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Forum Wissenschaft

Neuer Feminismus, alter Feminismus

15.08.2007: Vom vermeidlichen Zerfall und unvermeidlichen Ursachen

  
 

Forum Wissenschaft 3/2007; Titelbild: Stefan Knaab

Die Neue Frauenbewegung blickt auf ein knappes halbes Jahrhundert zurück: Durchaus nicht ohne realistische Einschätzung erheblicher Veränderungen, die sie bewirkte, aber auch mit Zorn und dem Bewusstsein vieler Defizite, die, wie immer, von anderen und von ihr selbst wenigstens mit-gemacht wurden. Einen real- wie theoriegeschichtlichen Überblick gibt Barbara Holland-Cunz.

Das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ist durch eine Reihe widersprüchlicher frauenpolitischer Tendenzen gekennzeichnet, auffällig schwankend zwischen Einpassung und Widerstandshandeln. Die Heterogenität der feministischen Lage ist angesichts der gesellschaftlichen Vorgaben verständlich: Der Zusammenbruch des Realsozialismus rückt die Nord-Süd-Konflikte wieder stärker ins Blickfeld; im Laufe des Jahrzehnts verschärft sich das Reichtumsgefälle zwischen Ost und West; globale Perspektiven werden prominent. Innerdeutsch nehmen Rassismus und Rechtsradikalismus erschreckend zu. Trotz der eklatanten Brüche in den Debatten, die die Ereignisse um 1989 erzeugen, beginnen die neunziger Jahre für die Frauenbewegung auch intern nicht voraussetzungslos. Bereits aus den achtziger Jahren stammt der Aufschwung gleichstellungspolitischer Institutionalisierungen, der durch die ostdeutsche Praxis gestärkt und dessen Höhepunkt in den neunziger Jahren erreicht wird. In der zu diesem Zeitpunkt bereits stark professionalisierten, akademisch integrierten und von der politischen Praxis abgespaltenen feministischen Theorie erstarken postmoderne Denkformen, die die ältere Kritik am sozialen Geschlecht („gender“) durch eine radikale Kritik an der Konstruktion des biologischen Geschlechts („sex“) ergänzen oder gar ablösen. Die feministische Theorie ist weitgehend entpolitisiert, zugleich aber zunehmend hoch professionell in Professuren, Forschungszentren, Studiengängen, eigenen Buchreihen renommierter Verlage, Fachzeitschriften, Hunderten von Tagungen und Kongressen und in fachorientierten wissenschaftlichen Vereinigungen organisiert und repräsentiert.

Die von der postmodernen Orientierung fast unberührte politische Gleichheits-Praxis bewegt sich v.a. auf dem internationalen Parkett sehr erfolgreich: In einer Reihe großer Konferenzen der Vereinten Nationen ab 1992 werden Frauenrechte und frauenpolitische Normen und Vorstellungen jenseits des nationalstaatlichen Rahmens diskutiert, anerkannt, dokumentiert und teilweise sogar verankert.1 Gewalt gegen Frauen beispielsweise wird auf dem Menschenrechtsgipfel 1993 in Wien als Menschenrechtsverletzung anerkannt, die reproduktiven Rechte von Frauen werden im Aktionsprogramm der Weltbevölkerungskonferenz 1994 in Kairo ausdrücklich festgehalten.

Der Internationalismus der Frauenpolitik der neunziger Jahre mag auf den ersten Blick überraschen, doch angesichts des Mauerfalls und der aufkommenden Debatten um die Globalisierung wäre es im Gegenteil erstaunlich, wenn diese weltpolitischen Öffnungen nicht auch die Frauenbewegung erreicht hätten. Während des UN-Konferenzmarathons der neunziger Jahre wird, unter wachsender Beteiligung von feministischen Aktivistinnen, der systematische Zusammenhang zwischen lokalen, nationalen und internationalen Frauenpolitiken immer deutlicher. Was auf der einen Ebene erreicht oder nicht erreicht werden kann, hat Konsequenzen für die anderen politischen Ebenen. Mit den Erfolgen auf dem internationalen Parkett können Feministinnen ihre lokalen und nationalen Forderungen und Anliegen seitdem wesentlicher besser formulieren und einklagen. In diesem Sinne kann der Internationalismus der neunziger Jahre auch als Potenzial für lokale und nationale Politiken betrachtet werden.

