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Klaus Holzkamp

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Wissenschaft und Gewerkschaft von unten

06.01.2016: Interviewforschung in der anarcho-syndikalistischen Gewerkschaftspraxis

  
 

Forum Wissenschaft 4/2015; Foto: saster / Photocase.de

Das Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Wissenschaft betrifft auch die Frage, wer Wissenschaft betreibt und wie wissenschaftliche Arbeit organisiert wird, also auch in welchem Rahmen sie stattfindet. Die Digitalisierung hat neue technologisch basierte Handlungsmöglichkeiten hierfür eröffnet. Aber schon seit langer Zeit wird wissenschaftliche Forschung außerhalb der stark vermachteten öffentlichen Institutionen selbst organisiert, wie Ricardo Kaufer am Beispiel der anarchosyndikalistischen Bewegung aufzeigt.

Anarchosyndikalistische Gewerkschaftspraxis, als klassenkämpferische Organisierung der Lohnabhängigen basierend auf den Prinzipien der Selbstbestimmung, Selbstorganisation und Solidarität, stellt eine Alternative zu hierarchisch organisierten und sozialpartnerschaftlich ausgerichteten Gewerkschaftsapparaten dar. Rudolf Rocker formulierte über die theoretischen Ursprünge des Anarchosyndikalismus, dass "its theoretical assumptions are based on the teachings of Libertarian or Anarchist Socialism, while its form of organization is largely borrowed from revolutionary Syndicalism, which in the years from 1900 to 1910 experienced a marked upswing, particularly in France. It stands in direct opposition to the political Socialism of our day, represented by the parliamentary labour parties in the different countries"1.

Wissenschaft von unten

Der "Anarcho-Syndikalismus wurde als gewerkschaftliche Organisationsform vom Ende des 19. Jahrhunderts an bedeutsam im Kampf der Menschen für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen, gegen Kriege, Ausbeutung und Unterdrückung. Seine Wurzeln reichen noch weiter zurück. Mithilfe des Anarchismus (anarchia = frei von Herrschaft) eine umfassende gesellschaftliche und ökonomische Analyse zu erbringen, bewirkte die Umsetzung von Erfahrungen und Erkenntnissen in konkretes politisches und soziales Handeln, auch im Rahmen gewerkschaftlicher Organisierung"2.

Zentrale Annahme ist, dass "die freie Gesellschaft nur von allen, d.h. der Basis selber, aufgebaut werden kann"3. Gesellschaftliche Befreiung, verstanden als auf freier Vereinbarung beruhende Selbstverwaltung aller Lebensbereiche, und die (intellektuellen) Mittel dazu können nur von der Basis, also den Menschen, die derzeit Subjekte verschiedenster Herrschaftsverhältnisse (Kapital, Staat) sind, ausgehen, was impliziert, dass das Wissen über die Freiheitsbeschränkungen und Herrschaftsverhältnisse ebenfalls eigenhändig von der Basis erhoben werden muss, wodurch Erfahrungen entstehen, die über eine bloße Rezeption universitärer und außeruniversitärer (Expert_innen-)Forschung hinausreichen können.4 Welche Funktionen kann Wissenschaft von unten in der anarchosyndikalistischen Praxis und im Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung einnehmen? Ziel der folgenden Ausführungen ist es, einen Blick auf anarchosyndikalistische Wissenschaft von unten und Bewegungsforschung zu werfen und ihre Bedeutung für eine freie Gesellschaft der basisdemokratischen Ordnungen anzudeuten. Wissenschaft von unten wird in dieser theoretischen Perspektive als ein Schritt zur Entwicklung basisdemokratischer Orientierungen aufgefasst.

