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Mythos Autonomie

29.09.2014: Zur Gründungsgeschichte der Universität Frankfurt am Main

  
 

Forum Wissenschaft 3/2014; Foto: misterQM/Photocase.de

Die Gründung der "Stiftungsuniversität" Frankfurt am Main 1914 erfolgte aus kommunalen und privaten Mitteln, ohne finanzielle Unterstützung des Staates. Daraus wurden Forderungen nach einer weitergehenden Autonomie abgeleitet, als sie sonst an preußischen Hochschulen üblich war. 2008 wurde die Universität unter Berufung auf diese Tradition in eine Stiftung öffentlichen Rechts umgewandelt und erneut stand der Autonomiegedanke im Zentrum. In seinem Beitrag versucht Jürgen Schardt, den Charakter dieser Autonomie entlang der Gründungsgeschichte herauszuarbeiten.

Die Idee der Gründung einer staatlichen Universität war unter den wohlhabenden Bürger_innen Frankfurts nicht besonders populär. Im Laufe des 19. Jahrhunderts hatten sich hier zahlreiche Gesellschaften, Stiftungen und Vereine gebildet, die - reichlich ausgestattet und weitgehend unabhängig - wissenschaftliche Forschung und Lehre betrieben. Die preußische Bildungspolitik war dagegen für restriktive Eingriffe in die Autonomie der Hochschulen bekannt, insbesondere in Berufungsfragen. Auf Seiten des preußischen Landtags wurden die Vorbehalte gegenüber dem Frankfurter Universitätsprojekt geteilt, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen: Konservative Parteien und Zentrum, aber auch weite Teile der Nationalliberalen sahen darin die Gefahr einer Verwässerung des preußischen Bildungssystems, denn die Frankfurter Stadtvertretung mit ihrer starken sozialdemokratischen Fraktion wurde als "liberal, demokratisch, jüdisch" verschmäht.1

Es bedurfte daher außerordentlichen diplomatischen Geschicks, um zwischen den beiden Polen zu vermitteln.

Franz Adickes, Abgeordneter im preußischen Herrenhaus und Oberbürgermeister von Frankfurt, hatte unter anderem mit umfassenden städtebaulichen Maßnahmen seit seinem Amtsantritt 1890 die kapitalistische Modernisierung konsequent vorangetrieben. In diesem Kontext ist auch die Gründung der Universität zu sehen, die er wesentlich mitinitiierte: Als Ersatz für die im Zuge der preußischen Annexion 1866 verlorene Souveränität sollten damit Industrie und Handel durch wissenschaftliche Dienstleistung unterfüttert und ein weiterer Attraktionspunkt für wohlhabendes Publikum geschaffen werden. Mitte der 1890er Jahre hatte Adickes mit dem preußischen Ministerialdirektor Friedrich Althoff Kontakt aufgenommen, der mit dem "System-Althoff" synonym für die Bildungspolitik jener Jahrzehnte stand. Beiden gemeinsam war ein Hang zu wirtschaftlichem Liberalismus sowie einer autoritären Politik, die insbesondere gegenüber den Organisationen der Arbeiterklasse praktisch wurde. In Frankfurt kreierten sie das Institut für experimentelle Therapie (im Folgenden: Paul-Ehrlich-Institut), das aus privaten und staatlichen Mitteln finanziert wurde und seine Forschung in enger Kooperation mit der vor Ort ansässigen Pharmaindustrie betrieb. Ein Vertreter der IHK sollte später einmal sagen, mit diesem Institut sei "der Kampf" um die Gründung der Universität aufgenommen worden.2 Tatsächlich lassen sich daran exemplarisch wesentliche Dimensionen dessen zeigen, was die Autonomie Frankfurts gegenüber anderen Universitäten auszeichnete.

Autonomie I: Das Paul-Ehrlich-Institut

Paul Ehrlich forschte an Sera zur Heilung von Krankheiten. Die Sinnhaftigkeit dieser Forschung hing wesentlich davon ab, dass ihre Ergebnisse in Form von Medikamenten auch massenhaft produziert würden, was durch die enge Kooperation mit den Farbwerken Hoechst (später: Hoechst AG) gewährleistet wurde. Damit war der industrielle Fertigungsprozess schon in der Forschung präsent. Aus dem Erfolg des Geschäfts entwickelte sich ein starkes Interesse des Unternehmens an einer Ausweitung und Intensivierung der Forschung; weiterhin wurden Fachkräfte zur Entwicklung und Koordinierung des Produktionsprozesses gebraucht.

