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Marktkonform statt rechtskonform

22.05.2014: Die Bausteine der europäischen Krisenpolitik und ihr autoritäres Muster

  
 

Forum Wissenschaft 1/2014; Foto: Ralf Roletschek, Fahrradtechnik und Fotografie / commons.wikimedia.org

Lukas Oberndorfer zeigt auf, wie sich in der Krise ein autoritärer Konstitutionalismus zu entfalten scheint: Um die neoliberale "Integration" der Europäischen Union zu bewahren und zu vertiefen, werden wirtschaftspolitische Instrumente durch die Umgehung demokratischer Verfahren und unter Bruch des Europarechts errichtet. Zur verschärften Durchsetzung von Austerität und Wettbewerbsfähigkeit stärkt das neoliberale Reformbündnis dabei die Exekutive - eine Strategie, die nicht zum ersten Mal zur "Lösung" von Legitimitätskrisen eingesetzt wird.

In seinem Abschlussbericht zur Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) hat der Präsident des Europäischen Rates Herman Van Rompuy auf den Punkt gebracht, welches Ziel mit der bisherigen Krisenpolitik verfolgt wird: "Finally, the crisis has shown the need to strengthen [the Economic and Monetary Union's] ability to take rapid executive decisions to improve crisis management in bad times and economic policymaking in good times."1 Zugespitzt heißt dies nichts anderes, als dass die Wirtschaftspolitik in Zukunft vermehrt in den Händen der europäischen Exekutive liegen soll. Oder, um es in den Worten von Angela Merkel zu sagen: [Es geht darum] "die parlamentarische Mitbestimmung so [zu gestalten], dass sie trotzdem auch marktkonform ist."2

Neuer Liberalismus: Starker Staat, schwache Demokratie

Die Rede von der Notwendigkeit einer beschränkten Demokratie ist nicht neu. Vielmehr begleitet die Forderung nach einer gestärkten Exekutive die Geschichte kapitalistisch strukturierter Gesellschaften und wird in deren Krisen besonders lautstark erhoben. Um einen starken Staat zu rechtfertigen, der in der Lage ist, ein wirtschaftspolitisches "Weiter wie bisher" trotz der Krise der bisherigen Entwicklungsweise durchzusetzen, erfolgte auch eine Umdeutung der Ursachen der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre: Schuld an der Krise hätten nicht die Marktkräfte, sondern - so Walter Eucken, einer der Gründerväter des "neuen Liberalismus" - die Eingriffe der parlamentarischen Massengesellschaft.3 Die Demokratisierung hätte einen schwachen Staat nach sich gezogen, der sich dem Ansturm der Interessen nicht mehr erwehren könne. Der "neue Liberalismus [...] fordert [daher] einen starken Staat, einen Staat oberhalb der Wirtschaft, oberhalb der Interessen."4 Seine rechts- bzw. staatstheoretische Entsprechung fand der "neue Liberalismus" in den von Carl Schmitt vor seiner Hinwendung zum Nationalsozialismus verfassten Arbeiten: Allein Notverordnungen und Formen der kommissarischen Regierung, so Schmitt, könnten in der spätestens 1929 einsetzenden Krise "Dauer, Kontinuität und Stabilität" vor dem Ansturm der "besitzlosen Massen" retten.5

Carl Schmitt for Europe?

Die damit angesprochene marktkonforme Beschränkung der Demokratie lässt sich auch in der gegenwärtigen europäischen Krisenpolitik nachweisen: die in den europäischen Verträgen vorgesehenen (Rechtssetzung-)Verfahren werden umgangen, Rechtsakte ohne Kompetenzgrundlage erlassen, kommissarische Expertenkabinette eingesetzt (z.B. in Form der Troika) und wirtschaftliche "Strukturreformen" abseits der Parlamente im Wege von Notstandsverordnungen durchgesetzt. Dem Rechtswissenschafter Christian Joerges zur Folge sei darüber ein "(Un-)Rechts-Hybrid" entstanden, der Carl Schmitt erschreckende Aktualität verleihe.6 Nicht nur in kritischer Absicht wird an Schmitt erinnert: So finden sich erneut "Staatstheoretiker", welche die Theorie des Ausnahmezustandes bemühen, um die neoliberale Integration der EU im Wege einer rechtlich ungebundenen Maßnahmenordnung zu sichern bzw. vertiefen zu können.7