Schwarze Kritik

In den Ländern des Nordens, im Unterschied zu denen des Südens, zeigt sich die jeweilige feministische Bewegung auf nationaler und/oder lokaler Ebene dennoch ziemlich schwach. Nur der Frauenstreiktag am 8. März 1994 bringt als nationaler Aktionstag kurzfristig zahlreiche Aktivitäten hervor: Die Frauenbewegung ist auf den Straßen und Plätzen der Republik so sichtbar wie lange nicht mehr. Die politischen Erfolge bei der Integration von Frauen in alle gesellschaftlichen Bereiche bewegen sich dagegen, trotz institutioneller Anstrengungen, v.a. bei den Spitzenpositionen in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft in der kläglichen Größenordnung weniger Prozentpunkte. Der Deutsche Bundestag kann hier mit einer Steigerung von zehn Prozentpunkten in „nur“ zehn Jahren sogar als Ort eines großen frauenpolitischen Erfolgs gefeiert werden; ein Anstieg von 20,5% Frauenanteil 1990 auf 30,9% Frauenanteil im Jahr 2000 kann da fast schon als radikaler Wandel interpretiert werden.2 Dass die unzähligen Stunden politischen Engagements von so vielen Feministinnen nur solch eher bescheidene Veränderungen erzwungen haben, ist ein wichtiger Grund für das deutlich geschwächte Engagement. Die altbekannte politische Leidenschaft, die sowohl die alten KlassikerInnen einschließlich Simone de Beauvoir als auch die neuen feministischen Theoretikerinnen der ersten Stunde auszeichnet, findet sich nur noch selten in frauenpolitischen Zusammenhängen. Eine Ausnahme stellen die Theoretikerinnen des Schwarzen Feminismus dar, die mit ungebrochener Vehemenz Herrschaftsverhältnisse systematisch thematisieren und kritisieren und dabei auch nicht vor einschlägiger Kritik feministischer Kontexte zurückschrecken (z.B. Audre Lorde und bell hooks).

Die Schwarze Kritik an der Frauenbewegung und die Forderungen nach Analysen der miteinander verstrickten/verquickten sexistischen, rassistischen und klassenspezifischen Herrschaftsverhältnisse lösen im Feminismus der neunziger Jahre viele, persönlich oft schmerzhafte Debatten aus. Mittlerweile frauenpolitische Selbstverständlichkeiten werden erstmals wieder öffentlich in Frage gestellt, etwa die dominanten Sprecherinnen-Positionen für Frauenpolitikerinnen und Frauenforscherinnen aus institutionellen Kontexten oder die dominanten gleichstellungspolitischen Themen in feministischen Auseinandersetzungen. Viele Arbeits- und Debattenformen zwischen Frauen, die seit den Selbstverständigungs-intensiven siebziger Jahren nicht mehr bewusst überdacht worden waren, geraten nun in das Blickfeld engagierter antirassistischer Aktivistinnen aller Hautfarben. Zu lange schon, das wird augenfällig, hat sich die Frauenbewegung nicht mehr mit den eigenen politischen Formen befasst und sich v.a. von der Hoffnung auf Fortschritt in den/durch die Institutionen leiten lassen. Die demokratischen Umgangsformen zwischen Feministinnen, das erkennen jetzt viele, haben sich entdemokratisiert. Der antirassistische Impuls der neunziger Jahre ist für die Frauenbewegung (nicht nur) in Deutschland in mehrfacher Hinsicht ausgesprochen produktiv. Eine neue Kultur der Auseinandersetzung mit sich selbst und mit anderen Perspektiven als den je eigenen wird, wenn auch auf schwierigen Wegen, in diesem Jahrzehnt entwickelt. Selbstverständigung wird wieder selbstverständlicher. Auch für die gesellschaftlichen Themen – „Ausländerfeindlichkeit“, Rechtsradikalismus, Ost-West- und Nord-Süd-Verhältnis, ökonomische und kulturelle Globalisierung – ist die selbstkritische Reflexion der eigenen „Weißheit“3 eine wesentliche Voraussetzung für die Möglichkeiten solidarischen Sprechens und Handelns. Die Erfolge in der Internationalisierung der Frauenpolitik auf UN-Ebene und die Entstehung zahlreicher lokaler antirassistischer feministischer Initiativen können nur vor dem Hintergrund der Rassismus-Kritik der Schwarzen Theorie angemessen erklärt werden. Diese neue Orientierung im Feminismus zieht zudem jüngere Frauen an; sie sind es v.a., die den Antirassismus als feministisches Thema etablieren.

