‘ Welt geraten sind. In ihm ist die Wissenschaft, also eine Erkenntnisform, in demselben Sinne zur Lebensgrundlage geworden wie die Böden Lebensgrundlage der Agrargesellschaft waren. Das wissenschaftlich-industrielle Zeitalter ist zudem durch das Aufkommen des sog. Umweltproblems gekennzeichnet, um nicht zu sagen gezeichnet. Das Umweltproblem aber ist bzw. erweist sich, je länger es in seinen Nebenerscheinungen erfolgreich bekämpft wird, (1) als ein Problem der Bedrohung des Lebens: rechtlich formuliert der "Lebensgrundlage" (Art 20a GG), insbesondere, aber nur auch, der des Menschen. Umweltprobleme sind (2) dadurch definiert, dass sie ‚unbewusste Nebenwirkungen‘ von Taten sind, die ganz anderen, intendierten, Zielen folgen. Das Umwelt- bzw. Nachhaltigkeitsproblem ist somit durch einen spezifisch defizienten Erkenntnismodus gekennzeichnet, nämlich dem, dass es nebenläufig entsteht, gleichsam im Rücken der (Aufmerksamkeit der) Ratio.

Wissenschaft und Leidenschaft

Die Kongruenz der Problemstruktur auf der Mikro- und der Makro-Ebene ist zu auffällig, als dass sie sich übergehen ließe. In beiden Fällen, in beiden Dimensionen, im Kleinen wie im Großen, entsteht unter der Hand und gegen die auf Leben zielenden Intentionen ein Konflikt mit dem Leben. ‚Unter der Hand‘ heißt dabei ‚außerhalb unserer Wahrnehmung‘. Für die Schulung der Wahrnehmung aber ist in der wissenschaftlich-technischen Welt die Wissenschaft monopolartig zuständig - ihr hat die moderne Gesellschaft schließlich beinahe ihr gesamtes Bildungswesen überantwortet. Die Wissenschaft versteht sich im Verhältnis zum Leben so, dass sie das Leben für einen Teil der wissenschaftlichen Realität hält - es gibt für die Wissenschaft keine Realität außerhalb der wissenschaftlich wahrnehmbaren Realität. Wenn der Müllersche Motto-Satz richtig ist, der als Gegenthese gegen die seitens der Wissenschaft übliche These zum Verhältnis von Leben und wissenschaftlicher Realität formuliert ist, dann kann unter einem von der Wissenschaft (im oben angeführten (Selbst-)Verständnis) angeleiteten Wahrnehmungs- und Orientierungssystem nichts anderes herauskommen als eine Gefährdung bzw. Austreibung des Lebens, eine Selbstgefährdung also. Wohlgemerkt: Wenn. So gefährlich kann eine anscheinend harmlose philosophische These sein, wenn sie eine ‚wirkliche‘ ( = wirksame) Überzeugung ausdrückt. Unbewusste Urteile und in diesem Sinne das (unbewusste) Denken bzw. ‚Überzeugt-Sein‘ sind eben in Wahrheit das Machtvollste am Menschen, das vorstellbar ist. Denn es herrscht über uns in allen unseren Fasern, ohne dass wir es wahrnehmen.

Wenn nun Wissenschaft eine Leidenschaft ist, etwas Unaufgeklärtes zudem, dann liegt es vor dem eben geschilderten Hintergrund nahe, auf der Suche nach Auswegen den Scheinwerfer des Bewusstseins einmal auf denjenigen Bereich hin zu richten, aus dem die Wissenschaft als Leidenschaft sich speist, auf ihren Unterleib gleichsam. Wir werden dabei nicht indiskret werden, lediglich den Widerstand nicht akzeptieren, der sich durch Scham, von diesem Bereich überhaupt zu sprechen, kundtut.

Einen realistischen Blick auf die Leidenschaften eines Individuums erhält bekanntlich, wer (1) es in seinen Rivalitäten und Eifersüchten, hier also in seinen Wettbewerbsbeziehungen, zu sehen vermag und (2) darauf schaut, wie es sich in seinem Wesen (‚qualis‘) definiert, hier also, bei einer Institution, wie es die Qualitätssicherung seiner Produkte organisiert.

