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Klaus Holzkamp

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Wirtschaftsplanung: Mögliche Schritte und Erfahrungen

15.11.2007: Über konkrete Schritte, Macht und Eurozentrismus

Wirtschaftsplanung scheint diskreditiert, ihre Diskussion veraltet – so die seit einiger Zeit herrschende Lehrmeinung. Der historisch geweitete Blick, nicht zuletzt auf die Gegenwart, kommt zu anderen und genaueren Einschätzungen. Karl Georg Zinn gibt eine Übersicht zu Grundlagen, die nicht hintergehbar sind, zur Einbettung von Wirtschaftsplanung in gesellschaftliche Strukturen, zu Handlungsdimensionen und AkteurInnen.

Planung bezieht sich auf die Zukunft und dient der Reduktion von Zukunftsunsicherheit. Ohne planvolles Handeln wäre der Mensch nicht überlebensfähig. Auf diesen anthropologischen Sachverhalt wird noch einzugehen sein. Nach dem jeweiligen Zeithorizont von Planungen wird konventionell zwischen kurzfristigen Plänen (bis ein Jahr), mittelfristigen (bis fünf Jahre) und langfristigen (über fünf Jahre) unterschieden. Alle Einzelwirtschaften (Haushalte, Unternehmen, Staat, nichtkommerzielle Vereinigungen etc.) planen. Diese „individuelle“ Planung sei als elementare Planung bezeichnet. Einzelwirtschaften existieren in einer sozialen Umwelt, auf deren Gestaltung die überwiegende Zahl der (relativ machtlosen) Individuen nur marginalen, nach Null tendierenden Einfluss ausübt. Sie kooperieren und konkurrieren miteinander. Die elementaren Pläne müssen diese Interaktionen in Rechnung stellen. Dies erfordert Koordination der elementaren Planungen. Hierbei können in grober Entgegensetzung die beiden Typen Marktkoordination und koordinierende Planung unterschieden werden. Der (scheinbare) Gegensatz zwischen den beiden Koordinationsverfahren spiegelt sich in der altbekannten Kontroverse „Markt oder Plan“ wider, die seit den Kindertagen der modernen politischen Ökonomie ihre Heftigkeit nicht verloren hat.

Koordinationserfordernisse bestehen jedoch nicht nur zwischen den elementaren Plänen, also zwischen den Einzelwirtschaften, sondern auch innerhalb ihrer müssen diverse Vorhaben, Aktivitäten, Maßnahmen etc. aufeinander abgestimmt und in ein Gesamtkonzept integriert werden. In einem Unternehmen gilt es, Produktentwicklung, Vertrieb, Einkauf, Produktion usw. auf „gemeinsame Linie“ zu bringen, d.h. auf die bestmögliche Realisierung der Zielfunktion des Unternehmens auszurichten (im kapitalistischen Unternehmen: höchstmögliche Kapitalrentabilität). Hierbei handelt es sich um eine der zentralen Fragestellungen der Betriebswirtschaftslehre. Bei der Lösung dieses BWL-Problems wird keineswegs nur auf interne Kooperation und planvolle Koordination gesetzt, sondern die Methode der „internen Märkte“ versucht, Konkurrenzverhalten zugunsten des Unternehmensziels zu instrumentalisieren. Gleiche interne Koordinationserfordernisse stellen sich für die Gebietskörperschaften. Der „Ressortegoismus“ wirkt der Abstimmung der einzelnen Aufgabenbereiche oft entgegen und stört zumindest bei der Konzipierung und Umsetzung eines in sich logisch geschlossenen Regierungsprogramms. Um die mehr oder weniger gelungene interne Koordination der verschiedenen Bereiche eines Unternehmens, einer Gebietskörperschaft usw. zu bezeichnen, sei der Begriff Konsistenzgrad der Planung verwendet. Gemeint ist damit die innere Stimmigkeit, Widerspruchsfreiheit, adäquate Berücksichtigung interner Interdependenzbeziehungen und dergleichen Qualitätsmerkmale, die sich in der Planungsgüte niederschlagen. Der Begriff Konsistenzgrad ist sowohl auf die elementare als auch auf die koordinierende Planung anwendbar.