Institutionalisierungen

Die Neue Frauenbewegung pluralisiert sich während der neunziger Jahre: Das Spektrum reicht nun von basisdemokratischen antirassistischen Gruppen bis zu den professionalisierten Feldern der Gleichstellungspolitik. Letztere allerdings steht bis heute eher abseits, wenn es um die konkrete Vermittlung antisexistischer und antirassistischer Frauenpolitiken geht. Die radikalen Theoretikerinnen des Schwarzen Feminismus passen nicht so recht in das Bild konformistischer feministischer Wohlanständigkeit in institutioneller Theorie und Praxis – ganz ähnlich wie die Radikalen des alten Feminismus nicht in das mütterliche Bild des gemäßigten Andienens an die Herrschenden passten. Vergegenwärtigen wir uns Emma Goldmans bissige Polemik gegen die frauenrechtlerische Ehrbarkeit bzw. Spießbürgerlichkeit, so zeichnen sich auch Konturen des aktuellen Feminismus darin ab. Obgleich das von den Frauenbewegungen des Südens entwickelte Konzept des „empowerment“, d.h. der politischen Ermächtigung und Selbstermächtigung von Frauen, auch in den nordwestlichen Kulturen von Frauen aufgegriffen wird, passen sich nicht wenige Feministinnen zunehmend den mächtigen Strukturen patriarchaler Herrschaft an. Leidenschaft und Herrschaftskritik werden in der nordwestlichen Frauenbewegung zunehmend rare politische Tugenden [...], ohne dass sich die Lage von Frauen weltweit bereits so weit verbessert hätte, dass sie jener der männlichen Hälfte der Menschheit auch nur annähernd vergleichbar wäre. Die einschlägigen Daten sind außerordentlich bedrückend: Der Frauenanteil der Armen beträgt über 70%, und die absoluten Zahlen steigen; Frauen verdienen nur etwa zehn Prozent des Welteinkommens und besitzen weniger als zehn Prozent des Welteigentums; bei bezahlter Arbeit erhalten sie im Weltdurchschnitt 20% weniger Lohn als Männer; die Frauenquote in den Parlamenten liegt derzeit bei einem Weltdurchschnitt von 14%; die Gewalt gegen Frauen nimmt zu; zwei Drittel aller AnalphabetInnen sind Frauen.4 „Gewissen Verbesserungen stehen mittlerweile wieder Rückschritte und Verschlechterungen gegenüber“, resümiert Uta Ruppert5 die aktuelle globale Situation für Frauen. Die Diskrepanz zwischen der Lage der Frauen weltweit und dem „Stand“ der politischen Leidenschaft im Feminismus könnte kaum größer sein. Ohne die Tiefenstrukturen der Unterdrückung tatsächlich verändert zu haben, haben Feministinnen in den vier Jahrzehnten seit 1963 viel von ihrem ursprünglichen Mut und Kampfgeist verloren. Politische Strategien zielen heute vielerorts ausschließlich auf Integration in die bestehenden Herrschaftsstrukturen, zielen auf Teilhabe statt auf radikalen Einspruch. Keine, auch ich nicht, wünscht sich die pathetischen, heldinnenhaften Beschwörungen der sechziger Jahre zurück. Und dass die Verstetigung bewegungspolitischen Engagements Institutionalisierungen und Professionalisierungen hervorgebracht hat, ist wissenschaftlich unbestritten. Doch die politische Leidenschaft der Aufbruchszeit wäre für die aktuellen Herausforderungen an feministische Politik ausgesprochen nützlich. Wie die globalen Probleme, die Frauen heute besonders treffen, mit einem geschwächten, müden Engagement zu bewältigen sein sollen, ist kaum vorstellbar.