Auch wenn sich die gegenwärtige Krise der EU in vielerlei Hinsicht nicht mit der Weimarer Republik vergleichen lässt, sind manche Parallelen offenkundig: In Griechenland und Spanien etwa hat die durch die europäische Exekutive angeordnete Austeritätspolitik die Wirtschaft massiv einbrechen lassen. Die Arbeitslosigkeit liegt in beiden Ländern mittlerweile bei rund 27%, mehr als 55% der Jugendlichen sind ohne Arbeit - Werte, die in der Weimarer Republik nur in einem Jahr übertroffen wurden.8

Hegemoniekrise der neoliberalen Integrationsweise

Der sich durch diese Entwicklungen immer schneller öffnende "Zwiespalt zwischen Repräsentierten und Repräsentanten"9 hat die Hegemonie der neoliberalen Integrationsweise in eine Krise gestürzt. Dieser Verschiebung zugrunde liegt der zunehmend offene Widerspruch und Protest, der sich räumlich stark parallel zur ungleichen aber kombinierten Entwicklung des Europäischen Kapitalismus entzündet hat. Während es in den "Exportweltmeisterländern", die das Problem der mangelnden Nachfrage durch Lohnzurückhaltung und Arbeitsmarktflexibilisierung externalisieren konnten10, vergleichsweise ruhig blieb, kam es in den ökonomisch peripherisierten Ländern zu heftigen sozialen Kämpfen. Dennoch schlägt die - sich asymmetrisch in den Mitgliedstaaten entfaltende - politische Krise auf die europäische Ebene durch. Denn spätestens die mit dem Euro verbundene, tiefe wirtschafts- und währungspolitische Integration hat ein europäisches Ensemble11 entstehen lassen, das die nationalen und europäischen Institutionen und ihre (In-)Stabilitäten - nicht zuletzt durch das Europarecht - eng miteinander verknüpft. Diese Krise der Hegemonie drückt sich darin aus, dass auf den unterschiedlichen Maßstabsebenen des Europäischen Staatsapparate-Ensembles die brüchig gewordene Zustimmung durch exekutiven Zwang ersetzt wird.

Autoritärer Konstitutionalismus

Dass das Recht ein ausgezeichneter Gradmesser für die Verschiebungen im demokratischen Gefüge ist, hat in neogramscianischer Perspektive schon Stephen Gill betont, als er in den 1990er Jahren mit dem Konzept des "neuen Konstitutionalismus" die rechtliche Neu-Einfassung der neoliberalen Reorganisation von Ökonomie und Gesellschaft auf transnationaler Ebene beschrieben hat. Der neue Konstitutionalismus habe unter anderem eine europäische Verrechtlichung zur Folge, durch die sich die Wirtschaftspolitik einer popular-demokratischen Kontrolle weitgehend entziehe.12

Vor dem Hintergrund des gegenwärtigen gesellschaftlichen Bruches ist die Begrifflichkeit des neuen Konstitutionalismus allerdings zu radikalisieren. Parallel zu den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen, die in Richtung eines "autoritären Wettbewerbsetatismus"13 geneigt sind und sich zunehmend nicht mehr mit dem Topos Post-Demokratie beschreiben lassen, da damit ein inkrementeller Prozess bis zur Krise angesprochen wird, der die Verfahren und Institutionen formaler Demokratie unangetastet ließ, müssen auch die Verschiebungen im Bereich des "Europarechts" begrifflich neu gefasst werden. Der neue Konstitutionalismus, mit dem Gill die europarechtskonforme und zumindest vom passiven Konsens getragene Verrechtlichung neoliberaler Dogmen beschrieben hat, wandelt sich meines Erachtens zu einem autoritären Konstitutionalismus.14

Das neoliberale Reformbündnis

Natürlich ist die im Wege des autoritären Konstitutionalismus vorangetriebene Vertiefung der neoliberalen Integration nicht alternativenlos. Zwar haben die Bankenrettungspakete und die sinkenden Einnahmen durch die Rezession sowie die konjunkturstützenden Ausgaben der öffentlichen Hand die Schuldenstände explodieren lassen15 und damit die Spielräume für "materielle Zugeständnisse" an die Subalternen massiv verkleinert. Doch wäre eine Ausweitung der Spielräume durch eine Umverteilung des Vermögens, die Trockenlegung von Steueroasen, Banken- und Finanztransaktionssteuern, der Harmonisierung von Unternehmenssteuern und einer darüber hinaus gehenden Demokratisierung der Wirtschaft auf europäischer Ebene prinzipiell denkbar.