Bewegungsforschung und die Bildung der Lohnabhängigen

Der Zusammenhang von Wissenschaft und Demokratie hat seinen zentralen Ort in der außeruniversitären Bewegungsforschung und in der selbstorganisierten Forschungspraxis der Lohnabhängigen.5 Die Aufklärung über die soziale Lage der Lohnabhängigen ist Voraussetzung der Überwindung von Ausbeutung, Unterdrückung und Herrschaft. Der Bewusstwerdung über die Position und die Handlungsmöglichkeiten innerhalb gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse kommt dabei eine wichtige Funktion als Element der Arbeiter_innenbildung zu. Rudolf Rocker formulierte diesbezüglich, dass der Anarchosyndikalismus "the school for the intellectual training of the workers" sei "to make them acquainted with the technical management of production and economic life in general, so that when a revolutionary situation arises they wilI be capable of taking the socio-economic organism into their own hands and remaking it according to Socialist principles"6. Der wissenschaftliche Zugang zur Produktion und zu den Herrschaftsverhältnissen muss folglich von den Lohnarbeiter_innen selbst erlernt werden. Auf dem Weg zur Bildung eines klassenkämpferischen Bewusstseins bleibt den Lohnabhängigen jedoch der Zugang zur universitären Wissenschaft, selbst der kritischen Sozialwissenschaft, und ihren Erkenntnissen über Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse als Voraussetzung der Negation dieser Strukturen in der Regel versperrt. Die Anforderungen und Anstrengungen der Lohnarbeit schließen regelmäßig die Kenntnis des State of the Art einzelner Disziplinen oder wissenschaftlicher Diskurse aus. Zudem ist eine Teilhabe der Lohnabhängigen an gesellschaftlicher Wissenschaft nicht gewünscht, da sowohl das Bildungs- als auch das Wissenschaftssystem streng selektiv auf Verwertbarkeit der Arbeitskraft ausgerichtet sind. Gegen diesen Zustand des Ausschlusses der Lohnabhängigen aus der Wissenschaft und der gesellschaftlichen Bewusstseinsbildung stellt das Institut für Syndikalismusforschung eine Organisation der Wissenschaft von unten dar und sieht seine zentrale Aufgabe deshalb darin "die praktischen Aktivitäten der syndikalistischen Bewegung auf historisch-theoretischer Ebene zu begleiten. Dazu gehören die Tätigkeitsbereiche: Forschen, Archivieren, Publizieren, sowie die Beratung im Sinne freiheitlich-emanzipatorischen Wirkens"7. Das SyFo-Institut ist eine Organisation der anarchosyndikalistischen Bewegungsforschung, die insbesondere die Geschichte der radikalen Arbeiter_innenbewegung aufarbeitet. Daneben gibt es weitere anarchistische Forschungseinrichtungen, z.B. das Centre International de Recherches sur l'Anarchisme (CIRA), welche die Entwicklungen der libertären Widerstandsbewegungen dokumentieren.

Lohnspiegel als Methode anarchosyndikalistischer Forschung

Die direkte Aktion, z.B. Streik, Boykott, Sabotage oder Propaganda, ist der zentrale methodische Begriff der anarchosyndikalistischen Bewegung.8 Grundlage des Streiks und anderer direkter Aktionen mit dem u.a. von Rocker formulierten Ziel, "lower the rate of profit of the capitalists under existing conditions, and to raise the producer's share of the products of his labour to the highest possible"9, ist die Erhebung des Wissens über die sozioökonomische Situation der Lohnabhängigen eines Unternehmens, einer Branche, einer Stadt oder einer Region. Die Erhebung von Daten über die Entwicklung der Produktivkräfte und die Entwicklung der Löhne und Arbeitsbedingungen in Unternehmen, Branchen und Regionen10 ist eine Bedingung für erfolgreiche Arbeitskämpfe um einen höheren Anteil der Lohnarbeiter_innen an ihren Arbeitsprodukten.11 So können sich Lohnabhängige, z.B. unter prekären Bedingungen Beschäftigte, über die Unterschiede der arbeits- und sozialrechtlichen Standards in Branchen und Regionen informieren und daraus Schlussfolgerungen für notwendige und mögliche Arbeitskämpfe, Solidaritätskampagnen oder andere Aktionen ziehen.

Methodisch können die Lohnabhängigen, die Daten über ihre sozioökonomische Lage erheben und Analysen für gewerkschaftliche Kämpfe erstellen wollen, situationsangemessen über die konkrete Vorgehensweise entscheiden. Die entsprechenden methodologischen Fragestellungen lauten: Soll eine stärker quantitative oder eine qualitative Interviewforschung betrieben werden? Wie können die Methodenstränge verbunden werden um die realitätsangemessensten Ergebnisse zu erzielen? Für die Erstellung des Lohnspiegels werden meist standardisierte Fragebögen zu den Kerndaten des Lohnarbeitsverhältnisses erstellt. Dazu gehören etwa Daten über den Betrieb des Beschäftigten, die Art des Beschäftigungsverhältnisses (Befristung, Teilzeitarbeit, Ausbildung, etc.), die Entlohnung, die Arbeitsdauer und über arbeitsrechtliche Standards (Informationen über Arbeitsschutzbestimmungen, Bereitstellung von Arbeits- und Schutzkleidung, Urlaub). Teilweise stellen anarchosyndikalistische Gewerkschaften im Internet Masken zur Eingabe von Daten über Lohnarbeitsverhältnisse in Regionen zur Verfügung.12 Ergänzend und fallbezogen können auch teilstandardisierte Tiefeninterviews anhand von Interviewleitfäden durchgeführt werden. Sinnvoll kann diese qualitative Vorgehensweise sein, wenn biographische und gruppenspezifische Hintergründe erschlossen werden sollen. Relevant ist Letzteres insbesondere, wenn die Untersuchungen das Thema Migration und Arbeit zum Gegenstand haben.