Wettbewerbs-Scheitern

Die Wissenschaft wandelt sich zu einem Wettbewerbssystem eigentümlicher Art. Sie unternimmt, ihrem Ideal gemäß, objektiviertes Wissen zu schaffen, nun den ehrgeizigen Versuch, sich selbst in Form ihrer Leistungen zu objektivieren, um ihre eigene Evolution durch Ausrichtung an so erhobenen ‚Leistungsindikatoren‘ im Wettbewerb steuern zu lassen. Dieser Versuch ist nicht nur ehrgeizig, sondern auch löblich; nur: Er ist tückenreich. So partiell, wie er gegenwärtig angelegt ist, verspricht er keinen Erfolg. Das vermag ein auf ‚transzendentales‘ Schauen hin geschultes Auge mit nur wenigen Blicken zu erkennen.

Erfolgversprechend wäre der Versuch nur, wenn er ‚aufgeklärt‘ angelegt wäre. Aufgeklärt wäre er, wenn die Wissenschaft diesen Weg nicht solipsistisch ginge, d.h. nicht entschieden wäre, nur aus Erfahrungen sich belehren zu lassen, die sie erst schrittweise aus eigenen Krisen ziehen wird, sondern wenn sie sich der Lehren und Erfahrungen sowie insbesondere der Erfolgsbedingungen eines solchen Weges der von Indikatoren gesteuerten Evolution vergewissern würde, die in ihren Schwestersystemen, den Konkurrenzsystemen Wirtschaft und Sport, bereits gemacht worden sind - und daraus dann Konsequenzen ableiten würde. Das versäumt sie bislang. Entsprechend amateurhaft erscheinen ihre Versuche, Qualitätssicherung und -messung wie gehabt erbringen zu lassen. Wie gehabt bedeutet, so die offizielle Sprechweise, "ehrenamtlich" oder "gegen Aufwandsentschädigung" - offen formuliert handelt es sich da um eine Art wissenschaftsinterner Schattenwirtschaft. Pfusch am Bau ist sprichwörtlich, und es gibt keinen Grund zu erwarten, dass es unter ähnlichen Rahmenbedingungen mit der Wissenschaft wesentlich anders gehen sollte.

Dieser amateurhafte Ansatz, aller Beteuerung guten Willens ungeachtet, kann nur schief gehen.4 Selbst berühmte Skandale, die aus den wettbewerblichen Schwestersystemen Wirtschaft (Enron) und Sport (Balco) bekannt sind, werden für die Wissenschaft kaum imitierbar sein, da der Nachweis von Betrug etwas voraussetzt, über das die Wissenschaft nicht verfügt: ein ausgearbeitetes Regelwerk zum Verständnis fairer Leistung. Das ist ein Feld der Selbstreflexion, auf dem die Wissenschaft nachhinkt. Zugespitzt formuliert: Betrug ist in der Wissenschaft heutiger Verfasstheit großenteils schon deshalb nicht feststellbar (objektivierbar), weil es an einem ausgearbeiteten Regelwerk zum Verständnis von Leistung fehlt. Der Versuch, Leistungsbilanzen in den Wissenschaften, die Basis z.B. eines Forschungsrankings, ohne Bilanzrichtlinien anfertigen zu wollen, ist so effektiv wie Entfernungsangaben zu machen, ohne über einen Maßstab zu verfügen.

Die Tendenz zum Missbrauch von Leistungsangaben ist für diejenigen, die des Enron-Menetekels gewahr sind, auch und insbesondere als Folge des Forschungsrankings zu erwarten. Die Wissenschaft ist eben Teil des Lebens, ist ein lebendes System, und also ist zu erwarten, dass die TeilnehmerInnen dieses Systems darauf reagieren werden, wenn das System seine Rahmenbedingungen verändert.

Wettbewerbssysteme und fair play

Wirtschaft, Sport und Wissenschaft sind sämtlich Wettbewerbssysteme. Die Freiheit der AkteurInnen, der MitspielerInnen, ist durch Regeln begrenzt, ohne Regeln kein Spiel, kein Wettbewerb - ‚catch as catch can‘ ist ein Grenzfall des Sports. Die Einhaltung der Regeln, das fair play, war ursprünglich einmal, in allen drei Sektoren, durch Sitten und Kodizes gewährleistet. Außergewöhnliches Wachstum führte jeweils zu einem radikalen Wandel. Dämme aus Sitten und Gebräuchen erodierten. Den intim Beteiligten dämmerte jeweils zeitnah, dass die Grenzen des bisherigen, des überkommenen Schiedsrichterwesens erreicht seien. Allgemein aber wurden die großflächigen Regelverstöße immer erst in einer großen Krise offenbar.