Soziale Umweltgestaltung

Der Mensch ist kein Robinson, sondern ein soziales Wesen, das nur in einem sozialen Verband – von der Familie über Stamm, Dorfgemeinschaft usw. bis zur nationalen oder Weltgesellschaft – überleben kann. Die individuelle Planung ist somit gar nicht individuell in einem absoluten Sinn, sondern relativ; sie ist eingebettet in das Ensemble der individuellen Planungen der anderen, die die soziale Umwelt bilden. Daraus ergibt sich – ebenfalls als ein anthropologischer Grundsachverhalt – die Notwendigkeit, die individuellen Pläne aufeinander abzustimmen, sie zu koordinieren. Je ausgedehnter und damit komplizierter das soziale Kollektiv, zu dem das Individuum gehört, entwickelt ist, desto komplexer wird die Koordinationsaufgabe. Wie erwähnt, plant jede Einzelwirtschaft bzw. jedes Wirtschaftssubjekt (Haushalt, Unternehmen und dergleichen Wirtschaftseinheiten) und stimmt seine Planung besser oder schlechter auf die Umwelt ab. Die Entwicklung der Umwelt kann nur unsicher prognostiziert werden. Nun dient die einzelwirtschaftliche Planung gerade der Reduktion von Unsicherheit. Daher lag und liegt die Frage nahe, ob die unabdingbare Koordination der einzelwirtschaftlichen Planungen nicht ebenfalls planvoll geschehen soll, um Zukunftsunsicherheit zu reduzieren, statt sich nur auf die von Zufällen, spekulativen Übertreibungen in die eine oder andere Richtung und Manipulationsversuchen der Tauschpartner durchsetzte Marktkoordination zu verlassen. Diese Willkür in der Marktkoordination liefert ein Argument für koordinierende Planung, und es kehrt in der These wieder, dass die Planwirtschaft als rational konstruiertes System dem durch Zufallseinflüsse und systemendogene Krisen und Konjunkturzyklen als instabil erwiesenen Marktmechanismus überlegen sei – jedenfalls theoretisch. In der Praxis erwies sich allerdings, dass die organisationstechnischen Anforderungen einer umfassenden Planwirtschaft nur sehr unzulänglich gelöst werden konnten. Ob dies in fernerer Zukunft dank der Informations- und Kommunikationstechnik besser, gar in idealer Weise gelingen wird, ist eine offene Frage; immerhin wird sie inzwischen wieder diskutiert.1

Für die koordinierende Wirtschaftsplanung, also Planung gesamtwirtschaftlicher Entwicklungen, liegt die Zuständigkeit beim Staat. Er repräsentiert das gesellschaftliche Kollektiv im formalen Sinn, d.h. er kann/soll als demokratischer Staat dem Gemeinwohl dienen, aber auch als absolutistischer, totalitärer, gar faschistischer Staat repräsentiert er formal jenes Kollektiv (z.B. als internationaler Verhandlungs- und Vertragspartner), auch wenn er es unterwirft, ausbeuten lässt und sich schwerster Menschenrechtsverletzungen schuldig macht. Der Staat ist (in der bisherigen Geschichte) die einzige Institution, die beanspruchen kann, ihr Handeln makroökonomisch und gesamtgesellschaftlich zu konzipieren, und vor allem verfügt nur der Staat über die Kompetenz, entsprechende Maßnahmen – ob ein Plan den Weg weist oder nur ad hoc und freihändig entschieden wird, ist damit noch nicht gesagt – wirksam umzusetzen. Wenn der Staat sich der koordinierenden Planung bedient, um (gemeinwohlorientierte?) Entwicklungsziele zu erreichen, muss er sich im Sinn einer technischen conditio sine qua non an den sozialökonomischen Kreislaufzusammenhängen orientieren. Kurz gesagt: Ohne kreislauftheoretische Analyse der Interdependenzen kann kein akzeptabler Konsistenzgrad der koordinierenden Planung erreicht werden. Wirtschaftspolitik, die sich im mikroökonomischen Denken verfangen hat, ist unfähig, jener Anforderung zu genügen, bleibt prinzipiell ineffizient und wird – von günstigen Zufällen abgesehen – gesamtwirtschaftliche Zielsetzungen (z.B. ein hohes Beschäftigungsniveau) regelmäßig verfehlen.