Erschwerend kommt hinzu, dass, zumindest hierzulande, feministische Vorstellungen schlicht „out“, antifeministische Positionen dagegen bei Männern und Frauen willkommen sind. Die gängigen Argumente der von Susan Faludi analysierten antifeministischen WortführerInnen können fast täglich nachgelesen werden, so beispielsweise auch Anfang 2001 in einem Artikel der Frankfurter Rundschau, in dem sich eine Frau über den anachronistischen Feminismus beschwert. Die Autorin Ursula März nimmt einen ambivalenten frauenpolitischen Erfolg – die ersten Soldatinnen rücken in die Kasernen ein – zum Anlass eines polemischen Angriffs auf die Frauenbewegung, insbesondere verkörpert durch Alice Schwarzer. Unter der Überschrift „War’s das? [...] Das erschöpfte Paradigma der Gleichberechtigung“ stellt März fest, dass spätestens in „ein, zwei oder drei Generationen – was im Maßstab der Zeitgeschichte wirklich nicht viel ist“6, die Gleichberechtigung verwirklicht sein wird. Aufregung über die verbliebenen Reste sexistischer Diskriminierung, die im Laufe der nächsten 100 Jahre ohnehin verschwinden werden, ist für März deshalb unangebracht.

„Out!“-Urteile

Mag das schnelle und bereitwillige Ignorieren der Chancen von drei Frauengenerationen schon ein wenig erschüttern, so ist der eigentliche Kernpunkt der Argumente damit noch gar nicht angesprochen. Der folgt sodann: „Die Abwicklung der Revolution läuft wie geschmiert, doch seltsamerweise entlässt sie das weibliche Geschlecht erstens im Zustand einer Gestresstheit, die nicht weniger sondern mehr wird, und zweitens im Zustand der Grübelei darüber, ob dies überhaupt die richtige Revolution war. Statt Triumph breitet sich eine latente Katerstimmung aus“. Nachdem März in typischer Backlash-Manier festgestellt hat, dass der Feminismus siegreich ist, damit aber nicht Hochgefühle, sondern Stress, „Grübelei“ und „Katerstimmung“ produziert, betätigt sie sich als Ursachenforscherin. Auch hier argumentiert sie im von Faludi analysierten Denkschema: „An vielen Frauen, die heute so leben, wie das Leben es für Männer vorsieht, nagen die Zweifel der Geschlechtsidentität“. Das „Nagen“ setzt März in den klassischen Kontext dramatisch hoher Kinderlosigkeit und hält fest, dass Mutterschaft „eines von vielen Kapiteln aus dem großen Roman des Frauseins“ darstellt. März endet mit den Feststellungen, dass Gleichheit für Frauen „nicht ihre große Chance darstellt“, das „hat sich erwiesen“, und dass das neue Buch der unbelehrbaren „Kölner Polemikerin“ Schwarzer deshalb „sagenhaft anachronistisch“ ist, „sagenhaft paranoid“, „intellektuell unseriös bis zur Verwahrlosung“, „indiskutabel und unerheblich“, ein „hysterisches, irrationales Gebilde“, eine „entgleisende Horrorfizierung“ des männlichen Geschlechts und eine „schrille Weigerung“, die eigene Überholtheit anzuerkennen. Die „schwierige Geschichte der Gleichheitsversuche“ geht zu Ende, denn sie hat „zu viele neue Zwänge kreiert“7. Schwarzers Buch gilt März als Symbol der Torschlusspanik gegen diesen Ausgang der Geschichte.