Die Wirtschaft erlebte die Phase ihres Hochkapitalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in den 1920er Jahren hat sie ihn noch einmal als Trust-Unwesen ausgelebt. Das brachte der Gesellschaft massive Ungleichverteilungen und entsprechend militante Konfliktentladungen: Im 19. Jahrhundert die sozialen Bewegungen und im 20. Jahrhundert den Schwarzen Freitag, mit allen seinen Konsequenzen. Das Ergebnis: Die Wirtschaft hat sich, bzw. die Politik hat ihr, gegen massiven Widerstand aus ihren Reihen, nach dem Zweiten Weltkrieg eine strikte Wettbewerbsaufsicht verpasst. Doch der Moloch ‚kartellierte Wirtschaft‘ fand in den 1970er Jahren erneut Bundesgenossen in der Politik und eröffnete sich ein neues Schlupfloch. Das Ergebnis: Die Wiederholung der Roaring Twenties in den 1990er Jahren, die mit dem Platzen der New Yorker (New Economy) Börsenblase im März 2000 endete. Seitdem wird an den Bilanzrichtlinien und ihrer Umsetzung gefeilt, die Bilanzprüfer haben sich einem Peer Review zu unterziehen und sind gleichzeitig verpflichtet worden, die Unternehmen, deren Berichte und Bilanzen sie evaluieren, hinsichtlich der Prozesse der Erstellung von Schlüsselzahlen einem Review zu unterziehen (Prozess- statt nur Produkt-Review).

Der Spitzensport hat im Zuge seiner Kommerzialisierung und seines ökonomischen Wachstums in den 1980er Jahren zunächst systematisch die Augen verschlossen vor dem Thema "Verstöße gegen Wettbewerbsregeln". In jüngerer Zeit ist im multilateralen Konsens der Sportpolitik (sic!), gegen die Mehrzahl der Vertreter des Sports selbst, eine systematische Kehre eingeleitet worden. Mit Erfolg: Der Sport greift das Doping-Problem neuerdings von sich aus auf. Er anerkennt zudem, dass er dafür Abschied zu nehmen hat von seinem Monopolanspruch auf Sport-Eigengerichtsbarkeit, dass er vielmehr der allgemeinen polizeilichen Aufklärungs- und Verfolgungsmethoden bedarf sowie auf die staatlichen Sanktionsmittel angewiesen ist, will er nicht in dem Sumpf, in den er geraten ist, immer tiefer versinken. Er ist damit auf einen Erfolg versprechenden Weg hin zu einer potenten Aufsicht zur Sicherung des Wettbewerbs bzw. zur Wiedergewinnung von wirklichem fair play eingeschwenkt.5

Die Wissenschaft ist bislang das Aschenbrödel in diesem Prozess. Sie hat nach dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls eine stürmische Wachstumsperiode durchgemacht. Bei der Sicherung der Befolgung ihrer Wettbewerbsregeln aber ist sie in einem Status verblieben, den die anderen beiden Wettbewerbssysteme längst hinter sich gelassen haben - zwar aufgrund schlechter Erfahrungen, nach massiven Katastrofen erst, aber die beiden haben sich bewegt. Bei der Wissenschaft ist das nicht auch nur in Ansätzen zu sehen.

Qualitätssicherung

Qualitätssicherungsmängel zum Thema machen zu wollen erfordert, so scheint es zunächst, einen freien Blick auf den ‚Unterleib‘ der Wissenschaft. Der aber ist definitorisch nicht zu haben. Der Unterleib ist Tabu, die diesbezüglichen Tatsachen sind nicht öffentlich zugänglich, sie sind nicht zu objektivieren, sie sind kein möglicher Gegenstand der Wissenschaft neuzeitlichen Verständnisses. Der Autor dieser Zeilen räumt gerne ein, dass er selbst aufgrund persönlicher Einsichten, auf Basis seines Peer-Status, meint Indizien für erhebliche Überlastungen der Wissenschaft, insbesondere auf dem Gebiet ihrer Qualitätssicherung und (Selbst-)Evaluation, wahrzunehmen - diese Indizien aber halten andere für Einzelfälle, nicht für Symptome. So ist es immer in solchen Situationen. Und es kann auch nicht anders sein. Bei verdeckt vorliegenden Sachverhalten können weder das offen Vorliegende noch ausschnitthafte persönliche Empirie das Maß des Urteils über die Sache abgeben.