Doch zu diesem Bruch mit dem Neoliberalismus sind die AkteurInnen des dominanten "Reformbündnisses", bestehend aus Unternehmerverbänden, Finanzindustrie, EU-Kommission, nationalen Finanzministerien, neoliberalen Staatschefinnen und -chefs und der Europäischen Zentralbank (EZB), nicht bereit. Daher geraten die Subalternen der EU-Mitgliedstaaten zunehmend in den Fokus einer Austeritäts- und Restrukturierungspolitik, die durch das im europäischen Staatsapparate-Ensemble dominante "Reformbündnis" verordnet wird. Oder um es in den Worten der organischen Intellektuellen dieses Bündnisses zu sagen: Der Weg aus der Krise hinaus und in eine vertiefte WWU, so Angela Merkel am World Economic Forum in Davos 2013, ist "ein Weg, dessen Leitplanken Strukturreformen für mehr Wettbewerbsfähigkeit [...] und Konsolidierung der Staatsfinanzen [...] sind."

Die "Krisenländer" als Labor des Neoliberalismus

Nirgendwo ist diese Politik so brutal umgesetzt worden wie in jenen Ländern, die sich aufgrund der Krise nicht mehr auf den Finanzmärkten refinanzieren konnten. Neben drastischer Austerität verordnet die bisherige Krisenpolitik "Strukturreformen", zu denen sich die betroffenen Länder durch Vereinbarungen (sogenannte Memoranda of Understanding, kurz MoU) verpflichten. Im Gegenzug gibt die Troika, bestehend aus EU-Kommission, der EZB und dem Internationalen Währungsfond (IWF), Kredittranchen aus den Rettungsschirmen frei (nunmehr aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus, kurz ESM). Die Erfahrungen zeigen aber, dass damit nicht jene Strukturen einer Reform unterzogen werden, die für die Finanz- und Weltwirtschaftskrise verantwortlich sind. So kam es in keinem der betroffenen Länder zu einer merklich verstärkten Besteuerung von Vermögen, hohen Einkommen und Unternehmensgewinnen - im Gegenteil, die Ungleichheit in der Verteilung und damit die zentrale Ursache der Krise spitzte sich weiter zu.16

Unter dem auf den Alltagsverstand zielenden Slogan der "Strukturreformen für mehr Wettbewerbsfähigkeit" erfolgten vielmehr teils drastische Eingriffe, die bisher am Widerstand der Gewerkschaften und sozialer Bewegungen gescheitert waren: Im Bereich der Lohnpolitik kam es etwa zur Reduktion bzw. zur Einfrierung von Mindestlöhnen, zur Abschaffung, Aussetzung oder zeitlichen Limitierung von Kollektivverträgen und zur Verlagerung der Kollektivvertragsverhandlungen auf die Betriebsebene. Im Bereich der Pensionen wurde das Antrittsalter an die Lebenserwartung gekoppelt, die Beitragszeiten massiv verlängert und die Höhe der Zahlungen gekürzt. Und im Arbeitsrecht setzte das neoliberale "Reformbündnis" eine Erleichterung von Kündigungen, eine Verlängerung der Wochenarbeitszeit und einen Ausbau von befristeter Beschäftigung und Zeitarbeit durch.17 Auch die Einschnitte in die Gesundheitssysteme gehen derart tief, dass etwa in Griechenland nicht einmal mehr eine gesundheitliche Grundversorgung gewährleistet ist. Krankheiten (wie etwa Dengue-Fieber), die vom europäischen Kontinent verbannt waren, kehren aufgrund der Einstellung von entsprechenden Präventionsprogrammen zurück.18

Dass die neoliberale Ausrichtung und die konkreten Maßnahmen der Troika-Politik gegen Grund- und Menschenrechte verstoßen, steht zunehmend außer Streit.19 Zuletzt bestätigte auch eine Studie des Menschenrechtskommissars des Europarates, dass die MoU unverhältnismäßig in Grundrechte - wie etwa das Recht auf Tarifautonomie und Gesundheit - eingreifen.20 Da die Unionsorgane - und zwar unabhängig ob sie für europarechtliche oder völkerrechtliche Organisationen (ESM) handeln - an die Einhaltung der Grundrechte gebunden sind, verletzen sie durch die Beteiligung an der Aushandlung, dem Abschluss und der Durchsetzung der MoU das Primärrecht der EU. Dass dieses rechtswidrige Vorgehen aber keineswegs allein von den EU-Organen ausgeht, sondern vielmehr das gesamte Europäische Staatsapparate-Ensemble beteiligt ist, wird daran deutlich, dass auch nationalstaatliche AkteurInnen grundrechtswidrig handeln. Denn auch die im Gouverneursrat des ESM vertretenen Mitgliedstaaten, die gemäß Art. 13 Abs. 3 ESM-Vertrag jedes einzelne MoU einstimmig annehmen müssen, sind an die Grundrechte gebunden.21