In kurzer Vorwegnahme einiger Kerngedanken zum Thema, die noch ausführlicher dargelegt werden, sei hervorgehoben, dass Marktkoordination und koordinierende Planung hier nicht als Gegensätze begriffen werden, sondern als komplementäre Organisationstechniken. Ob und wie die beiden Koordinationsmechanismen kombiniert werden, ist Resultat staatlicher Ordnungspolitik. Die Vorteile des Marktmechanismus liegen in seiner relativ raschen Reaktionsfähigkeit, der leichteren Anpassung der Produktion an den Konsum und, soweit es sich um wirksame Konkurrenz handelt, in der leistungsförderlichen Anreizfunktion, also in der Anerkennung des Selbstinteresses. Doch die Marktpreise sind überwiegend auf die Vergangenheit bezogen, d.h. sie ergeben sich aus früheren Entscheidungen bzw. Planungen. Marktpreise sind somit nur sehr bedingt tauglich, um mittel- bis langfristige Planungen zu fundieren. Auch die „Zukunftsmärkte“, auf denen spekulative Preisbildung herrscht, sind eine viel zu unsichere und im Zeithorizont zu kurz ausgelegte Informationsquelle für mittel- bis langfristige Dispositionen. Auf Märkten zu operieren, heißt, sich auf kurze Fristen einzustellen – ein bis zwei Jahre, einige Monate, Wochen, Tage oder auch nur Stunden und Minuten, wie an den Börsen. Die langfristige sozialökonomische Entwicklung vorwiegend, gar ausschließlich dem Marktmechanismus zu überlassen, bedeutet nicht nur unverhältnismäßig hohe Abhängigkeit von Zufällen, Willkür und den für Marktprozesse symptomatischen Instabilitäten und Überreaktionen, sondern faktisch werden alle jene Zukunftserfordernisse diskriminiert, die eben nur auf der Grundlage einer gesamtwirtschaftlichen Planung erfüllt werden können. Es gibt deshalb auch keine reinen Marktsysteme, sondern staatliche Planungen finden sich in allen kapitalistischen Marktwirtschaften – in unterschiedlichem Grade und zugunsten sehr verschiedener Interessen bzw. Zielbereiche (etwa Kultur versus Rüstung). Die jeweilige Mischung aus „Markt und Plan“ in einer konkreten „mixed economy“ hängt von den historischen Konstellationen ab, kann deshalb nicht als zeit-und-raum-unabhängiges „Optimum“ fixiert werden. Das Versagen konkreter Wirtschaftsordnungen – so etwa der kapitalistischen Marktwirtschaft in der Großen Depression der 1930er Jahre oder der sowjetischen totalen Planwirtschaft bei der Bewältigung der Innovationserfordernisse und der effizienten Ressourcenverwendung – findet u.E. eine wesentliche Teilerklärung in dem Mangel an Selbstkorrekturpotenzial, der in der Regel mit ideologischem Dogmatismus der Machthabenden einhergeht. Das Potenzial für Selbstkorrekturen des Systems dürfte in funktionierenden Demokratien, d.h. Gesellschaften mit demokratischer Verfassung und einer die Demokratie aktiv schützenden Gesellschaft, eher zu finden sein als in nicht-demokratischen Staaten. Allerdings ist dies nur eine plausible Vermutung; die künftige Geschichte könnte sie widerlegen.

Planung – cui bono?

Planung ist ein Werkzeug. Ganz verschiedenen Zielen kann es dienen. Welche Ziele von wem und wie in der sozialökonomischen Entwicklung verfolgt werden, hat zwar Einfluss auf die Akzeptanz und die Verwendung des Instruments „Planung“, aber die Zielbestimmung ist getrennt davon zu sehen; und sie hat politisch Vorrang vor der Auswahl des Mittels. Entscheidend sind die gesellschaftlichen Machtverhältnisse, unter denen Planung stattfindet. Machtstrukturen lassen sich bipolar typisieren: demokratische versus totalitäre Gesellschaften bzw. Staaten. Eine informativere Typisierung wird allerdings über diese Eindimensionalität hinausgehen und die verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereiche bzw. Subsysteme auf ihren demokratischen bzw. totalitären Charakter hin differenzieren. Insbesondere sind neben der staatlichen Macht die aus dem Eigentum an Produktionsmitteln erwachsende Macht, die Macht, die mit kollektiver Organisation erreicht werden kann, sowie Macht durch Beherrschung von Informationssystemen zu berücksichtigen, und es wäre zu untersuchen, in welcher Relation diese Machtkomplexe zueinander stehen. Wegen der herausragenden Bedeutung des Produktionsmitteleigentums für die ökonomische Macht ist zwischen autergen (sozialistischen) und allergen (kapitalistischen) demokratischen Gesellschaften zu unterscheiden. Im Hinblick auf die dominierende Stellung des Wirtschaftlichen in der „modernen“ Gesellschaft wären als weitere Differenzierungsmerkmale der Anteil des Staates an der gesamtwirtschaftlichen Leistung (Staatsquote) und seiner Finanzierung (Steuerquote) sowie der Umfang öffentlicher/staatlicher Unternehmen und dergleichen einzubeziehen. Es versteht sich, dass hier nicht detaillierter darauf eingegangen werden kann. Es galt nur zu verdeutlichen, dass die Frage nach Sinn und Umfang gesellschaftlicher Planung nicht losgelöst von politischen und sozialökonomischen Machtstrukturen – und somit von historischen Konstellationen – diskutiert werden sollte.