Maß des Urteils hat in einer solchen Konstellation vielmehr das Umfeld zu sein, die Nische, welche das Auftreten bestimmter Sachverhalte aufgrund der Kenntnis von Regeln des Verhaltens von Individuen und Institutionen erwarten lässt. Nach dem Motto: Wo eine Nische, dort eine Art, die sich - früher oder später - dort einnistet. Oder auch: Wo Rauch, da Feuer.

Der Rauch bzw. die Nische, die ins Auge springt, ist das Qualitätssicherungswesen der Wissenschaft - heute ehrenamtlich zu leisten durch Peers, so ist das überkommene Sitte. Nüchtern ökonomisch betrachtet sind die Peer-Leistungen für die NachfragerInnen somit ein freies Gut - entsprechend inflationär werden sie in Anspruch genommen. Die ErbringerInnen dieser Leistungen aber, die Peers, sind mit ihren Kapazitäten definitorisch die knappste und deshalb kostbarste Ressource innerhalb der Wissenschaft. Nach den Regeln der Umweltökonomie und nach allen Erfahrungen mit Umweltproblemen, die wir in den letzten 50 Jahren gemacht haben, kann eine solche Situation nur zu einer massiven Überlastung der Kapazitäten der Peers führen. Also werden sie sich entlasten. Tun werden sie das, indem sie von der Qualität des Produkts, das im Übermaß zu erbringen von ihnen irrationalerweise erwartet wird, Abstriche machen, ohne den Titel ihrer Leistung zu ändern. Das nennt man, werden gewisse Grenzen überschritten, Täuschung oder Betrug. Der Schluss von Rauch auf Feuer in der Wissenschaft scheint deshalb auch wissenschaftlich bestens gesichert, ohne dass man dazu Unterleibsphänomene der real existierenden Wissenschaft öffentlich thematisieren müsste. Es gibt keinen Grund, gegen das Diskretionsgebot zu verstoßen.

Wissenschafts-Mene Tekel

Dabei ist in Deutschland bereits einmal ein Zeichen an der Wand erschienen, wie es deutlicher kaum sein kann. Ein Experimentalwissenschaftler, der anscheinend massiv gegen Regeln verstoßen hatte, konnte dingfest gemacht werden, allerdings allein deswegen, weil er von sich aus aufgab. Die daraufhin eigens eingerichtete "DFG-Task Force Friedrich Herrmann" richtete erstmals einen Scheinwerfer in Richtung Unterleib der Wissenschaft. Heraus kam sie mit einem Ergebnis, das für alle, die von 1 auf 1+n zu schließen geübt sind, hinreichend erschreckend sein müsste: "Eine der überraschendsten Tatsachen in der Affäre Herrmann/Brach ist die Art und Weise, in der hier gefälscht wurde. Die Duplikationen … sind unglaublich auffällig und plump ausgeführt. Nur aus diesem Grund konnte die Vielzahl an Verdachtsmomenten … gefunden werden. … Es ist … als sehr unwahrscheinlich anzusehen, daß andere Datenfälscher ähnlich vorgehen und sich in vergleichbarer Weise einer möglichen Entdeckung preisgeben würden. … Angesichts der eingeschränkten Mittel, die der Task Force zur Verfügung standen, [war] die Chance recht gering, in einer fertigen Publikation sorgfältig eingefügte Fälschungen nachzuweisen."

D.h., unter den herrschenden Bedingungen ist es selbst im einfachsten Fall, dem der Dokumente produzierenden Experimentalwissenschaften, so gut wie ausgeschlossen, dass ein gut geplanter Betrug nachgewiesen werden kann. Der Grund besteht in der mangelnden Zugriffsmöglichkeit auf Dokumente in der Qualitätssicherung - der Zugriff ist weder im Prozess der Qualitätssicherung üblich noch selbst im Zweifelsfall möglich, in der Regel zumindest: Dokumente gelten als Privateigentum der experimentierenden Forscher, nicht der sie tragenden Einrichtungen; Aufbewahrungspflichten und Zugangsrechte, wie in der Dokumentation wirtschaftlicher Vorgänge gang und gäbe, sind hier, in der Wissenschaft, bislang noch unbekannt. Eine teure und nicht ganz ungefährliche Sparsamkeit in einem Forschungsgebiet, das als Teil der Medizin gilt - wie zuletzt der Hwang-Fall gezeigt hat.

Angelegter Missbrauch

Doch damit nicht genug. Der deutsche Wissenschaftsrat hat kürzlich auf Bitten von Bund und Ländern einen Vorschlag für ein Ranking von Hochschulen gemäß deren Forschungsleistungen vorgelegt.6 In ihm ist der Missbrauch geradezu angelegt.