Die Europäisierung der Krisenpolitik

Die beiden Leitplanken "Strukturreformen für mehr Wettbewerbsfähigkeit" und "Austerität" bestimmen auch jene Instrumente der Krisenpolitik, mit der die im südlichen Labor erprobten Maßnahmen europäisiert werden. Im Zentrum dieser Bemühungen steht die sogenannte New Economic Governance, die aus mittlerweile acht beschlossenen sekundärrechtlichen Rechtsakten besteht (daher auch die Bezeichnung als Six-Pack und Two-Pack), und dem sogenannten Fiskalpakt. Die Austeritätspolitik wurde mittels mehrerer Rechtsakte der New Economic Governance verschärft, da durch diese die regelgebundene Finanzpolitik des Stabilitäts- und Wachstumspaktes zugespitzt wird. Durch den Fiskalpakt, der als völkerrechtlicher Vertrag außerhalb des Europarechts steht, verpflichten sich die Mitgliedstaaten einen Großteil dieser regelgebundenen Finanzpolitik auch in Form einer vorzugsweise verfassungsrechtlich abgesicherten Schuldenbremse zu übernehmen, die mit einem automatischen Korrekturmechanismus zu verbinden ist. Aufgrund des Two-Packs müssen die nationalstaatlichen Budgets in Hinkunft von der Europäischen Kommission genehmigt werden. Auch im Bereich der "Strukturreformen für mehr Wettbewerbsfähigkeit" kam es zu einer Europäisierung der Krisenpolitiken. Im Zentrum steht das im Rahmen der New Economic Governance beschlossene Verfahren bei makroökonomischen Ungleichgewichten, dass so ausgestaltet ist, dass es insbesondere Länder mit Leistungsbilanzdefiziten fokussiert. Wenn ›nötig‹ kann die Kommission die Mitgliedstaaten zur inneren Abwertung durch Lohnsenkung und Abbau des Arbeitsrechts im Wege eines Korrekturmaßnahmenplans verpflichten und allenfalls empfindliche Geldbußen verhängen. Thorsten Schulten spricht daher zu Recht von einem europäischen Interventionismus im Bereich der Lohnpolitik.22 Den Schlussstein dieser Krisenpolitik sollen die bisher nicht beschlossenen Pakte oder Verträge für Wettbewerbsfähigkeit bilden, in denen sich die Mitgliedstaaten zu Reformen im Bereich der Pensions- und Sozialsysteme verpflichten. Werden diese Maßnahmen zeitgerecht umgesetzt sollen finanzielle Anreize, andernfalls Verwarnungen und Sanktionen folgen.23

Das Muster der Krisenpolitik: Der autoritäre Konstitutionalismus

Zentrale Elemente der dargestellten Bausteine der Krisenpolitik sind offenkundig rechtswidrig - ein Umstand, der mittlerweile selbst durch AkteurInnen der EU-Organe hinter vorgehaltener Hand oder öffentlich bestätigt wird.24 Sie konnten nur errichtet werden, indem Sekundärrecht rechtswidrig in die europäischen Verträge eingepresst wurde (New Economic Governance) oder überhaupt eine Flucht in völkerrechtliche Verträge stattfand, durch die rechtswidrig in das Europarecht eingegriffen wird. Da der Konsens für die neoliberale Integrationsweise und eine Vertiefung der WWU zunehmend nicht mehr gegeben ist, erfolgt eine Flucht auch noch aus jenen Rechtssedimenten, die selbst das Ergebnis des neuen Konstitutionalismus sind: Es geht darum eine Vertragsänderung und die damit verbundenen hohen Konsenserfordernisse zu umgehen.