Planung und Prioritäten

Planung gehört zu den artspezifischen Verhaltensmerkmalen des Menschen, findet sich in rudimentären Formen aber auch bei Tierprimaten – und wohl auch bei anderen höher entwickelten Tieren. Es geht nämlich um den „einfachen“ Sachverhalt, dass das gegenwärtige Handeln und Verhalten auf künftige Situationen hin strukturiert wird. Die als möglich erachteten künftigen Zustände müssen vergegenwärtigt werden. Der Mensch erlebt diese „Zeitrepräsentation“, also das Vorstellen von künftigen – und auch vergangenen – Weltzuständen bewusst. Der Mensch kann sich Zukunftszustände bewusst vorstellen, sie kreativ entwerfen und sich Ziele setzen, auf die hin sein Handeln zielführend ausgerichtet wird. Hierzu benutzt er die ihm (historisch) verfügbaren Mittel. Dank des wissenschaftlich-technischen Fortschritts wurden seine Mittel bekanntlich verbessert und vervielfacht, und damit wuchs auch die Planungssicherheit. Planung ist Teil rationalen Vorgehens, um ein Ziel zu erreichen. Planung konzipiert zweckmäßige Mittel-Ziel-Beziehungen und stellt selbst ein Mittel, keinen Zweck dar. Es wäre schon eigenartig, wenn der wissenschaftlich-technische Fortschritt bei der Verbesserung der Mittel ausgerechnet die Planung ausnehmen würde.

Der Zukunftsbezug der Planung impliziert, dass bei der Gestaltung des sozialökonomischen, gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses jene Bereiche Vorrang erhalten, die für den dauerhaften Fortbestand von Wirtschaft und Gesellschaft existenzielles Gewicht haben; Bereiche also, in denen heutige Entscheidungen und heutiges (Nicht-)Handeln weitreichende, meist auch irreversible Folgen haben. Welchen Bereichen und Aufgaben Priorität faktisch gegeben wirkt, hängt von Interessenkonstellationen, Machtverhältnissen und den korrespondierenden ideologischen Deutungsmustern ab. Doch dürfte mehrheitlich Konsens über die Zukunftswichtigkeit folgender Handlungsfelder bestehen, da sie Voraussicht erfordern und bei ihnen daher koordinierende Planung geboten ist: Sachkapitalbildung (Infrastruktur- und Unternehmensinvestitionen), die Qualifizierung der Arbeitskraft (Ausbildungs- bzw. Bildungsinvestitionen) und die Verkoppelung von Ausbildungs- und Beschäftigungssystem, die psychosoziale bzw. mentale Persönlichkeitsbildung der Gesellschaftsmitglieder, die Systeme der sozialen Sicherheit, der Umweltschutz und die Versorgungssicherheit bei Energieträgern und anderen natürlichen Ressourcen. Zwischen den verschiedenen Bereichen bestehen starke Interdependenzen. Nicht zuletzt bestimmen Umfang und Struktur der Investitionen i.w.S., ob und wie sich die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft entwickeln wird. Daher stehen die Investitionen auch immer im Zentrum der koordinierenden Planung. Dieser Sachverhalt lässt sich sowohl an den historischen Planungssystemen als auch am planungstheoretischen Denken belegen.