Hinzu kam eine andere Ebene. Da Arzneimittel zu unerwünschten Nebenwirkungen führen können, die sich in Laborexperimenten nur bedingt vorhersehen lassen, bedurfte es einer Bewährung der Medikamente in der konkreten Anwendung: Sie mussten getestet werden und diese Tests erforderten die wissenschaftliche Begleitung durch ärztliches Fachpersonal. Dazu boten sich wiederum die städtischen Kliniken an, die später zu Universitätskliniken mit einer Medizinischen Fakultät ausgebaut werden sollten.3

Der Aufbau und die Institutionalisierung dieser Trias aus Forschung, Produktion und Anwendung bildeten einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Universitätsgründung. Das war ein Grund, weshalb Adickes dieses Projekt von Anbeginn hartnäckig verfolgte und - weil es dabei augenscheinlich um Forschung im "Dienste der Menschheit" ging - auf bereitwillige Stifter_innen traf, die durchaus philanthropische Motive verfolgt haben mögen. Für Althoff wiederum war nicht nur das Finanzierungsmodell als frühe Form der Public-Private-Partnership interessant, sondern auch das Bündnis von Kapital, Staat und Wissenschaft, das hier zusammengefunden hatte. In diesem Zusammenhang kann das Paul-Ehrlich-Institut bzw. die Konstellation, in der es fungierte, als Vorläufer der Kaiser-Wilhelm-Institute (der heutigen Max-Planck-Gesellschaft) gesehen werden, an deren Einrichtung Althoff wesentlich beteiligt war. Umgekehrt hatte Adickes damit einen entscheidenden Bündnispartner im preußischen Ministerium, was die Gründung erheblich erleichtert haben dürfte, auch wenn Althoff selbst die letzte Phase dieses Prozesses nicht mehr erleben sollte.

Mit der Eröffnung der Universität wurde das Vorhaben schließlich vollumfänglich institutionalisiert: Neben den Universitätskliniken und der Fakultät für Medizin war das Chemische Institut von Anbeginn gut ausgestattet und erhielt ein eigenes Gebäude. Eine Besonderheit der Frankfurter Gründung - und ein Zugeständnis an ihre Autonomie - bildete dabei die Lockerung der in Preußen sonst üblichen, strengen Verbindung von Forschung und Lehre. Zwei Institute, neben dem von Paul Ehrlich das Neurologische, wurden als reine Forschungsinstitute von der Lehrverpflichtung gänzlich entbunden. Letztlich bedeutete dies eine Aufgabe des allgemeinen Bildungsauftrags der Universität zugunsten privater Interessen.

Hiermit erfuhr das bisherige deutsche Universitätsprinzip eine erhebliche Elastizität, die organisatorischen Erfahrungen, die das Berliner Kultusministerium mit der Begründung der Kaiser Wilhelm-Gesellschaft gemacht hatte, wurden bereits in die Satzungen der neuen Frankfurter Universität hineingenommen.4

Damit schloss sich gewissermaßen ein Kreis, der deutlich macht, dass jenseits des Misstrauens von Landtag und Bürgerschaft kein Dissens zwischen Frankfurt und Preußen herrschte.

Autonomie II: Die Berufungsfrage

Der Großteil der privaten Spenden stammte von Jüdinnen und Juden. Entsprechend wurde in einem Satzungsparagraphen der Universität festgelegt, dass religiöse Zugehörigkeit keinen Ausschlussgrund bei Anstellungen oder Berufungen darstellen dürfe. Letzteres stellte ein politisches Bekenntnis gegen den preußischen Antisemitismus dar, der sich unter anderem in einer Praxis äußerte, die der jüdischen Bevölkerung - entgegen der gesetzlichen Gleichstellung - den Zugang zu höheren Positionen in Justiz, Militär oder Verwaltung verwehrte. Dies galt weitestgehend auch für die Universitäten, und insofern stellte der Paragraph ein wichtiges emanzipatorisches Moment dar. Andererseits hatte er keine formalrechtliche Verbindlichkeit, denn im Zweifelsfall lag die Entscheidungskompetenz bezüglich der Berufungen beim König bzw. dem Kultusministerium.