Dem vermeintlichen Sparsamkeitsgebot gehorchend, hat der Wissenschaftsrat den Output einer forschenden Einrichtung an wissenschaftlichen und damit qualitätsgesicherten Produkten allein als deren Publikationen, und natürlich allein in peer reviewed journals, definiert - diesem Indikator, über dessen fragwürdigen Qualitätssicherungsstatus wir gerade gehandelt haben, ist somit eine zentrale Rolle bei der Bewertung von Forschungsleistungen zugewiesen. Es wird nun hier gefragt, ob dieser Indikator wenigstens in einem Verständnis operationalisiert wurde, welches professionellen, hier also betriebswirtschaftlichen, Standards gerecht wird. Auch hier ist das Ergebnis einer Einschätzung anhand eines nahe liegenden Vergleichsmaßstabs, bezogen aus einem Schwestersystem: Fehlanzeige.

Die Bewertung einer Einrichtung soll - aus Sparsamkeitsgründen - lediglich stichprobenartig vorgenommen werden, deshalb gilt es, Leistungen während eines begrenzten Zeitraums, in der Regel über drei Jahre, zu bestimmen. ‚Also‘, so der bezeichnenderweise mehr oder weniger explizite Schluss, sind die zu evaluierenden Forschungseinrichtungen aufgefordert, diejenigen ihrer Produkte aufzulisten, die in den drei genannten Jahren in peer reviewed journals erschienen sind.

Damit scheint Umsatz mit Leistung gleichgestellt zu sein - das ist einem in Bilanzfragen erfahrenen Ökonomen offenbar. Die Erarbeitung eines Aufsatzes, der in einem peer reviewed journal erscheinen soll, stellt einen aufwändigen Herstellungsprozess dar, der der Produktion eines langlebigen Investitionsgutes analog ist. Das Erscheinungsjahr eines solchen Artikels ist so gut wie nie das Jahr, in dem die zentralen Leistungen für diesen Artikel erbracht wurden - die fielen in den Jahren zuvor an.

Für die Bilanzen von Wirtschaftsunternehmen sind ausgefeilte Methoden entwickelt worden, mit diesem Problem so genannter "zeitlicher Abgrenzung" sachgemäß umzugehen. Dort rechnet man die erbrachten Leistungen gemäß ihrem Entstehen periodengerecht zu und bewertet sie auf Basis eines erwarteten Ertrags. Stellt sich später heraus, dass die erbrachten Aufwendungen im Einzelfall nicht zu dem erwarteten Ergebnis geführt haben, so hat man die Differenz abzuschreiben und auszubuchen - später, aber dann wiederum periodengerecht abgegrenzt, ohne den Ausweis der gegenwärtigen Leistung der evaluierten Einrichtung zu verfälschen.

Die herrschende Praxis im wissenschaftlichen Evaluationswesen ist, von dieserart Komplizierung einfach abzusehen - und der Wissenschaftsrat empfiehlt dieses bilanztechnisch unübliche, um nicht zu sagen ‚unprofessionelle‘ Vorgehen ausdrücklich. Zur Rechtfertigung stellt er fest: "Da es in dem Forschungsrating darum geht, das aktuelle Forschungspotential7 der Einrichtungen möglichst zeitnah zu vergleichen, sollten bibliometrische Daten nach der ‚Current potential‘-Methode (auf Basis der im Forschungsprofil aufgeführten Namen der zum Stichtag beschäftigten Wissenschaftler) erhoben werden."

Es geht nicht um die Feststellung von Leistungen - mit dieser leichten begrifflichen Verschiebung erscheint ein Abgehen von gut begründeten Sitten guter Bilanztechnik begründet. Nur: Die NutzerInnen des Ratings benutzen die Ergebnisse, als ob eine Leistungsbewertung vorgenommen würde - damit sind seitens des Wissenschaftsrats Missbrauchstendenzen angelegt, die für die, welche sehen wollen, auch heute schon erkennbar sind.