Die Polemik von Ursula März ist kaum zu überbieten [...]. Gleichheit macht unglücklich, und Feministinnen sind Furien, das sind die allzu bekannten Botschaften. Warum schreibt eine Frau [...] solche Zeilen, und warum veröffentlicht eine linksliberale Tageszeitung diese publizistische Schlacht(ung)? [...].

[Den Text] von März [...] als „Ausrutscher“ oder unrühmliche Ausnahme [...] zu betrachten, wäre ebenso falsch wie die Unterstellung eines peinlichen Versehens seitens der Frankfurter Rundschau. Hier dokumentiert sich vielmehr der antifeministische Zeitgeist, der deshalb so gut „funktionieren“ kann, weil ihm keine starke, widerständige Frauenbewegung wortreich, aktionsreich, mächtig, polemisch und angreifend entgegentritt. Es ist, selbst in Zeiten politischer Korrektheit, offensichtlich ungefährlich, sich mit „dem Feminismus“ pauschal anzulegen. Man oder frau läuft keine Gefahr, in eine kritische, schwierige Debatte verwickelt oder intellektuell bloßgestellt zu werden. Stattdessen winken Aufmerksamkeit und Beifall von vielen Seiten als Lohn. [...] Ob die antifeministischen Anwürfe als Polemik wie bei März oder als Pseudo-Aufklärung [...] formuliert werden: Das Ziel ist immer die gleiche Distanzierung von der Neuen Frauenbewegung als altem Hut. Der nach wie vor ungleiche Stand in Sachen Gleichheit wird dafür minimalisiert.

Berufslobbyismen

An der Publizität antifeministischer Äußerungen ist die Frauenbewegung selbst nicht ganz unschuldig. [...] Ein nicht mehr ganz neues, aber zentrales Problem der Frauenbewegung (nicht nur) in Deutschland ist der „Strukturwandel feministischer Öffentlichkeit“8, d.h. der zunehmende Zerfall einer frauenpolitischen Öffentlichkeit, die sich zu aktuellen geschlechterpolitischen Fragen kreativ, lautstark und gesellschaftskritisch zu Wort meldet und/oder AntifeministInnen Einhalt gebietet. Die ehemals lebendige, streitbare feministische Öffentlichkeit ist in zahllose, gegeneinander abgegrenzte Teilöffentlichkeiten zerfallen und hat die Meinungsführerinnenschaft für viele der ursprünglich feministisch politisierten Themenfelder verloren. Die zahlreichen Teilöffentlichkeiten stehen thematisch und personell zudem unter der vereinheitlichenden Dominanz eines professionellen feministischen Mainstream (Frauenministerinnen, Frauenforscherinnen, Frauenbeauftragte), den ich mit dem Begriff des „Berufsfeminismus“ beschreibe.9 Aber selbst dieser hat die Deutungsmacht über genuin feministische Fragen verloren. [...] Zugespitzt ließe sich sagen: Aus der positiven Selbstinteressiertheit und Selbstbezüglichkeit der siebziger Jahre ist eine negative Selbstbezüglichkeit im Sinne des von Christina Thürmer-Rohr (1994) geprägten Begriffs „Egozentrismus“ geworden. Angesichts der 200-jährigen Geschichte der Frauenbewegung ließe sich vielleicht auch vermuten, dass die Neue Frauenbewegung noch nicht das Stadium des „Selbstreflexivwerdens“ erreicht hat, das in der Alten Frauenbewegung um 1900 zu heftigen Debatten über die Relevanz von Themen und Strategien zwischen den (feindlichen) Flügeln beigetragen hat. Selbst eine scharfe Auseinandersetzung wäre sicherlich produktiver als das Schweigen. Feministische Öffentlichkeit fehlt aber nicht nur auf der nationalen Ebene. Auf der Ebene der Europäischen Union hat eine lebendige feministische Öffentlichkeit nie bestanden, obgleich die EU-Frauenpolitiken für die nationalen und lokalen Bewegungen spätestens seit Anfang/Mitte der achtziger Jahre unmittelbar relevant sind. Bei der Frage nach der Existenz einer internationalen oder globalen feministischen Öffentlichkeit schließlich ist zu berücksichtigen, dass die Haupt-Akteurinnen des Feminismus in der Weltöffentlichkeit heute professionelle NGO-Frauen sind [...]. [...]