Akkumulation – Herzzentrum

Alle Schulen der politischen Ökonomie stimmen darin überein, dass der Akkumulationsprozess, die Investitionstätigkeit, den Herzschlag des modernen Wirtschaftskörpers bestimmt. Diese zentrale volkswirtschaftliche Stellung der Investitionstätigkeit erfordert hier eine etwas ausführlichere Erläuterung. In „Mangelwirtschaften“, wie sie die armen Länder, die so genannten Entwicklungsländer, charakterisiert, oder wie sie während und nach verheerenden Kriegen zustande kommen, sind die Investitionsmittel extrem knapp; der gesamtwirtschaftliche Überschuss (Surplus) reicht bei weitem nicht aus, um über rein marktwirtschaftliche Allokation die vordringlichen Investitionsprojekte abzudecken. Daher lassen sich die als vorrangig geltenden Investitionen nur durch mehr oder weniger starke verwaltungswirtschaftliche Regelungen realisieren. Der Staat interveniert zugunsten der privaten und öffentlichen Investitionstätigkeit, fördert die Ersparnisbildung und beschränkt den Konsum entsprechend. In hoch entwickelten, reichen Volkswirtschaften besteht eine völlig andere Konstellation. Hier wird das Produktionspotenzial in der Regel nicht voll beansprucht, weil das private Investitionsvolumen den bei Gesamtauslastung des Produktionspotenzials (Vollbeschäftigung) verfügbaren Überschuss nicht gänzlich absorbiert. Der marktwirtschaftliche „Selbststeuerungsmechanismus“ bewirkt – um Keynes’ Begriff zu verwenden – ein „Gleichgewicht bei Unterbeschäftigung“, und das vom Produktionspotenzial her mögliche Wachstum der Volkswirtschaft wird systematisch unterschritten.2 Die Volkswirtschaft bleibt hinter ihren Möglichkeiten zurück. Nur unter temporären Ausnahmebedingungen bringt eine interventionsfreie Marktwirtschaft ein Vollbeschäftigungsgleichgewicht zustande, wie es von den klassischen und neoklassischen Ökonomen im Sinn des „Sayschen Theorems“ (= „Jedes Angebot schafft sich seine Nachfrage“) als „Normalfall“ deklariert wird. Für diesen Normalfall gibt es nur wenige historische Beispiele; es sind eben gerade Ausnahmen von der Regel. Die Regel entspricht vielmehr dem Keynesschen Unterbeschäftigungsgleichgewicht. Keynes postulierte daher schon in seinem 1936 erschienenen Hauptwerk „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ die „Sozialisierung der Investitionstätigkeit“3. Gemeint ist damit nicht eine eigentumsrechtliche Sozialisierung der Produktionsmittel, sondern die unter staatlicher Leitung stehende makroökonomische Investitionsplanung. Hiermit sollen private und öffentliche Investitionen in einem gesamtwirtschaftlichen „Kapitalbudget“ (capital budget) im Voraus aufeinander abgestimmt werden, um zu gewährleisten, dass das gesamtwirtschaftliche Investitionsvolumen der Vollauslastung (Vollbeschäftigung) des Produktionspotenzials genügt. Die als „Nationalbudget“ bezeichnete Vorausprojektion der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung erfordert jedoch eine Proportionierung der verschiedenen Kreislaufaggregate. Vor allem geht es dabei um die Relation zwischen Konsum und Investition, die nur in engen Grenzen variabel gestaltet werden kann: Auf mittlere Frist führt ein „Zuviel“ an Investitionen (zu viel in Relation zum Endnachfrage-Wachstum) zu Überproduktion und Krise mit Arbeitslosigkeit und Kapitalvernichtung; zu geringe Investitionen bremsen hingegen den technischen Fortschritt und mindern i.d.R. die Wettbewerbsfähigkeit. Die Befürworter gesamtwirtschaftlicher Planung misstrauen dem „Automatismus“ des Marktsystems; er versage gerade bei Proportionierungsaufgaben. Die Anhänger der marktwirtschaftlichen Gleichgewichtstheorie sind bekanntlich vom Gegenteil überzeugt und befürchten, dass die „Planungsbürokratie“ gerade erst die Übel schüfe, denen sie vorzubeugen beabsichtige.