Obwohl dieser Punkt für die Frankfurter Bürgerschaft oberste Priorität hatte und entsprechend umkämpft war, konnte sie sich in der Berufungsfrage letztlich nicht durchsetzen. Der Grund dafür lag in der Art und Weise, wie die Universität gegründet wurde: Da eine Abstimmung im preußischen Landtag, unter anderem aufgrund der antisemitischen Haltung der Abgeordneten, keine Aussicht auf eine notwendige Mehrheit hatte, blieb alternativ nur der Weg durch königlichen Erlass. Dieser hatte zwei wesentliche Voraussetzungen: Zum einen durfte er den preußischen Staat nichts kosten, denn der König verfügte über keinen eigenen Haushalt und jede erforderliche Geldsumme hätte die Zustimmung des Landtags erfordert. Zum andern war eine Gründung per königlicher Verfügung daran gebunden, dass die zukünftige Universität den rechtlichen Bedingungen entsprach, die für andere Universitäten auch galten. Dazu gehörte jedoch, dass die letztinstanzliche Entscheidung über die Berufungen beim König lag. Der "Kompromiss" für Frankfurt bestand lediglich darin, dass das Stiftungskuratorium den Dreiervorschlag der Fakultät begleitend kommentieren konnte, wobei die Eingabe ebenso wenig rechtliche Bindung hatte, wie der Dreiervorschlag selbst - im Zweifelsfall war der König berechtigt, der Universität eine beliebige Berufung aufzuzwingen.5

Gerade an diesem politisch wichtigen Punkt war die Frankfurter Universität also nicht autonom, sondern blieb angewiesen auf das Wohlwollen des Kultusministeriums. Dass es dennoch zu keinen Konflikten in Berufungsfragen kam, war im Wesentlichen der spezifischen Konjunktur geschuldet: Frankfurt hatte das Wohlwollen des Ministeriums, denn weder gab es ein prinzipielles Interesse, Berufungen zu verhindern, noch lieferte die Universität mit ihren Vorschlägen Anlässe zu Interventionen. Die Voraussetzung der vielbeschworenen Autonomie Frankfurts lag bezüglich der Mitspracherechte in Berufungsfragen also vor allem in einer Interessenkonvergenz zwischen Universität und Ministerium. Mit dieser Harmonie sollte es allerdings rasch vorbei sein - und ebenso mit der proklamierten Autonomie.

Ende der Autonomie: Der politische Wechsel 1919

Die freien Teile des Stiftungsvermögens waren schon 1917 weitgehend aufgebraucht, während die in Kriegsanleihen angelegten festen Teile durch den verpassten Siegfrieden der Inflation anheimfielen. Das Stiftungsmodell war gescheitert und die Universität musste sich mit der Bitte um finanzielle Unterstützung an Stadt und Land wenden.6 Allerdings hatte sich nach dem Ersten Weltkrieg ein entscheidender politischer Wechsel vollzogen: Nicht nur in Frankfurt, sondern auch in dem für Unterrichtswesen zuständigen Preußen etablierten sich bis Anfang der 1930er Jahre stabile Koalitionen mit sozialdemokratischen Mehrheiten. Preußen vollzog damit einen abrupten Wandel vom "Hort der Reaktion" zum "Bollwerk der Demokratie", wenigstens gegenüber den konservativen und rechten Kräften der Weimarer Zeit. Für die Frankfurter SPD, die in den Debatten um die Universität energisch interveniert hatte, aber mit ihrer entschiedenen Ablehnung bis zur Gründung 1914 relativ isoliert in der Opposition blieb, eröffnete sich damit Raum für Interventionen. Begünstigt wurde dies dadurch, dass es sich um ein junges Projekt handelte, das noch keine eigene institutionelle Dichte herausgebildet hatte.7