Ob diese „Führungsclique von Berufslobbyistinnen“10 noch zur Frauenbewegung zu rechnen ist, darf als offene Frage gelten, die ich mit einem „Ja“, die verbliebenen basisdemokratischen Aktivistinnen hierzulande aber mit einem „Nein“ beantworten würden. Der Zerfall einer streitbaren feministischen Öffentlichkeit und damit eines Forums interner politischer Diskussion sowie externer Positionierung und Profilbildung ist ein wesentlicher Aspekt der Unattraktivität und Angreifbarkeit des Feminismus heute. Professionelle Spezialisierungen und notwendige thematische Ausdifferenzierungen in der feministischen Arbeit stellen die historisch unvermeidlichen Ursachen für den vermeidbaren fortschreitenden Zerfall dar. Wo keine Aktivistin deutlich frauenbewegte Worte spricht oder phantasievolle Aktionen plant, die anderen Frauen etwas bedeuten könnten, kann auch keine dieser anderen für die Frauenbewegung gewonnen werden. Oder aber: Wo immer die selben Frauen auf Podien und in Gesprächsrunden professionell „für alle“ sprechen, Frauen, die dies bereits seit Jahren oder, wie Alice Schwarzer, seit Jahrzehnten tun, können neue Gedanken, neue Positionen, neue Ideen und neue Reaktionen auf gesellschaftliche Herausforderungen nur schwer gedeihen oder Gehör finden. [...]

Normalisierung – Widersprüche

So wie die Alte Frauenbewegung hat auch die Neue nach den euphorischen, gleichheitsfeministischen Aufbruchszeiten einen deutlichen Umschwung hin zum Differenzdenken vollzogen. In einer dritten Phase der Theoriebildung schließlich distanzieren sich in den neunziger Jahren viele TheoretikerInnen sowohl vom Gleichheits- wie vom Differenzdenken zugunsten von Postmoderne und Dekonstruktion. Judith Butlers Arbeit Gender Trouble11 von 1990 bildet hier den Ausgangs- und unangefochtenen Kristallisationspunkt der Debatte. Im Unterschied zu den meisten anderen, wesentlich älteren, bedeutenden ideengeschichtlichen Werken des Feminismus hat Butlers Text sofort den Sprung in die Hauptwerke der politischen Theorie geschafft [...].12 Selbst ProtagonistInnen des Mainstream, die sich sonst um die feministische Theorie wenig scheren, interessieren sich für Butlers Abgesang auf Frauenkörper und Frauenpolitik. Die Einfügbarkeit der feministischen Theorie in den etablierten, normalen, normalwissenschaftlichen universitären Betrieb hat allerdings auch heute noch Grenzen, die v.a. im Widerstand der akademischen Institutionen gegen Frauen als konkret anzuerkennende Gleiche liegen. Die Integration schreitet seit mindestens zehn Jahren dennoch als ein zweiseitiger Prozess voran. Auf der einen Seite treiben Feministinnen an den Hochschulen diesen Prozess als einen der wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Anerkennung selbst weiter, auf der anderen Seite schleift die berufsfeministische Alltagspraxis durch wachsende Distanz zu außeruniversitären Perspektiven die feministischen „Ecken und Kanten“ der akademischen Akteurinnen ab. Einsprüche gegen antifeministische Polemiken sind von dieser Seite kaum zu erwarten. Mit Michel Foucault kann von einer Normalisierung auf diesem und anderen berufsfeministischen Feldern gesprochen werden. Die Macht der Normalisierung in modernen Gesellschaften funktioniert nach Foucaults bedeutender Arbeit Überwachen und Strafen durch eine Reihe von Techniken, die auf Macht über das Individuum zielen: Vergütung, Sanktion, Dressur und Besserung, Klassifizierung, Differenzierung, Hierarchisierung, Homogenisierung und zugleich Individualisierung wirken auf die/den EinzelneN und passen sie/ihn durch normierende Sanktion ein.13 Foucault schreibt über die Funktionsweise dieser Machtform: „Einerseits zwingt die Normalisierungsmacht zur Homogenität, andererseits wirkt sie individualisierend, da sie Abstände mißt, Niveaus bestimmt, Besonderheiten fixiert und die Unterschiede nutzbringend aufeinander abstimmt. Die Macht der Norm hat innerhalb eines Systems der formellen Gleichheit so leichtes Spiel, da sie in die Homogenität, welche die Regel ist, als nützlichen Imperativ und als präzises Meßergebnis die gesamte Abstufung der individuellen Unterschiede einbringen kann.“14 [...]