Die zu evaluierenden Institute, prominent unter ihnen die wirtschaftswissenschaftlichen zur Beratung der Wirtschaftspolitik, melden unter der Überschrift "Leistungen im Berichtszeitraum" die erschienenen Aufsätze in peer reviewed journals, als ökonomische Peers wissend, dass sie nicht "Leistung", sondern "Cash Flow" melden. LeiterInnen politikberatender wissenschaftlicher Einrichtungen, die zur Evaluierung anstehen und deren MitarbeiterInnen ‚von alleine‘ eben politikberatend und nicht fachintern publizieren, tun gut daran, ihre Personalpolitik an dem Ziel auszurichten, am Stichtag eine hohe Zahl von Publikationen in peer reviewed journals auszuweisen. Sie werden von den Universitäten JungwissenschaftlerInnen abwerben, die zwar in der Ausrichtung der Forschung auf Politikberatung unerfahren sind, aber die in der Bilanz gezählten Publikationen ‚mitbringen‘. Sie werden etablierte UniversitätsakademikerInnen mit entsprechendem Leistungsausweis zumindest nebenamtlich so einbinden, dass sie, des Ausmaßes ihrer faktischen Einbindung ungeachtet, voll im Indikator ‚Forschungsleistungspotenzial‘ durchschlagen. Es ist den LeserInnen überlassen, die hier als zu erwarten formulierten Verhaltensweisen mit den faktisch vorfindlichen abzugleichen.

Im übrigen erklären sich die ellenlangen Verfasserlisten bei etlichen Aufsätzen zwanglos durch den Hinweis, dass es in der wissenschaftlichen Evaluierungspraxis an expliziten Zurechnungsregeln fehlt. Die Folge, aufgrund der herrschenden Praxis: Ein Aufsatz wird in seinem bibliometrischen Impact gemäß der Anzahl der Mitverfasser vervielfacht.

Schlechtes Fazit, mögliche Wege

Ein Anspruch auf Vollständigkeit soll mit dieser Auflistung von Symptomen nicht erhoben werden. Auch WissenschaftlerInnen sind homines oeconomici, und also ist zu erwarten, dass sie ihr Verhalten an den vorgegebenen Maßstäben ausrichten werden, und zwar in ihrer operationalisierten Form, nicht an ihrem Sinn. Nicht zuletzt darin zeigt sich, dass die reale Wissenschaft Teil des Lebens und ihm nicht enthoben ist, so schwer es auch fallen mag, das anzuerkennen.

Sofern das Wettbewerbssystem Wissenschaft mit dem Wettbewerbssystem Sport hinsichtlich seiner Mechanismen vergleichbar ist, und daran besteht kein ernstlicher Zweifel, steht der Wissenschaft noch bevor, was der Sport bereits im Wesentlichen hinter sich hat und was für die Wirtschaft schon seit langem in besichtigbare Institutionen gegossen wurde. Das Wettbewerbssystem Wissenschaft könnte sich entscheiden, aus Erfahrungen anderer, ihrer Schwester-Systeme, lernen zu wollen. Die Wissenschaft müsste nicht, wie die, erst selbst Katastrofen erleben und erst daraus dann Schlüsse ziehen. Sie könnte antizipativ lernen, wie es der Wissenschaft angemessen ist, und damit leidvermeidend. Wenn sie wollte. Es gibt allen Anlass, dass sie wollen sollte.

Anmerkungen

1) Georg Picht, Mut zur Utopie. München 1969, S. 132

2) A. M. Klaus Müller, Diesseits und Jenseits der Wissenschaft, Bd. 1. Braunschweig: TU Braunschweig Mai 1997, S. 9

3) "Eifersucht ist Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft."

4) Ein erfahrener Wirtschaftsprüfer hat mir einmal berichtet, dass und weshalb Unterschlagungen ausgerechnet in kirchlichen Einrichtungen, im Vergleich zu ‚weltlichen‘ Einrichtungen, besonders häufig vorkommen, und das fast notwendigerweise: Das dort herrschende Menschenbild verbiete es, Kontrolle zur Selbstverständlichkeit zu machen.

5) Einen augenöffnenden Test führt durch, wer in eine Suchmaschine im Internet die beiden Stichworte "Sportrecht" und "Wissenschaftsrecht" eingibt und aus dem Vergleich der Ergebnisse auf die völlig unterschiedlich entwickelte Konkretheit der Streitschlichtungsmechanismen in beiden Bereichen schließt.

6) Empfehlungen zu Rankings im Wissenschaftssystem. Teil 1: Forschung. Drs. 6285-04 www.wissenschaftsrat.de/texte/6285-04.pdf

7) Hvhbg. i. Orig.


Dr. Hans-Jochen Luhmann arbeitet in der Forschungsgruppe "Zukünftige Energie- und Mobilitätsstrukturen" am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt u. Energie, vor allem zu klima-, steuer- und wahrnehmungspolitischen Fragen; er ist verantwortlich für Grundsatzfragen.

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