Blinder Eurozentrismus

Die Zeit heißer ordnungspolitischer Debatten liegt schon einige Jahrzehnte zurück, und der Zusammenbruch des sowjetischen Planwirtschaftssystems 1989/90 wurde von den ideologischen Generalstäblern auf der kapitalistischen Seite als endgültiger Sieg der „freien Marktwirtschaft“ verkündet. Dieses Blickfeld ist historisch und geografisch eng, reicht kaum über die Ländergrenzen der Etappensieger im Systemkonflikt hinaus. Welche Wirtschaftsordnung zum Ende dieses Jahrhunderts das globale Referenzmodell bieten wird, liegt heute zwar noch im Nebel der Zukunft, aber es erscheint hoch plausibel, dass es nicht das euro-atlantische des Jahres 2007 sein wird. Der Markt wird sicherlich nicht abgeschafft werden, aber gesamtgesellschaftliche Planung hat wahrscheinlich die größere Zukunft. Für diese Einschätzung sprechen besonders die weltgeschichtlichen Veränderungen in Ostasien. Erste Katalysatorwirkungen sind bereits sichtbar: Unter dem Schlagwort „Industriepolitik“ wird der Abwehrprotektionismus – Abwehr gegen „Ausverkäufe“ bundesdeutscher Schlüsselindustrien an „östliche“ Investoren – wieder ordnungspolitisch respektabel.4 Insbesondere das „chinesische Modell“ wird den euro-atlantischen Kulturzentrismus als ideologische Selbstgefälligkeit desavouieren. Das bevölkerungsreichste Land der Erde, das seit einem viertel Jahrhundert mit seinen Wachstumsraten an der Spitze aller Volkswirtschaften steht, sein Wachstum auch ohne die in kapitalistischen Ökonomien seit 200 Jahren bekannten regelmäßigen Konjunkturzyklen und tiefen Krisen vollzieht, das im Verlauf der – von einer kommunistischen Führung eingeleiteten – Wirtschaftsreformen etwa zwei Fünfteln (= 400 Millionen Menschen) seiner Einwohner einen erheblichen Anstieg des Lebensstandards ermöglichte, das gegenwärtig (Juli 2007) über mehr als 1200 Milliarden US-Dollar Devisenreserven verfügt und auf das als Champion im Rennen um die Weltmachtstellung zum Ende des 21. Jahrhunderts gewettet wird, instrumentalisiert zwar Marktwirtschaft und Kapitalismus für seine Entwicklung, und zwar mit sehr inhumanen, kriminellen Nebeneffekten, doch das chinesische Modell ist keine „Marktwirtschaft“ im Sinn der heute im Westen herrschenden neoliberalistischen Ordnungslehre; sondern Staatsinterventionismus, verwaltungswirtschaftlicher Zentralismus und – für unser Thema besonders relevant – langfristige, makroökonomische Planung bilden Wesensmerkmale des chinesischen Wirtschaftssystems. Und allem Anschein nach wird sich das nicht ändern5.

Das Thema gesellschaftliche Planung erscheint nur obsolet vom eurozentristischen Standpunkt aus; global und historisch betrachtet berührt es aber die ordnungspolitischen Kernfragen der Zukunft. Joseph Needham (1900 – 1995), dem der Westen die Entdeckung des wissenschaftlich-technischen China verdankt, hielt sich zu der „Prophezeiung“ berechtigt, dass gerade der vom westlichen Wirtschaftsliberalismus mit Abscheu betrachtete „Bürokratismus“ der asiatischen Großmacht das Potenzial enthalte, in einer Menschheitsepoche mit noch nie erlebten demografischen Veränderungen problemgerechte Lösungen zu generieren: „... vielleicht war in der Muschel des mittelalterlichen Bürokratismus der ChinesInnen der Geist einer nicht dominierenden Gerechtigkeit des Sozialismus eingeschlossen. Möglicherweise sind die für die Chinesen bedeutsamen Traditionen viel leichter mit einer wissenschaftlichen, kooperativen Weltgemeinschaft in Übereinstimmung zu bringen als die Grundanschauungen der Europäer.“6

Anhänger des neoliberalistischen Dogmas meinen selbstverständlich, dass die chinesische Wachstumsstärke allein dem kapitalistischen Aufbruch zuzuschreiben ist, und nicht wegen, sondern trotz des ausgedehnten Staatssektors und der staatlichen Eingriffsintensität zustande kam. Diese Deutung dürfte jedoch eher eurozentristischem Wunschdenken als der chinesischen Wirklichkeit gerecht werden. Der Realität kommen da schon Einschätzungen näher, die China durchaus als eigenständiges, historisch bisher beispielloses Modell begreifen: „Wie in allen politischen Fragen ist China auch beim Wirtschaftssystem ein äusserst komplexer Sonderfall“, stellt ein China-Korrespondent der „Neuen Zürcher Zeitung“ fest und bemerkt bedauernd: „China ist keine Marktwirtschaft, und es muss ernsthafte Zweifel geben, dass es in absehbarer Zeit eine marktwirtschaftliche Ordnung wird errichten können“.7