Viele Berufsfeministinnen bewegen sich heute in institutionellen Situationen, in denen die Foucault’schen Techniken der Macht unmittelbar wirken, in denen „das Normale“ als zwingender Imperativ auf Individuen einwirkt und jede Abweichung gefährlich erscheinen lässt. Viele Berufsfeministinnen, mich eingeschlossen, übernehmen inzwischen aber auch selbst gesellschaftliche Aufgaben und Funktionen, die die Erzeugung von klassifizierenden Unterschieden zum Inhalt haben (die Prüfung ist ein Beispiel Foucaults15). In solch doppelter Weise in die macht-vollen Netze der Normalisierung verstrickt, sind Berufsfeministinnen heute sowohl Ziel- und Ansatzpunkte der Normalisierungsmacht als auch ihre aktiven Vollstreckerinnen. Nach Foucault gibt es ohnehin keine säuberliche Trennung zwischen Herrschen und Beherrschtwerden, zwischen der Konformisierung und Klassifizierung anderer und der normalisierenden Einpassung und Selbsteinpassung. Als aktueller Standort einer Theorie und Praxis, die mit dem Aufruf zur Befreiung angetreten ist, muss das feministische Verstricktsein in die Techniken der Macht heute unangenehm auffallen.

Anmerkungen

1) Vgl. Klingebiel, Ruth/Randeria, Shalini (Hg.), 1998: Globalisierung aus Frauensicht. Bilanzen und Visionen. Bonn: Dietz Nachf.; Ruppert, Uta (Hg.), 1998a: Lokal bewegen – global verhandeln. Internationale Politik und Geschlecht. Frankfurt am Main/New York; Holland-Cunz, Barbara/Ruppert, Uta (Hg.), 2000: Frauenpolitische Chancen globaler Politik. Verhandlungserfahrungen im internationalen Kontext. Opladen: Leske + Budrich; vgl. auch Messner, Dirk/Nuscheler, Franz (Hg.), 1996: Weltkonferenzen und Weltberichte. Ein Wegweiser durch die internationale Diskussion. Institut für Entwicklung und Frieden (INEF), Bonn: Dietz Nachf.