Wissenschaft von unten aus anarchosyndikalistischer Perspektive ist jedoch nicht auf die Erstellung von Lohnspiegeln beschränkt. Die Erstellung von theoretischen Konzepten für alternative Wirtschaftsformen als Vorwegnahme einer postkapitalistischen Wirtschaft gehört ebenfalls dazu.13

Fazit

Die Vereinigung von geistiger und körperlicher Arbeit nach Pjotr Alexejewitsch Kropotkin14 als Bestandteil einer ganzheitlichen Bildung und einer Zusammenführung von Wissenschaft und Demokratie bedarf einer Wissenschaft von unten, welche allen Menschen die Fähigkeiten der und den Zugang zur Erarbeitung von Wissen ermöglicht. Dabei müssen die Wissenschaftler_innen von unten ein Bewusstsein über den Wert der Selbstverwaltung in allen Lebensbereichen entwickeln. Anarchosyndikalistische Gewerkschaften mit ihrer starken Betonung der Selbstverwaltung und der gegenseitigen Hilfe können hier stilprägend sein. Eigenständige Datenerhebung durch die Lohnabhängigen kann einerseits das Selbstbewusstsein steigern, welches den Lohnabhängigen auf Grund der Trennung von Hand- und Kopfarbeit in der kapitalistischen Gesellschaft fehlen kann, und zugleich Voraussetzung für ein Bewusstsein über die Möglichkeit gelingender Selbstverwaltung sein. Wissenschaft von unten schafft somit neben der Bewusstseinsbildung der Lohnarbeiter_innen die Voraussetzungen für die Abschaffung eines Verständnisses von Wissenschaft und Bildung als Instrumente der Kapitalverwertung. Alle Wissenschaftler_innen von unten, welche den Zugang zu den Erkenntnissen der Bewegungsforschung, z.B. das DadAWeb als Archiv der Anarchismusforschung15, bereitstellen, bereiten den Weg für eine ganzheitliche Bildung ohne deren Instrumentalisierung für Herrschaftsinteressen. Anarchistische Wissenschaft von unten kann in dieser Form auch zur Kritik und Negation der Relevanzkriterien der universitären Wissenschaften, z.B. Anzahl und Relevanz der Publikationen, Zitationshäufigkeit, Verwertung des Wissens durch politische Entscheidungsträger_innen, beitragen.

Anmerkungen

1) Rudolf Rocker 1989: Anarcho-syndicalism, London, abrufbar unter: libcom.org/files/Rocker%20-%20Anarcho-Syndicalism%20Theory%20and%20Practice.pdf: 82.

2) Anarchopedia 2015: "Anarcho-Syndikalismus", abrufbar unter: deu.anarchopedia.org/Anarchosyndikalismus.

3) Ebd.

4) Vgl. die Kritik des Expertentums bei Paul Feyerabend 1996: "Experten in einer freien Gesellschaft", in: Paul K. Feyerabend: Thesen zum Anarchismus: Artikel aus der Reihe "Unter dem Pflaster liegt der Strand", Berlin: 38-57.

5) Ebd.: 38 ff.

6) Siehe Fn 1: 86.

7) Institut für Syndikalismusforschung: Über uns, abrufbar unter: www.syndikalismusforschung.info/syfo.htm.

8) Siehe Fn 1: 119.

9) Ebd.: 110.

10) FAU Erfurt/Jena: Lohnspiegel der Minijobs in Jena, abrufbar unter: www.fau.org/ortsgruppen/erfurt-jena/Lohnspiegel-jena, vgl. auch FAU Regensburg: Lohnspiegel der Regensburger Gastronomie, abrufbar unter: fauregensburg.files.wordpress.com/2013/12/lohnspiegel-end2.png.

11) Siehe Fn 1: 110.

12) Vgl. FAU Dresden: Lohnspiegel - Vergleich von Arbeitsbedingungen in der Dresdner Gastronomie, abrufbar unter: dresden.fau.org/lohn/.

13) Vgl. FAU Berlin: Konzept UNION COOP - GEWERKSCHAFTLICHER KOLLEKTIVBETRIEB, abrufbar unter: berlin.fau.org/text/Konzept-Union-Coop-Gewerkschaftlicher-Kollektivbetrieb.pdf?lang=de.

14) Vgl. Pjotr Alexejewitsch Kropotkin 1976: Landwirtschaft, Industrie und Handwerk, oder: Die Vereinigung von Industrie und Landwirtschaft, geistiger und körperlicher Arbeit, Berlin.

15) Das DadAWeb als Datenbank des deutschsprachigen Anarchismus ist, so die Selbstbeschreibung der Wissenschaftler_innen von unten, ein Forschungsprojekt mit einer Laufzeit von bisher fast 30 Jahren. Daran lässt sich auch ablesen, wie kontinuierlich und zielstrebig außeruniversitäre und radikale Wissenschaft von unten betrieben werden kann. Abrufbar unter: dadaweb.de/wiki/Hauptseite.


Ricardo Kaufer ist Staats- und Politikwissenschaftler und Mitglied der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft FAU. Seine Interessen- und Untersuchungsschwerpunkte sind materialistische Staatstheorie, anarchistische Herrschaftskritik und die Untersuchung globaler Landnutzungs- und Ressourcenpolitiken.

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