Einen ersten Ausdruck fand das neue Machtverhältnis 1919 mit der Besetzung des ersten Lehrstuhls für Soziologie durch den bekennenden Sozialisten Franz Oppenheimer, der gegen den erklärten Willen der Fakultät berufen wurde. Ironischerweise handelte es sich dabei um den ersten Fall, bei dem sich die Mitspracherechte der Universität als nichtig erwiesen. Weit bedeutender waren jedoch die Auswirkungen des finanziellen Bankrotts der Universität. Die Unterstützung von Frankfurt und Preußen wurde an die Forderung geknüpft, das Bildungsangebot auf nichtakademisch vorgebildete Personen, also Arbeiter_innen und Angestellte, auszuweiten. Dies führte 1921 zur Gründung der Akademie der Arbeit. Diese stellte einerseits eine bedeutende Neuerung gegenüber dem elitären Bildungsmodell von 1914 dar, verweist andererseits aber auf die geringe Reichweite der sozialdemokratischen Reform. Die ursprünglichen Vorstellungen, die bis zu einer Umwandlung der gesamten Universität in eine "Arbeiterakademie" reichten, sollten schließlich in einer Akademie mit nicht mehr als hundert Teilnehmer_innen münden. Die grundlegende Struktur blieb unangetastet.

Im Übrigen blieben auch das Chemische Institut und die Kliniken von dem Machtwechsel unberührt oder wurden in der bewährten Weise ausgebaut. So erhielt das Institut für Physikalische Chemie 1930 ein eigenes Gebäude - abgesehen von den Bauten der Akademie für Arbeit und des Instituts für Sozialforschung handelte es sich dabei um die einzige größere bauliche Maßnahme in jenen Jahren, finanziert "vor allem durch Spenden aus Kreisen der Industrie."8

Autonomie heute

Die finanziellen Mittel, die gegenwärtig durch Stiftungen an die Universität Frankfurt fließen, belaufen sich auf einen Bruchteil dessen, was das Land Hessen finanziert. Das "Höchstmaß an Autonomie",9 das die Universität Frankfurt für sich reklamiert, hat daher auch heute vor allem eine Grundlage, nämlich die Interessenkonvergenz mit dem Land Hessen. Das Schlagwort der Autonomie dient so gesehen vielmehr der Legitimation einer autoritären, neoliberalen Interessenpolitik, als dass es tatsächlich Unabhängigkeit bedeutete - ein entsprechender politischer Kurswechsel von Universität oder Land würde das vermutlich schnell deutlich machen.

Anmerkungen

1) Notker Hammerstein 1989: Die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von der Stiftungsuniversität zur staatlichen Hochschule, Bd. 1: 1914 bis 1950, Neuwied / Frankfurt a.M.: 37.

2) Rainer Koch 1989: "Oberbürgermeister Franz Adickes und die Stadtentwicklung in Frankfurt am Main 1890-1912", in: Frankfurter Geographische Hefte, Nr. 59: 9-32; hier: 29.

3) Unklar bleibt, ob dabei Patienten tatsächlich als ›Versuchskaninchen‹ herhalten mussten. Entsprechende Befürchtungen wurden in den Debatten um die Einrichtung solcher Forschungskliniken von der SPD immer wieder vorgebracht.

4) Paul Kluke 1972: Die Stiftungsuniversität Frankfurt am Main 1914-1932, Frankfurt a.M.: 147.

5) Vgl. Jürgen Schardt 2014: Mythos Bürgersinn. Zur Gründungsgeschichte der Universität Frankfurt am Main, Hamburg: 59ff.

6) Die Stadt Frankfurt leistete von Anfang an wesentliche finanzielle Beiträge; in diesem Fall ging es also um eine Erhöhung der Beihilfen.

7) Eine solche wäre am ehesten in Strukturen zu finden gewesen, wie sie sich über die Jahre hinweg in den Stiftungen und Gesellschaften etabliert hatten; gerade diese waren aber mit Gründung der Universität einem staatlichen Institutionalisierungsprozess unterzogen worden. Was ursprünglich eine Organisation der bürgerlichen Klassen durch den Staat bedeutete, machte sich nach dem Machtwechsel als Desorganisation geltend, wenigstens vorübergehend.

8) Planungsgruppe der Johann Wolfgang Goethe-Universität 1981: Die bauliche Entwicklung der Universität Frankfurt, Frankfurt a.M.: 38.

9) Der Präsident der JWGU 2008: Freiräume - Das Jahr eins, Frankfurt a.M.: 10.


Jürgen Schardt ist Doktorand am Institut für Humangeographie Frankfurt sowie am Institut für Sozialforschung und arbeitet derzeit an einer Dissertation zum Thema Geschichte und Umzug der Universität Frankfurt.

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