2) Vgl. Hoecker, Beate, 1995: Politische Partizipation von Frauen. Kontinuität und Wandel des Geschlechterverhältnisses in der Politik. Ein einführendes Studienbuch. Opladen: Leske + Budrich, 135; Hoecker, Beate, 2000: Geschlechterdemokratie im europäischen Kontext. Die Konzepte der Europäischen Union zur Förderung der politischen Beteiligung von Frauen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 31-32/2000, S.30-38, 31

3) Broek, Lida van den, 1988: Am Ende der Weißheit. Vorurteile überwinden. Ein Handbuch. Berlin: Orlanda

4) Vgl. Ruppert, Uta, 1998b: Geschlechterverhältnisse in der Internationalen Politik. Eine Einführung. In: Diess. (Hg.): Lokal bewegen – global verhandeln. Internationale Politik und Geschlecht. Frankfurt am Main/New York: Campus, S.7-24, 10; Ruppert, Uta, 2001: Frauen- und Geschlechterpolitik. In: Stiftung Entwicklung und Frieden/Hauchler, Ingomar u.a. (Hg.): Globale Trends 2002. Fakten Analysen Prognosen. Frankfurt am Main: Fischer, 72, 73, 76, 78, 79 (nach dem Manuskript zitiert)

5) dies., 2001, 79

6) März, Ursula, 2001: War’s das? Disponibel und seltsam entwurzelt: Das erschöpfte Paradigma der Gleichberechtigung. In: Frankfurter Rundschau, 4. Januar 2001, S.17

7) Alle bisherigen Zitate ebd.

8) Dackweiler, Regina/Holland-Cunz, Barbara, 1991: Strukturwandel feministischer Öffentlichkeit. In: beiträge zur feministischen theorie und praxis, Heft 30-31/1991, S.105-122; vgl. auch Holland-Cunz, Barbara, 1995: Frauenbewegung und die mediale Konstruktion der Wirklichkeit. In: Jansen, Mechtild M./Bahringhorst, Sigrid/Ritter, Martina (Hg.): Frauen in der Defensive? Zur backlash-Debatte in Deutschland. Münster: Lit, S.76-86

9) Holland-Cunz, Barbara, 1998: Trennendes und Verbindendes. Zum Selbstverständnis und Berufsethos kommunaler Frauenbeauftragter. In: Wrangell, Ute von/Wurms, Renate/Wichmann, Maren/Bittner, Ulrike/Lemke, Liselotte/Lück, Rosemarie (Hg.): Frauenbeauftragte. Zu Ethos, Theorie und Praxis eines jungen Berufes. Königsstein/Taunus: Helmer, S.80-102; dies., 2001: Probleme des Erfolgs – Überlegungen zu den ambivalenten Anforderungen institutioneller feministischer Theorie und Politik. In: Batisweiler, Claudia/Lembeck, Elisabeth/Jansen, Mechtild (Hg.): Geschlechterpolitik an Hochschulen: Perspektivenwechsel. Zwischen Frauenförderung und Gender Mainstreaming. Opladen: Leske + Budrich, S.45-55

10) Wichterich, Christa, 1998: Die globalisierte Frau. Berichte aus der Zukunft der Ungleichheit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 236.

11) vgl. Butler, Judith, 1991: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main: Suhrkamp

12) vgl. Stammen, Theo/Riescher, Gisela/Hofmann, Wilhelm (Hg.), 1997: Hauptwerke der politischen Theorie. Stuttgart: Kröner

13) vgl. Foucault, Michel, 1998: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 232ff., 229

14) ebd., 237f.

15) vgl. ebd., 238ff.



Professor Dr. Barbara Holland-Cunz ist Hochschullehrerin für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Frauenforschung und Leiterin der Arbeitsstelle Gender Studies an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Wir freuen uns, mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags diesen Auszug aus dem zweiten Teil ihres 2003 erschienenen grundlegenden Werks „Die alte neue Frauenfrage“ leicht bearbeitet veröffentlichen zu können (© Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, es 2335, S.155 ff.). – Auszüge aus dem Band und weitere Materialien, erarbeitet von Petra Rostock, sind einsehbar unter web.fu-berlin.de/gpo/holland_cunz.htm .

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