Anmerkungen

1) Vgl. Heinz Dieterich, Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie nach dem globalen Kapitalismus, Berlin 2006; W. Paul Cockshott/Alin Cottrel, Alternativen aus dem Rechner. Für sozialistische Planung und direkte Demokratie, Köln 2006; Joachim Tesch, Sozialismus aus dem Computer?, in: Hans-Georg Draheim/Dieter Janke, Hg., Legitimationskrise des Neoliberalismus – Chance für eine neue politische Ökonomie?, Leipzig 2007, S.186-203.

2) Für den Stagnationsfall, d.h. auf einem Entwicklungsniveau, das die Wohlstandswirkung weiteren Wachstums äußerst fragwürdig werden lässt, weshalb auch die Nachfrage- und damit die Wachstumsdynamik sinken, empfahl Keynes eine Anpassung des Arbeitskräfteangebots, nämlich Arbeitszeitverkürzungen. Vgl. Keynes' Langfristprognose für die Nachkriegsentwicklung aus dem Jahr 1943: John Maynard Keynes, The Long-term Problem of Full Employment, in: Derselbe, Collected Writings, Bd. 27, London-Basingstoke 1980, S.325-330, passim; Derselbe, Post-War Employment: Note by Lord Keynes on the Report of the Steering Committee, in: ebenda, S.364-372, passim.

3) John Maynard Keynes, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes; Übersetzung von Fritz Waeger, korrigiert und überarbeitet von Jürgen Kromphardt und Stephanie Schneider, 10. verbesserte A., Berlin 2006, S.314 ff.

4) Vgl. Steinbrück fordert Industriepolitik. Bundesfinanzminister will ausländisches Kapital in Schlüsselbranchen wie Banken, Energie und Post kontrollieren, in: Handelsblatt, Nr. 127, vom 5. Juli 2007, S.1.

5) Bei der „Langfristorientierung“ dürften in starkem Maße auch kulturelle bzw. mentale Grundeinstellungen des Kollektivs einflussreich sein. Vgl. Geert Hofstede, Lokales Denken, globales Handeln. Interkulturelle Zusammenarbeit und globales Management, 2. A., München 2001, S.230 ff. passim; Dirk Bergrath, Der kulturelle Faktor im sozialökonomischen Geschichtsverlauf. Die Entwicklungstheorie Alfred Webers mit einer Anwendung auf die Kulturbewegung Chinas, Marburg 2006; Karl Georg Zinn, Kulturelle Unterschiede als Einflußgröße auf das wirtschafts- und gesellschaftspolitische Handeln – zu den nationalen Differenzen in der EURnehmung sozialer Gerechtigkeit, in: Alexander Grasse/Carmen Ludwig/Berthold Dietz, Hg., Soziale Gerechtigkeit. Reformpolitik am Scheideweg. Festschrift für Dieter Eißel zum 65. Geburtstag, Wiesbaden 2006, S.243-256.

6) Joseph Needham, Joseph, Wissenschaftlicher Universalismus. Über Bedeutung und Besonderheit der chinesischen Wissenschaft, hg. von Tilman Spengler, 3. A., Frankfurt/M. 1993, S.70.

7) Siehe Urs Schoettli, Staatskapitalismus im Reich der Mitte. Zwingt der wirtschaftliche Erfolg Chinas zu einem ordnungspolitischen Umdenken?, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 143, 23./24. Juni 2007, S.13. Vgl. auch Karl Georg Zinn, Chinesischer Kapitalismus, sozialistische Marktwirtschaft oder eine neue gemischte Wirtschaftsordnung?, in: Olaf Gerlach / Stefan Kalmring / Andreas Nowak, Hrsg., Mit Marx ins 21. Jahrhundert. Zur Aktualität der Kritik der Politischen Ökonomie. Klaus Peter Kisker zum 70. Geburtstag, Hamburg 2003, S.244-261.


Karl Georg Zinn ist em. Hochschullehrer für Volkswirtschaftslehre der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen. Seine Arbeitsgebiete sind Makroökonomie, Geschichte der politischen Ökonomie, kulturelle Determinanten der sozialökonomischen Entwicklung.

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