Während bis zur europäischen Hegemoniekrise nationalstaatliche Kompromissgleichgewichte durch die Verlagerungen von Politikfeldern in das Europarecht umgangen und herausgefordert wurden, werden nun selbst die im Europarecht verdichteten Kräfteverhältnisse zu eng für die Radikalisierung des neoliberalen Projekts. Nachdem die Hegemoniekrise des europäischen Staatsapparate-Ensembles mittlerweile dazu geführt hat, dass - wie nach den Wahlen in Griechenland im Juni 2012 deutlich wurde - ganze Staaten aus dem neoliberalen Konsens auszubrechen drohen, ist zu erwarten, dass die Vertiefung der WWU vorerst im Modus des autoritären Konstitutionalismus bewerkstelligt werden soll. Denn auch jeder Mitgliedstaat hat im Rahmen des ordentlichen Änderungsverfahrens die "Veto-Macht", eine "Verfassungsrevision" zu verhindern. Entsprechendes zeichnet sich in etwa auch im Hinblick auf die Verträge für Wettbewerbsfähigkeit ab.25

Schon der neue Konstitutionalismus zielte darauf, die Wirtschaftspolitik unabhängiger von der Notwendigkeit subalterner Zustimmung zu machen. Der Widerstand gegen eine Radikalisierung der neoliberalen Integrationsweise soll nun jedoch durch eine nahezu vollständige Entkopplung des Europäischen Apparate-Ensembles von Konsens-Erfordernissen gebrochen werden.

Verbunden mit dem autoritären Konstitutionalismus ist ein zunehmender Eingriff in nationalstaatliche Verfahren formaler Demokratie und des Rechtsstaates. Entgegen der national-populistischen Argumentation richtet sich dies nicht gegen die einzelnen Staaten, vielmehr soll dieser das neoliberale Reformbündnis in die Lage versetzen, soziale Rechte zu schleifen, die noch in den nationalen Rechtsordnungen verankert sind. Dies ist ein weiterer gemeinsamer Nenner des Fiskalpakts, der Economic Governance und der Verträge über Wettbewerbsfähigkeit: Sie schwächen gerade jene Terrains, auf denen die Subalternen ihre Interessen noch vergleichsweise einfach durchsetzen können (insbesondere nationalstaatliche Parlamente). Gleichzeitig kommt es bisher zu keiner Aufwertung des Europäischen Parlaments. Die zentrale Konfliktachse des autoritären Konstitutionalismus lautet daher nicht Europäische Union vs. Nationalstaat, sondern europäisches Staatsapparate-Ensemble vs. (repräsentative) Demokratie.

Die damit angesprochene Aufwertung der Exekutive muss weiter differenziert werden. So kommt es genau besehen nicht generell zur Stärkung der Exekutive. Vielmehr werden mit den im ECOFIN-Rat und im Gouverneursrat des ESM vertretenen nationalen Finanzministerien und der Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen der Kommission, gerade jene Staatsapparate aufgewertet, die besonders neoliberal und maskulinistisch konfiguriert sind. So zeigen etwa Klatzer und Schlager auf, dass "[d]iese Verschiebung [...] in sich eine geschlechterpolitische [ist]", da zum einen diese Institutionen überwiegend von Männern besetzt sind, und sie zum anderen "auch nach wie vor von sehr maskulinen Normen und Traditionen geprägt sind".26

Angesichts dieser autoritären Verhärtung der europäischen Verhältnisse überrascht es nicht, dass in den Bewegungen27 und auch in den Gewerkschaften28 zunehmend die Forderung nach einer Neugründung Europas erhoben wird. "Ein solcher Prozess könnte - anders als richtige, aber nicht durchsetzbare Einzelforderungen - eine größere Wirkung entfalten, weil es ums Ganze geht und alle Menschen sich potenziell beteiligen können: Welches Europa wollen wir? Wie wollen wir leben?"29

Anmerkungen

1) www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_ data/docs/pressdata/de/ec/134206.pdf(14.2.2014).

2) www.nachdenkseiten.de/?p=10611(14.2.2014).

3) Oberndorfer 2012: "Die Renaissance des autoritären Liberalismus? - Carl Schmitt und der deutsche Neoliberalismus vor dem Hintergrund des Eintritts der ›Massen‹ in die europäische Politik", in: PROKLA 2012: 413.

4) Rüstow 1932: "Interessenpolitik oder Staatspolitik", in: Der deutsche Volkswirt 1932, 172: 172.

5) Siehe für entsprechende Nachweise Fn. 3.

6) Joerges 2012: "Europas Wirtschaftsverfassung in der Krise", in: Der Staat 2012, 357: 377.

7) Barbato 2013: "Integration als Revolution: Souveränität und Legitimität der EU im Ausnahmezustand der Eurokrise", in: ZFAS 2013: 249.

8) Eurostat, epp.eurostat.ec.europa.eu(1.2.13).

9) Gramsci (1996): Gefängnishefte, Band 7: 1577.

10) Feigl/Zuckerstätter 2012: "Wettbewerbsorientierung als europäischer Irrweg", in: infobrief eu & international 4/2012: 1.

11) Buckel/Georgi/Kannankulam/Wissel sprechen in diesem Zusammenhang zutreffend von einem europäischen Staatsapparate-Ensemble. Siehe dazu Dies. 2012: "Kräfteverhältnisse in der europäischen Krise", in: Forschungsgruppe Staatsprojekt Europa (Hg): Die EU in der Krise: 11.

12) Gill 1998: "European Governance and New Constitutionalism", in: New Political Economy 1998: 5.

13) Oberndorfer 2012: "Hegemoniekrise in Europa - Auf dem Weg zu einem autoritären Wettbewerbetatismus?", in: Forschungsgruppe Staatsprojekt Europa (2012): 50.

14) Oberndorfer 2013: "Vom neuen, über den autoritären zum progressiven Konstitutionalismus? - Pakt(e) für Wettbewerbsfähigkeit und die europäische Demokratie", in: juridikum 2013: 76.

15) Die Verschuldung Spaniens liegt im europäischen Vergleich immer noch im Mittelfeld, hat sich aber von unter 40% im Jahr 2008 mittlerweile auf rund 90% des BIP erhöht.

16) Marterbauer/Feigl 2012: "Die EU-Fiskalpolitik braucht gesamtwirtschaftlichen Fokus und höhere Einnahmen", in: WISO 8/2012.

17) Siehe dazu ausführlich und nach Ländern differenziert die Studie von FORBA 2012: Die Finanzkrise und ihre Auswirkungen auf Sozialstaaten und Arbeitsbeziehungen - Ein europäischer Rundblick.wien.arbeiterkammer.at/bilder/d184/Forba-Studie_Finanzkrise_2012.pdf.

18) Stuckler/Basu 2013: The Body Economic: Why Austerity Kills.

19) Fischer-Lescano: Austeritätspolitik und Menschenrechte - Rechtsgutachten im Auftrag der Arbeiterkammer Wien; online unter: bit.ly/1hj8YUB(14.2.2014).

20) Safeguarding human rights in times of economic crisis, Issue Paper published by the Council of Europe Commissioner for Human Rights, November 2013.

21) Siehe dazu Fischer-Lescano, Fn 19.

22) Schulten/Müller 2013: "Ein neuer europäischer Interventionismus? - Die Auswirkungen des neuen Systems der europäischen Economic Governance auf Löhne und Tarifpolitik", in: WuG 2013: 291.

23) Für eine genaue Darstellung der Inhalte der New Economic Governance, des Fiskalpaktes und der Verträge für Wettbewerbsfähigkeit und ihrer Europarechtswidrigkeit siehe die einzelnen Texte unterhomepage.univie.ac.at/lukas.oberndorfer/.

24) "EZB will Troika nicht ewig weiterführen", in: FAZ v. 14.2.2014, www.faz.net/agenturmeldungen/adhoc/ezb-will-troika-nicht-ewig-weiterfuehren-12800240.html(14.2.2014).

25) Siehe dazu Fn. 14.

26) Schlager/Klatzer 2013: "Umbau im Herrenhaus Europa?", in: Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien (Hg.): Infobrief eu & international, Ausgabe 5, Dezember 2013: 3; media.arbeiterkammer.at/PDF/EU_Infobrief_5_2013.pdf(Zugriff: 29.01.2014).

27) Candeias 2013: "Die konstituierende Macht muss organisiert werden - Gesellschaftliche Mobilisierung in Spanien",in: arranca 47, 2013, 36: 39.

28) Siehe dazu etwa den von zahlreichen (prominenten) Gewerkschaftern unterstützten Aufruf "Europa neu begründen":www.europa-neu-begruenden.de.

29) Candeias/Oberndorfer/Steckner 2014: "Neugründung Europas? - Strategische Orientierungen", in: Sonderbeilage zum ND v. 8.2.2014.


Lukas Oberndorfer, Wissenschafter in Wien; aktiv in der Redaktion des juridikum (zeitschrift für kritikrechtgesellschaft) und im Arbeitskreis kritische Europaforschung der AkG.

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